Mit grenznahen Manövern demonstriert Moskau seine Fähigkeit, im Donbas offen militärisch zu intervenieren. Es beschuldigt Kiew, die Lage dort zu eskalieren, und den Westen, die Ukraine durch einseitige Parteinahme darin zu bestärken. Doch im Westen wird geargwöhnt, Russland plane eine großangelegte Invasion der Ukraine. Dies hat der Kreml dementiert. Mitte Dezember 2021 hat er mit zwei Vertragsentwürfen verdeutlicht, worum es ihm geht, nämlich eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten zu verhindern und dafür eine verbindliche Zusicherung zu erhalten. Dabei beruft er sich auf die Nato-Russland-Vereinbarungen der 1990er Jahre. Moskau befürchtet, dass vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine das strategische Gleichgewicht mit den USA gefährden würde. Die USA und die Nato signalisieren Dialogbereitschaft in Fragen der Rüstungskontrolle, sind aber nicht bereit, die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung zu revidieren. Ob Moskau dies akzeptiert, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sollte der neue Dialog als Chance aufgegriffen werden, um die Lage zu deeskalieren und die militärische Berechenbarkeit durch Rüstungskontrolle wiederherzustellen, ohne Prinzipien preiszugeben.
Am 17. Dezember 2021 hat Moskau zwei Vertragsentwürfe vorgelegt, um die Fortsetzung der Nato-Erweiterung nach Osten zu stoppen. Zugleich will es verhindern, dass das Bündnis Truppen an den Grenzen Russlands stationiert oder in europäischen Staaten weitreichende Raketen aufstellt, die Russland bedrohen könnten. Dazu fordert Moskau, dass die Nato ihre Gipfelerklärung von 2008 zurücknimmt, in der sie der Ukraine und Georgien den Beitritt zur Allianz in Aussicht gestellt hat. Sie solle vielmehr rechtsverbindlich erklären, dass sie auf jede künftige Erweiterung – besonders im postsowjetischen Raum – verzichtet und Truppen zurückzieht, die nach dem Mai 1997 in Osteuropa stationiert wurden. Dabei beruft sich Moskau auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997.
Die Vorschläge wurden im Januar 2022 sowohl bilateral mit den USA in Genf als auch multilateral im Nato-Russland-Rat und in der OSZE diskutiert. Der Westen wies russische Forderungen nach einem Ende der Nato-Erweiterung zurück und verlangte, Moskau solle seine Truppen von den Grenzen zur Ukraine abziehen. Viele Verbündete aber zeigten sich offen dafür, den Dialog fortzusetzen und die Rüstungskontrolle wiederzubeleben.
Militärische Optionen Russlands
Wie schon im Frühjahr 2021 führt Moskau seit zwei Monaten Manöver östlich der Ukraine durch. Seit 2015 sind dort drei Motorisierte (Mot) Schützendivisionen dauerhaft stationiert: in Jelnja bei Smolensk (250 km nordöstlich der Ukraine), Bogutschar (50 km östlich des Donbas) und Nowotscherkassk (150 km südöstlich des Donbas). Sie sind zwei Armeestäben in Woronesch und in Rostow am Don unterstellt. Zusammen verfügen sie über etwa 47.000 Soldaten, 650 Kampfpanzer und 950 Schützenpanzer (siehe SWP-Aktuell 39/2021).
Zu den Einheiten der Schwarzmeerflotte auf der Krim gehören auch das 22. Armeekorps in Simferopol und die 810. Marineinfanteriebrigade in Sewastopol. Insgesamt sind also rund 75.000 russische Soldaten ständig in einer Distanz von 50 bis 250 km zur Ukraine stationiert.
Zusätzlich üben derzeit Truppenteile aus Süd- und Zentralrussland auf Schießplätzen in einer Entfernung von 50–170 km zur ukrainischen Grenze. Einige Verbände befinden sich auch in Feldlagern näher am Donbas. Nach westlichen Schätzungen beträgt die russische Truppenstärke im Umkreis der Ukraine etwa 100.000.
