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Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld

Sicherheitsvereinbarungen und Rüstungskontrolle müssen wiederbelebt werden

SWP-Aktuell 2022/A 11, 11.02.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A11

Research Areas

Mit grenznahen Manövern demonstriert Moskau seine Fähigkeit, im Donbas offen militärisch zu intervenieren. Es beschuldigt Kiew, die Lage dort zu eskalieren, und den Westen, die Ukraine durch einseitige Parteinahme darin zu bestärken. Doch im Westen wird geargwöhnt, Russland plane eine großangelegte Invasion der Ukraine. Dies hat der Kreml dementiert. Mitte Dezember 2021 hat er mit zwei Vertragsentwürfen verdeutlicht, worum es ihm geht, nämlich eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten zu verhindern und dafür eine verbindliche Zusicherung zu erhalten. Dabei be­ruft er sich auf die Nato-Russland-Vereinbarungen der 1990er Jahre. Moskau befürchtet, dass vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine das strategische Gleichgewicht mit den USA gefährden würde. Die USA und die Nato signalisieren Dialogbereitschaft in Fragen der Rüstungskontrolle, sind aber nicht bereit, die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung zu revidieren. Ob Moskau dies akzeptiert, bleibt abzuwarten. Jeden­falls sollte der neue Dialog als Chance aufgegrif­fen werden, um die Lage zu deeskalieren und die mili­tärische Berechenbarkeit durch Rüstungskontrolle wiederherzustellen, ohne Prin­zipien preiszugeben.

Am 17. Dezember 2021 hat Moskau zwei Vertragsentwürfe vorgelegt, um die Fort­setzung der Nato-Erweiterung nach Osten zu stoppen. Zugleich will es verhindern, dass das Bündnis Truppen an den Grenzen Russ­lands stationiert oder in europäischen Staaten weitreichende Raketen aufstellt, die Russland bedrohen könnten. Dazu fordert Moskau, dass die Nato ihre Gipfelerklärung von 2008 zurücknimmt, in der sie der Ukra­ine und Georgien den Beitritt zur Allianz in Aussicht gestellt hat. Sie solle vielmehr rechtsverbindlich erklä­ren, dass sie auf jede künftige Erweiterung – besonders im postsowjetischen Raum – verzichtet und Truppen zurückzieht, die nach dem Mai 1997 in Osteuropa stationiert wurden. Dabei beruft sich Moskau auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997.

Die Vorschläge wurden im Januar 2022 sowohl bilateral mit den USA in Genf als auch multilateral im Nato-Russland-Rat und in der OSZE diskutiert. Der Westen wies russische Forderungen nach einem Ende der Nato-Erweiterung zurück und verlangte, Moskau solle seine Truppen von den Gren­zen zur Ukraine abziehen. Viele Ver­bündete aber zeigten sich offen dafür, den Dialog fortzusetzen und die Rüstungskontrolle wiederzubeleben.

Militärische Optionen Russlands

Wie schon im Frühjahr 2021 führt Moskau seit zwei Monaten Manöver östlich der Ukra­ine durch. Seit 2015 sind dort drei Motorisierte (Mot) Schützendivisionen dauerhaft statio­niert: in Jelnja bei Smolensk (250 km nord­öst­lich der Ukraine), Bogu­tschar (50 km östlich des Donbas) und Nowotscher­kassk (150 km südöstlich des Donbas). Sie sind zwei Armeestäben in Woro­nesch und in Rostow am Don unter­stellt. Zusammen verfügen sie über etwa 47.000 Soldaten, 650 Kampfpanzer und 950 Schützenpanzer (siehe SWP-Aktuell 39/2021).

Zu den Einheiten der Schwarzmeerflotte auf der Krim gehören auch das 22. Armee­korps in Simferopol und die 810. Marine­infanteriebrigade in Sewastopol. Insgesamt sind also rund 75.000 russische Soldaten ständig in einer Distanz von 50 bis 250 km zur Ukraine stationiert.