Am 26. Dezember 2021 gab Moskau eine Reduzierung um 10.000 Soldaten bekannt. Nicht bestätigt haben sich damit Voraussagen von US-Geheimdiensten, Moskau werde seine Truppenstärke bis Januar 2022 auf etwa 175.000 anheben, um eine Invasion der Ukraine zu beginnen. Allerdings ist die russische Übungsserie noch nicht beendet. Eine gemeinsame Übung russischer und belarussischer Truppen wird im Februar 2022 in Belarus stattfinden.
Moskau unterstellt, Kiew wolle den Konflikt gewaltsam lösen. In diesem Fall wäre Russland mit den derzeit verfügbaren Kräften in der Lage, die prorussischen Rebellen im Donbas zu unterstützen, aber nicht, die ukrainische Armee mit einem großangelegten Angriff zu zerschlagen. Dazu wären erhebliche Verstärkungen nötig, die per Bahn aus Zentralrussland herangeführt werden müssten.
Die ukrainischen Streitkräfte sind heute weitaus kampfbereiter als 2014. Damals waren es nicht materielle Ausstattungslücken der nominell drittstärksten Armee Europas, welche die Abwehrbereitschaft hemmten, sondern ihre mangelnde Kampfmoral. Etwa zwei Drittel der ukrainischen Land- und Seestreitkräfte auf der Krim sind zur russischen Schwarzmeerflotte übergelaufen, obwohl sie vor Ort überlegen waren. Als die neue Kiewer Führung eine »Antiterroroperation« gegen die prorussischen Rebellen im Donbas begann, konnte sie nur 6.000 Soldaten aufbieten. Sie musste sich vor allem auf leicht bewaffnete Freiwilligenverbände stützen.
Mittlerweile sind Kiews Streitkräfte auf gut 250.000 aktive Soldaten und über 900.000 Reservisten angewachsen. Die Nato hilft, die Führungsfähigkeit zu verbessern; die USA stellten Aufklärungsergebnisse, Artillerieradargeräte und – wie auch Großbritannien – Panzerabwehrraketensysteme bereit. Von der Türkei erhielt Kiew Bayraktar-TB2-Kampfdrohnen. Beim Sieg Aserbaidschans über armenische Truppen in Berg-Karabach im Herbst 2020 hatten sich Drohnen dieses Typs als militärische Schlüsselfähigkeit erwiesen. Kiew setzte sie im Sommer 2021 wirksam gegen Separatisten ein. Kanada, Großbritannien, Polen, Litauen und die USA haben 470 Ausbilder in der westukrainischen Region Lemberg stationiert.
Moskau ist mit 900.000 aktiven Soldaten, 3.300 Kampfpanzern (Kiew: 1.000) und 1.330 Kampfflugzeugen (Kiew: 125) zwar der Ukraine deutlich überlegen, doch für die subregionale Bewertung ist der Vergleich nicht aussagekräftig. Russland verfügt über die größte Landfläche und die zweitlängsten Grenzen weltweit. Mit etwa 280.000 Heeressoldaten muss es mehrere strategische Richtungen abdecken, von der Arktis bis zum Schwarzen Meer, vom Kaukasus bis Zentralasien und von der Ostsee bis zum Pazifik.
Gleichwohl muss Moskau im Konfliktfall die Peripherie mit Reserven aus anderen Landesteilen verstärken. Seine Fähigkeit zu parallelen Operationen an mehreren Fronten ist begrenzt. Zwar kann es leichte Luftlandekräfte schnell im Lufttransport verlegen. Für hochintensive Operationen aber braucht Moskau gepanzerte Verbände und umfangreiche Logistik, die mit der Eisenbahn transportiert werden müssen. Regionale Kräftekonzentrationen schwächen die Truppenpräsenz an anderer Stelle. Bedrohungsanalysen sollten daher nicht auf operative Optionen in einer Subregion verengt werden, sondern auch die strategischen Implikationen berücksichtigen.
Ein großangelegter Angriff Moskaus auf die Ukraine wäre trotz der deutlichen russischen Luftüberlegenheit mit hohen militärischen und politischen Risiken verbunden. Nach acht Kriegsjahren ist der nationale Selbstbehauptungswille der Ukrainer gewachsen, zumal die russlandaffinen Teile der Bevölkerung überwiegend auf der Krim und im Donbas leben. Die ukrainischen Streitkräfte sind kampferfahren und moralisch gefestigter als 2014. Der Kreml müsste daher mit hochintensiven Gefechten, Guerillaoperationen und großen Verlusten rechnen. Die Frage nach der politischen Verantwortung für einen Krieg unter »Brudervölkern« birgt innenpolitische Sprengkraft.
Außenpolitisch müsste sich die russische Führung auf weltweite Isolierung, scharfe Sanktionen und weitere Stationierung von Nato-Truppen an Russlands Grenzen gefasst machen. Mehr europäische Nachbarn Russlands würden sich bedroht sehen und Schutz in der Nato suchen. Moskau würde das Gegenteil dessen erreichen, was es anstrebt, nämlich die eigene Sicherheit vor einem weiteren Vordringen der Nato zu schützen.
Auch US-Geheimdienste halten unterdessen eine begrenzte russische Operation im Donbas für wahrscheinlicher als eine großangelegte Invasion. Sie warnen nun vor russischen »false flag«-Operationen, die den Vorwand für ein offenes Eingreifen Russlands im Donbas liefern sollen. Moskau weist dies energisch zurück und befürchtet weiterhin eine ukrainische Militäroperation, mit der Kiew den Donbas unter seine Kontrolle bringen wolle. Der Westen habe Kiew durch politische Parteinahme, Ausbildungshilfe und Waffenlieferungen dazu ermutigt.
Strategische Ziele Moskaus
Vor allem durch die Nato-Erweiterung nach Osten sieht Russland seine Sicherheit bedroht. Dass dabei der Ukraine eine Schlüsselrolle zukommt, hat Moskau bereits 2014 demonstriert. Bei der Annexion der Krim ging es weniger um den »Schutz russischer Landsleute« als vielmehr darum, die Basen der Schwarzmeerflotte zu sichern. Im Donbas dagegen stärkt der Kreml zwar die Rebellen, hält aber am Minsker Abkommen fest. Moskau nahm an, die siegreiche Maidan-Bewegung werde den raschen Beitritt der Ukraine zur Nato anstreben – ein Ziel, das inzwischen Verfassungsrang hat.
Moskau ist dabei auf die Nato-Führungsmacht USA fixiert. Mit ihr hält Russland ein nuklearstrategisches Gleichgewicht, das auf der gegenseitigen gesicherten Vernichtungsfähigkeit beruht. Sie ist in bilateralen Rüstungskontrollverträgen verankert, zuletzt im New-Start-Vertrag, den beide Seiten im Februar 2021 um fünf Jahre verlängert haben. Er begrenzt die Zahl jener Atomwaffen und Träger mit interkontinentaler Reichweite, mit denen Ziele in den Hoheitsgebieten der beiden potentiellen Gegner vom eigenen Territorium oder von U-Booten aus bedroht werden können. Das vereinbarte Gleichgewicht soll die nukleare Zweitschlagfähigkeit beider Seiten garantieren und so vor einem strategischen Nuklearangriff (»Erstschlag«) abschrecken.
Die vereinbarte »strategische Stabilität« ist durch jüngere Entwicklungen gefährdet. Dazu zählen neue Trägersysteme, die nicht vom New-Start-Vertrag geregelt werden, weitreichende konventionelle Präzisions- und Hyperschallwaffen, strategische Raketenabwehr und Antisatellitenwaffen. Beide Seiten befürchten, dass die kombinierte Anwendung dieses Potentials die nukleare Zweitschlagfähigkeit unterminieren und einen entwaffnenden Erstschlag ermöglichen könnte. Dies wird in den bilateralen Gesprächen über die strategische Stabilität erörtert.
Aus Washingtons Sicht haben zudem die wachsenden nuklearen Fähigkeiten Chinas das strategische Gleichgewicht und die regionale Balance im ostasiatisch-pazifischen Raum verändert. Sie stellen die »erweiterte Abschreckung« der USA, die ihren ostasiatischen Verbündeten zugute kommt, in Frage. Washington will Peking daher in die Rüstungskontrolle einbinden.
Da die USA weit entfernt vom Konfliktschauplatz Europa liegen, sieht sich Moskau im Nachteil, das heißt mit zusätzlichen Sicherheitsrisiken in Europa konfrontiert. Dazu zählen die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens sowie die Stationierung substrategischer Nuklearwaffen der USA in Europa und konventioneller Kräfte der Nato an den Grenzen Russlands.