Zusätzlich üben derzeit Truppenteile aus Süd- und Zentralruss­land auf Schießplätzen in einer Entfernung von 50–170 km zur ukrainischen Grenze. Einige Verbände befin­den sich auch in Feldlagern näher am Donbas. Nach westlichen Schätzungen beträgt die russische Truppenstärke im Um­kreis der Ukraine etwa 100.000.

Am 26. Dezember 2021 gab Moskau eine Redu­zierung um 10.000 Soldaten bekannt. Nicht bestätigt haben sich damit Voraus­sagen von US-Geheimdien­sten, Moskau werde seine Truppenstärke bis Januar 2022 auf etwa 175.000 anheben, um eine Invasion der Ukraine zu beginnen. Allerdings ist die russische Übungsserie noch nicht beendet. Eine gemeinsame Übung russischer und belarussischer Truppen wird im Februar 2022 in Belarus stattfinden.

Moskau unterstellt, Kiew wolle den Kon­flikt gewaltsam lösen. In diesem Fall wäre Russland mit den derzeit ver­füg­baren Kräf­ten in der Lage, die prorussischen Rebellen im Donbas zu unterstützen, aber nicht, die ukrainische Armee mit einem großangelegten Angriff zu zerschlagen. Dazu wären er­hebliche Verstärkungen nötig, die per Bahn aus Zen­tralrussland herangeführt werden müssten.

Die ukrainischen Streitkräfte sind heute weitaus kampfbereiter als 2014. Damals waren es nicht materielle Ausstattungs­lücken der nominell drittstärksten Armee Europas, welche die Abwehrbereitschaft hemmten, sondern ihre mangelnde Kampf­moral. Etwa zwei Drittel der ukrai­nischen Land- und Seestreitkräfte auf der Krim sind zur russischen Schwarzmeer­flotte übergelaufen, obwohl sie vor Ort über­legen waren. Als die neue Kiewer Führung eine »Anti­terroroperation« gegen die prorussischen Rebellen im Donbas begann, konnte sie nur 6.000 Soldaten auf­bieten. Sie musste sich vor allem auf leicht bewaff­nete Freiwilligenverbände stützen.

Mittlerweile sind Kiews Streitkräfte auf gut 250.000 aktive Soldaten und über 900.000 Reservisten angewachsen. Die Nato hilft, die Führungsfähigkeit zu verbessern; die USA stellten Aufklärungsergebnisse, Artillerieradargeräte und – wie auch Groß­britannien – Panzerabwehrraketensysteme bereit. Von der Türkei erhielt Kiew Bay­rak­tar-TB2-Kampfdrohnen. Beim Sieg Aser­baid­schans über arme­nische Truppen in Berg-Karabach im Herbst 2020 hatten sich Droh­nen dieses Typs als mili­tärische Schlüsselfähigkeit erwiesen. Kiew setzte sie im Som­mer 2021 wirksam gegen Separatisten ein. Kanada, Groß­britannien, Polen, Litauen und die USA haben 470 Ausbilder in der west­ukrainischen Region Lemberg stationiert.

Moskau ist mit 900.000 aktiven Soldaten, 3.300 Kampfpanzern (Kiew: 1.000) und 1.330 Kampfflugzeugen (Kiew: 125) zwar der Ukraine deutlich überlegen, doch für die subregionale Bewertung ist der Vergleich nicht aussagekräftig. Russland verfügt über die größte Landfläche und die zweitlängsten Gren­zen welt­weit. Mit etwa 280.000 Heeres­soldaten muss es mehrere strategische Rich­tungen abdecken, von der Arktis bis zum Schwarzen Meer, vom Kaukasus bis Zentral­asien und von der Ostsee bis zum Pazifik.

Gleichwohl muss Moskau im Konfliktfall die Peripherie mit Reserven aus anderen Landesteilen verstärken. Seine Fähigkeit zu parallelen Operationen an mehreren Fron­ten ist begrenzt. Zwar kann es leichte Luft­landekräfte schnell im Lufttransport verlegen. Für hochintensive Operationen aber braucht Moskau gepanzerte Verbände und umfangreiche Logistik, die mit der Eisen­bahn transportiert werden müssen. Regio­nale Kräftekonzentrationen schwächen die Trup­penpräsenz an anderer Stelle. Bedrohungsanalysen sollten daher nicht auf ope­rative Optionen in einer Sub­region ver­engt werden, sondern auch die strategischen Implikationen berücksichtigen.