Außerdem befürchtet Moskau eine künftige Bedrohung durch neue US-Mittelstreckenwaffen in Europa. Sie könnten strategische Ziele im europäischen Russland erreichen, sollten Washington und die Nato-Partner sich zur Stationierung entschließen.
Die Nato-Erweiterung hat weitere Stationierungsräume in Mittel- und Osteuropa geschaffen. Für den Kreml ist die Nato daher in erster Linie ein Instrument der USA, um geopolitische Interessen zum Nachteil der Sicherheit Russlands durchzusetzen. Zu diesem Zweck habe der Westen frühere Vereinbarungen gebrochen. Dies will Moskau nun mit neuen Vertragsentwürfen revidieren.
Der Westen bewertet die Entwürfe als Versuch Moskaus, die europäische Sicherheitsordnung zu ändern. Er hält dem das Recht der Staaten entgegen, ihre Bündnisse frei zu wählen. Allerdings sind die europäischen Sicherheitsvereinbarungen komplexer. Sie binden auch Allianzen.
Europäische Sicherheitsordnung
In der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE-Schlussakte) haben sich 1975 alle Staaten der Nato, des damaligen Warschauer Paktes und der neutralen und blockfreien Staaten Europas auf Prinzipien geeinigt, wie völkerrechtliche Verpflichtungen unter den Bedingungen des Kalten Krieges in Europa umzusetzen sind. Dazu gehören der Gewaltverzicht und die friedliche Beilegung von Konflikten, die Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität der Staaten, die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten und die Unverletzlichkeit der Grenzen sowie das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Nach dem Kalten Krieg und der Vereinigung Deutschlands verständigten sich die KSZE-Staaten 1990 auf die Charta von Paris als Grundlage einer neuen europäischen Sicherheitsordnung. Dort bekannten sie sich zu gemeinsamen politischen Normen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und zur umfassenden Sicherheitskooperation. Die Mitglieder der Nato und des damaligen Warschauer Paktes versprachen, sich künftig nicht mehr als Gegner zu betrachten, sondern die Sicherheitspartnerschaft für ein gemeinsames Europa zu suchen.
Im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 wurde vereinbart, dass die Vereinigung Deutschlands nicht zu einem geopolitischen Nullsummenspiel führen solle. Daher verpflichtete sich Deutschland, keine Atomwaffen und keine ausländischen Truppen in Berlin und den neuen Bundesländern zu stationieren, aus denen sowjetische (russische) Truppen abziehen würden. Es fand also keine militärische Ostverschiebung der Nato statt. Das russische Militär verließ Deutschland vereinbarungsgemäß bis 1994 und darüber hinaus auch Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und die baltischen Staaten.
Um die historische Wende zu erreichen, kam der Rüstungskontrolle eine Schlüsselrolle zu. Sie gewährleistete die Achtung der gegenseitigen Sicherheitsinteressen durch ein Netz verflochtener Rüstungskontrollverträge. Schon 1987 schrieben die USA und die Sowjetunion im bilateralen Vertrag über Intermediate- and Shorter-Range Nuclear Forces (INF-Vertrag) fest, auf landgestützte Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km zu verzichten. Bis 1991 wurden vertragsgemäß alle etwa 2.700 Mittelstreckensysteme zerstört.
Auf Basis einer informellen Abstimmung reduzierten Russland und die USA zudem einen großen Teil ihrer taktischen Atomwaffen. Russland zog sie vollständig aus den Stationierungsländern ab; die USA beließen einen Rest in Nato-Europa, um dessen »nukleare Teilhabe« zu sichern.
Mit dem multilateralen Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von 1990 verpflichteten sich die Mitgliedstaaten der Nato und des damaligen Warschauer Paktes, ein militärisches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau herzustellen und die kollektiven Fähigkeiten zu einem regionalen Überraschungsangriff oder zur großangelegten Aggression zu eliminieren. Bis 1996 wurden fast 60.000 Großwaffensysteme abgebaut. Damit waren die Reduzierungsverpflichtungen bereits weitgehend erfüllt. Die Hauptlast trug dabei wiederum Russland, gefolgt von Deutschland.
Der KSE-Vertrag war erst 1992 in Kraft getreten, nachdem sich der Warschauer Pakt und die Sowjetunion aufgelöst hatten. Doch auch aus Moskauer Sicht hatte er weiterhin strategische Bedeutung für die Stabilität Europas, weil er die Nato auf ihren Besitzstand von 1990 begrenzte und ihre geographische Distanz zu Russland absicherte.
Das änderte sich erst nach dem Abzug der russischen Truppen aus Deutschland, als die Nato begann, über Beitrittsperspektiven für Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn zu verhandeln. Moskau sah darin zunächst einen Bruch früherer Vereinbarungen und befürchtete die Rückkehr zur geopolitischen Rivalität. Die Nato dementierte dies, unterstrich die Bedeutung einer stabilen politischen Verankerung der vier Beitrittskandidaten und bot Moskau Zusicherungen an, dass die militärische Zurückhaltung gewahrt bleiben würde.
In der Nato-Russland-Grundakte vom Mai 1997 verpflichteten sich die Bündnispartner und Russland, ihre Sicherheitskooperation zu vertiefen, die OSZE als gemeinsame Sicherheitsorganisation zu stärken und den KSE-Vertrag an die neue geopolitische Lage anzupassen. Das obsolete militärische Blockgleichgewicht sollte durch nationale und territoriale Obergrenzen für jeden Vertragsstaat abgelöst werden. Sie würden auch die Zahl stationierter Truppen begrenzen. Die Nato werde »keine zusätzliche permanente Stationierung substantieller Kampftruppen« vornehmen. Zudem stellte die Nato fest, sie habe keinen Grund, keine Absicht und keinen Plan, Atomwaffen in den Beitrittsländern zu dislozieren oder dies logistisch vorzubereiten.
Diese Vereinbarungen überlagerten mündliche Äußerungen des amerikanischen Außenministers James Baker und des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher von 1990, laut denen die Nato nicht beabsichtige, sich nach der deutschen Vereinigung weiter Richtung Osten auszudehnen. Diese Bekundungen spiegelten die Lage zur Zeit des Zwei-plus-Vier-Vertrags wider, als das Ende des Warschauer Paktes und der Sowjetunion noch nicht absehbar war. Russland stimmte der ersten Nato-Erweiterung von 1999 unter den Bedingungen zu, die in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 festgeschrieben worden waren.
Trotz der Verstimmung wegen des Kosovokrieges der Nato gegen Serbien wurden diese Vereinbarungen zunächst umgesetzt. Nach kurzer Unterbrechung erörterte der Ständige Gemeinsame Rat der Nato-Staaten und Russlands ein breites Themenfeld im gemeinsamen Sicherheitsinteresse. Bei der Umsetzung der Dayton-Abkommen zur Rüstungskontrolle im früheren Jugoslawien arbeiteten die beiden Seiten zusammen.
Beim Istanbuler OSZE-Gipfeltreffen 1999 unterzeichneten die KSE-Vertragsstaaten das KSE-Anpassungsabkommen (AKSE). Parallel dazu verabschiedeten alle OSZE-Teilnehmerstaaten die »Europäische Sicherheitscharta«. Darin bekennen sie sich erneut zum Ziel, einen gemeinsamen Raum gleicher und unteilbarer Sicherheit zu schaffen. Kein Staat und keine Organisation könne eine vorrangige Verantwortung für die Bewahrung der europäischen Sicherheit beanspruchen oder besondere Einflusszonen geltend machen. Gleichwohl habe jeder Staat das Recht, einem Bündnis beizutreten oder neutral zu bleiben. Allerdings sollen die Staaten ihre gegenseitigen Sicherheitsinteressen respektieren und ihre Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten stärken.
Rüstungskontrolle und Vertrauensbildende Maßnahmen seien Kernelemente, um Sicherheit und Stabilität im OSZE-Raum zu gewährleisten. Ihr »Eckpfeiler« sei der KSE-Vertrag. Seine Anpassung werde dem Wandel der Rahmenbedingungen Rechnung tragen, den Vertragsbeitritt weiterer europäischer Staaten ermöglichen und so zur Verbesserung der militärischen Stabilität in Europa beitragen. Moskau wirft der Nato vor, sie habe sich nach Osten erweitert, ohne die Vereinbarungen einzuhalten.