Ein großangelegter Angriff Moskaus auf die Ukraine wäre trotz der deutlichen rus­si­schen Luftüberlegenheit mit hohen mili­tä­rischen und politischen Risiken verbunden. Nach acht Kriegsjahren ist der natio­nale Selbstbehauptungswille der Ukrainer ge­wachsen, zumal die russlandaffinen Teile der Bevölkerung überwiegend auf der Krim und im Donbas leben. Die ukrai­nischen Streitkräfte sind kampferfahren und mora­lisch gefestigter als 2014. Der Kreml müsste daher mit hochintensiven Gefechten, Gue­rillaoperationen und großen Verlusten rech­nen. Die Frage nach der politischen Ver­antwortung für einen Krieg unter »Brudervölkern« birgt innen­politische Sprengkraft.

Außenpolitisch müsste sich die russische Füh­rung auf weltweite Isolierung, schar­fe Sanktionen und weitere Stationierung von Nato-Truppen an Russlands Grenzen gefasst machen. Mehr euro­päische Nach­barn Russ­lands würden sich bedroht sehen und Schutz in der Nato suchen. Moskau würde das Gegenteil dessen errei­chen, was es anstrebt, nämlich die eigene Sicherheit vor einem weiteren Vordringen der Nato zu schützen.

Auch US-Geheimdienste halten unter­dessen eine begrenzte russische Ope­ration im Donbas für wahrscheinlicher als eine großangelegte Invasion. Sie warnen nun vor russischen »false flag«-Operationen, die den Vorwand für ein offenes Ein­greifen Russlands im Donbas liefern sollen. Mos­kau weist dies energisch zurück und befürchtet weiterhin eine ukrainische Militäropera­tion, mit der Kiew den Donbas unter seine Kon­trolle bringen wolle. Der Westen habe Kiew durch politische Parteinahme, Aus­bildungs­hilfe und Waffenlieferungen dazu ermutigt.

Strategische Ziele Moskaus

Vor allem durch die Nato-Erweiterung nach Osten sieht Russland seine Sicherheit be­droht. Dass dabei der Ukraine eine Schlüssel­rolle zukommt, hat Moskau bereits 2014 demonstriert. Bei der Annexion der Krim ging es weniger um den »Schutz russi­scher Landsleute« als vielmehr darum, die Basen der Schwarzmeerflotte zu sichern. Im Donbas dagegen stärkt der Kreml zwar die Rebellen, hält aber am Minsker Abkom­men fest. Moskau nahm an, die siegreiche Maidan-Bewegung werde den raschen Bei­tritt der Ukraine zur Nato anstreben – ein Ziel, das inzwischen Verfassungsrang hat.

Moskau ist dabei auf die Nato-Füh­rungs­macht USA fixiert. Mit ihr hält Russ­land ein nuklearstrategisches Gleichgewicht, das auf der gegenseitigen gesi­cherten Vernichtungsfähigkeit beruht. Sie ist in bilateralen Rüstungskontrollverträgen ver­ankert, zu­letzt im New-Start-Vertrag, den beide Seiten im Februar 2021 um fünf Jahre ver­längert haben. Er begrenzt die Zahl jener Atom­waffen und Träger mit interkontinentaler Reich­weite, mit denen Ziele in den Hoheits­gebieten der beiden potentiellen Gegner vom eigenen Territorium oder von U-Booten aus bedroht werden können. Das verein­barte Gleichgewicht soll die nukleare Zweit­schlagfähigkeit beider Seiten garantieren und so vor einem strategischen Nuklear­angriff (»Erstschlag«) abschrecken.

Die vereinbarte »strategische Stabilität« ist durch jüngere Entwicklungen gefähr­det. Dazu zählen neue Trägersysteme, die nicht vom New-Start-Vertrag geregelt werden, weitreichende konventionelle Prä­zisions- und Hyperschall­waffen, strategische Rake­tenabwehr und Antisatelliten­waffen. Beide Seiten befürchten, dass die kombinierte Anwendung dieses Potentials die nukleare Zweitschlagfähigkeit unter­minieren und einen entwaffnenden Erst­schlag ermöglichen könnte. Dies wird in den bilateralen Gesprächen über die stra­te­gische Stabilität erörtert.