Erosion der Vereinbarungen
Das KSE-Anpassungsabkommen ist nicht in Kraft getreten, obwohl Russland es 2004 ratifiziert hat. Im Bündnis blockierten die USA die Ratifizierung des AKSE, nachdem George W. Bush 2001 sein Amt als Präsident angetreten hatte. Er wollte den Abzug verbliebener russischer Stationierungstruppen aus Georgien und der Republik Moldau erreichen, um den Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens vorzubereiten.
Die USA begründeten dies mit bilateralen Zusatzvereinbarungen Russlands mit Georgien sowie mit der OSZE, die während des OSZE-Gipfels in Istanbul den KSE-Vertragsstaaten zur Kenntnis gegeben und in der KSE-Schlussakte zusammengefasst wurden. In der Nato bestand jedoch kein Konsens darüber, ob die Abzugsverpflichtungen auch für russische Peacekeeper in den Konfliktgebieten Abchasien und Transnistrien galten, da sie über Mandate der UN und der OSZE verfügten. Auch als Russland 2002 zunächst alle KSE-relevanten Waffensysteme aus Transnistrien und 2007 alle Stationierungstruppen aus Georgien abgezogen hatte, änderte sich die amerikanische Haltung zum AKSE nicht. Deutschland teilte diese Auffassung zwar nicht, wollte aber die Bündnissolidarität nicht brechen.
Obwohl der AKSE wegen der Blockade durch die USA nicht in Kraft getreten war, traten der Nato ab 2004 Staaten bei, die dem KSE-Vertragsregime nicht angehören. So entstanden an Russlands Grenzen, nämlich in den baltischen Staaten, potentielle Stationierungsräume der Allianz, die keinen rechtsgültigen Rüstungskontrollregeln unterliegen.
Ferner verhinderten die USA, dass die Zusage, keine zusätzlichen »substantiellen Kampftruppen« dauerhaft zu stationieren, gemeinsam mit Russland definiert wurde. Dies wäre aber schon deshalb wichtig, weil Russland gleichlautende Verpflichtungen für die Grenzräume zu den baltischen Staaten, Polen und Finnland eingegangen ist.
Stattdessen schufen die USA 2007 eine ständige Militärpräsenz am Schwarzen Meer, ohne dies vorher im Bündnis oder im Nato-Russland-Rat zu erörtern. Ihre »rotierenden« Kampftruppen in Rumänien und Bulgarien bezeichneten die USA als »nicht substantiell«. Beide Staaten gehören aber zum »Flankengebiet der östlichen Gruppe« der KSE-Vertragsstaaten, für die besondere Begrenzungen und Konsultationspflichten gelten.
Russland hat daraufhin die eigenen Flankenbegrenzungen, welche den Umfang russischer Truppen im Hohen Norden und im Kaukasus limitieren, für obsolet erklärt. Schon seit 2002 hatte Moskau argwöhnisch auf die Entwicklung der georgisch-amerikanischen Militärkooperation (Train and Equip Program) geblickt, mit der eine US-Militärpräsenz an der instabilen russischen Kaukasusgrenze eingerichtet wurde. Hatte Moskau noch 1996 Sanktionen gegen das Separatistenregime in Abchasien veranlasst, begann es nun, die von Georgien abtrünnigen Republiken informell zu stützen.
Den Austritt der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002 wertete Moskau als Gefahr für die strategische Stabilität. Sie verschärfte sich, als die USA 2007 mit Polen und Tschechien bilateral vereinbarten, dort Raketenabwehrsysteme zu stationieren. Washingtons Begründung, der iranischen Bedrohung begegnen zu müssen, zog Moskau in Zweifel.
Den Angriff der USA gegen den Irak 2003 kritisierte Moskau als Völkerrechtsbruch. Zwar gab es in der Nato keinen Konsens für den Krieg, doch Washington konnte sich auf eine »Koalition der Willigen« stützen, die vor allem aus den neuen osteuropäischen Verbündeten bestand. Schon 1999 hatte Moskau den Krieg der Nato gegen Serbien als illegalen Angriffskrieg und Verletzung des Gewaltverbots gebrandmarkt.
Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kritisierte Präsident Putin diese Entwicklung als Bruch der Vereinbarungen von 1997 und 1999 und unterstellte den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nachteil Russlands. Ende 2007 suspendierte er den KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept obsolet geworden war.
Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos anerkannten, wurden erstmals seit der Charta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verändert. Moskau reagierte, indem es seine informellen Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde seit den Kriegen 1990–1994 unter Leitung der UN und der OSZE verhandelt.
Als Bruchpunkt in den Beziehungen der Nato zu Russland erwies sich ihr Bukarester Beschluss vom April 2008, der Ukraine und Georgien den Bündnisbeitritt in Aussicht zu stellen. Mit Unterstützung osteuropäischer Staaten wollte Präsident George W. Bush dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutschland und Frankreich verhinderten einen konkreten Beitrittsplan. Sie bezweifelten, dass die innenpolitischen Verhältnisse der Kandidaten den Nato-Standards entsprächen. Auch befürchteten sie eine Destabilisierung der Ukraine, da die Bevölkerungsmehrheit den Bündnisbeitritt ablehnte. Zudem mahnten sie, »rote Linien« Moskaus nicht zu überschreiten, um die regionale Stabilität und die Sicherheit Europas und der Allianz nicht zu gefährden.
Gleichwohl fühlte sich der georgische Präsident Saakaschwili durch seine strategische Partnerschaft mit den USA ermutigt, am 7. August 2008 ossetische Milizen und russische Peacekeeper in der südossetischen Stadt Zchinwali anzugreifen. Der russische Gegenschlag vertrieb die georgische Armee aus Südossetien und eröffnete eine zweite Front in Abchasien. Dass Moskau nach dem Waffenstillstand die beiden abtrünnigen Regionen als »Staaten« anerkannte, wertete der Westen als illegale Änderung von Grenzen durch Gewalt und als Verletzung der Souveränität Georgiens.
Mit Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim und seiner Unterstützung für die Rebellen im Donbas erreichte die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung ihren Kulminationspunkt. Begonnen hatte sie aber schon 2002 mit dem wachsenden Konfliktpotential zwischen Washington und Moskau. Daran hatte die Geopolitik von Präsident George W. Bush beträchtlichen Anteil. Sein Nachfolger Barack Obama vermochte nicht, dies zu heilen, trotz der Teilerfolge seiner »Reset«-Politik.
Verhandlungslösungen
Die Erosion der Sicherheitsvereinbarungen für Europa weist auf eine tiefere Wurzel des Ukraine-Konflikts hin. Es geht Moskau um die strategische Parität mit den USA und darum, geopolitische Nachteile zu verhindern, die sich aus der Nato-Erweiterung ergeben könnten. Vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine würde traditionelle Bindungen zu prorussischen Volksteilen im Osten des Landes zerreißen, weitere Stationierungsräume der Nato in unmittelbarer Nähe russischer Kernregionen schaffen und die US-Militärpräsenz in der Schwarzmeerregion bis zum Don ausweiten. Moskau sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba-Krise von 1962 legitimiert, um strategische Sicherheitsinteressen zu schützen.
Diesem Zweck dienen auch die russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021. Moskau will neue Nato-Beitritte verhindern, die es der Allianz und vor allem den USA erlauben, weitere Stationierungsräume an Russlands Grenzen zu schaffen. Auch verlangt Moskau Zusicherungen, dass die Nato auf grenznahe Truppenstationierungen und die Dislozierung von Raketen und Atomwaffen in Schlagdistanz verzichtet. Moskau ist dabei auf das strategische Gleichgewicht mit den USA fixiert. Die geopolitische Asymmetrie zwischen der Insellage der USA und der Zentrallage Russlands im eurasischen Kontinent stellt jedoch Verhandlungen vor politische und konzeptionelle Herausforderungen. Dass der Kreml die Sicherheitsinteressen seiner europäischen Nachbarn dem eigenen Sicherheitsbedürfnis unterordnet, ist aus europäischer Sicht nicht akzeptabel.
Somit stellt sich die Frage, wie die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung so umgesetzt werden können, dass sowohl die Sicherheit Russlands als auch die seiner Nachbarn und deren Recht auf freie Bündniswahl gewahrt werden können. Dies ist in den Jahren 1990–1999 gelungen, indem Stationierungsbegrenzungen für die Beitrittsländer vereinbart wurden. Doch die Sicherheitsgarantien wurden nicht umgesetzt. So wurde weder die Rüstungskontrolle angepasst noch die OSZE als Zentrum der europäischen Sicherheitsordnung gestärkt.
Die russischen Vertragsvorschläge legen daher zwei Verhandlungskomplexe nahe, die sich in ihrer politischen Qualität grundsätzlich unterscheiden: Eine Revision vereinbarter Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, etwa der freien Bündniswahl, ist nicht konsensfähig. Allerdings sind auch reziproke Sicherheitsgarantien, vor allem durch Rüstungskontrolle, Teil der vereinbarten Sicherheitsordnung. Daher sind Stationierungsbegrenzungen durchaus verhandelbar, sofern sie keine Zonen minderer Sicherheit schaffen.
Unrealistisch ist hingegen Moskaus Forderung, die Allianz solle ihre Erklärung von 2008 zurücknehmen, mit der sie der Ukraine und Georgien einen Nato-Beitritt in Aussicht stellte. Die Bündnispartner könnten aber feststellen, dass seither de facto ein Beitrittsmoratorium gilt und dass es auf absehbare Zeit weiterbestehen wird, weil die Beitrittskriterien – politische Reife der Kandidaten, Zuwachs an Sicherheit für das Bündnis und Konsens dort – nicht erfüllt werden. Die Allianz kann indes nicht garantieren, dass sich diese Lage nie ändern wird. Gleichwohl begründet das Recht auf freie Bündniswahl kein Recht auf einen Nato-Beitritt, denn die Allianz unterliegt besonderen Verpflichtungen, die sie im Rahmen des strategischen Interessenausgleichs eingegangen ist. Gerade ihre nukleare Dimension und die Führungsrolle der USA legen ihr besondere Verantwortung für die strategische Stabilität in Europa auf.
Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, ein Moratorium für die Stationierung neuer INF-Waffen in Europa zu vereinbaren, sofern die Verifikation der Reichweite strittiger Systeme sichergestellt werden kann.
Die Nato-Russland-Grundakte rechtfertigt nicht Moskaus Forderung, aus den Nato-Beitrittsländern all jene Truppen abzuziehen, die nach dem Mai 1997 dort stationiert wurden. Vielmehr sollte die Formel »Verzicht auf die ›zusätzliche dauerhafte Stationierung substantieller Kampftruppen‹« nun einvernehmlich definiert und die reziproken Verpflichtungen Russlands eingefordert werden.
Moskaus Forderung an die USA, taktische Atomwaffen aus Europa abzuziehen, ist ein Thema für ein New-Start-Folgeabkommen. In der Grundakte hat die Nato zugesagt, solche Waffen nicht nach Osten zu verlegen.
Nicht nur in Moskaus, sondern auch im westlichen Interesse liegen die russischen Vorschläge, ein konventionelles Stabilitätsregime einzurichten, Zwischenfälle auf und über der Hohen See zu vermeiden sowie Übungen in Grenzräumen nur noch bis zur maximalen Größenordnung einer Heeresbrigade zuzulassen und zu verifizieren. Sie sollten im Detail verhandelt werden. Washington und Moskau könnten die militärische Transparenz stärken, wenn sie zum Open-Skies-Vertrag zurückkehrten.
Das Minsk-II-Abkommen bleibt ein zentraler Baustein dafür, den Ukraine-Konflikt zu beenden. Vor allem müssen dessen strategische Ursachen eingehegt werden, um die europäische Stabilität wiederherzustellen. Dazu ist ein strategischer Interessenausgleich zwischen den USA, der Nato und Russland erforderlich. Um die Eskalation zu stoppen, muss die Rüstungskontrolle wiederbelebt werden. Scheitert dies, könnten zusätzliche Stationierungen und Manöver an den Nato-Russland-Kontaktlinien in Osteuropa die Lage weiter destabilisieren.
Oberst a.D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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