Aus Washingtons Sicht haben zudem die wachsenden nuklearen Fähigkeiten Chinas das strategische Gleichgewicht und die regionale Balance im ostasiatisch-pazi­fischen Raum verändert. Sie stellen die »er­weiterte Abschreckung« der USA, die ihren ostasiatischen Verbündeten zugute kommt, in Frage. Washington will Peking daher in die Rüstungskontrolle einbinden.

Da die USA weit entfernt vom Konfliktschauplatz Europa liegen, sieht sich Moskau im Nachteil, das heißt mit zusätzlichen Sicherheitsrisiken in Europa konfrontiert. Dazu zählen die Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens sowie die Stationierung substrategischer Nuklearwaffen der USA in Europa und konventioneller Kräfte der Nato an den Grenzen Russlands.

Außerdem befürchtet Moskau eine künftige Bedrohung durch neue US-Mittel­strecken­waffen in Europa. Sie könnten stra­tegische Ziele im europäischen Russland er­reichen, sollten Washington und die Nato-Partner sich zur Stationierung entschließen.

Die Nato-Erweiterung hat weitere Stationierungsräume in Mittel- und Ost­europa ge­schaffen. Für den Kreml ist die Nato daher in erster Linie ein Instrument der USA, um geopolitische Interessen zum Nachteil der Sicherheit Russlands durchzusetzen. Zu die­sem Zweck habe der Westen frühere Verein­barungen gebrochen. Dies will Moskau nun mit neuen Vertrags­entwürfen revidieren.

Der Westen bewertet die Entwürfe als Versuch Moskaus, die europäische Sicher­heitsordnung zu ändern. Er hält dem das Recht der Staaten entgegen, ihre Bündnisse frei zu wählen. Allerdings sind die euro­päischen Sicherheitsvereinbarungen kom­plexer. Sie binden auch Allianzen.

Europäische Sicherheitsordnung

In der Schlussakte der Konferenz über Sicher­heit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE-Schlussakte) haben sich 1975 alle Staaten der Nato, des damaligen Warschauer Paktes und der neutralen und blockfrei­en Staaten Europas auf Prinzipien geeinigt, wie völkerrechtliche Verpflichtungen unter den Bedingungen des Kalten Krieges in Europa umzusetzen sind. Dazu gehören der Gewalt­­verzicht und die friedliche Beilegung von Konflikten, die Achtung der Souverä­nität und der territorialen Integrität der Staaten, die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten und die Unverletzlichkeit der Grenzen sowie das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Nach dem Kalten Krieg und der Vereinigung Deutschlands verständigten sich die KSZE-Staa­ten 1990 auf die Charta von Paris als Grundlage einer neuen euro­päischen Sicherheitsordnung. Dort bekann­ten sie sich zu gemeinsamen politischen Nor­men, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und zur umfassenden Sicherheits­kooperation. Die Mitglieder der Nato und des dama­ligen Warschau­er Paktes versprachen, sich künf­tig nicht mehr als Gegner zu betrachten, sondern die Sicherheitspartnerschaft für ein gemeinsames Europa zu suchen.

Im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. Sep­tember 1990 wurde vereinbart, dass die Vereinigung Deutschlands nicht zu einem geopolitischen Nullsummenspiel führen solle. Daher verpflichtete sich Deutschland, keine Atomwaffen und keine ausländischen Truppen in Berlin und den neuen Bundesländern zu stationieren, aus denen sowje­tische (russische) Truppen abziehen wür­den. Es fand also keine militärische Ost­verschiebung der Nato statt. Das russische Militär verließ Deutschland vereinbarungsgemäß bis 1994 und darüber hinaus auch Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und die baltischen Staaten.

Um die historische Wende zu erreichen, kam der Rüstungskontrolle eine Schlüsselrolle zu. Sie gewährleistete die Achtung der gegenseitigen Sicherheitsinteressen durch ein Netz verflochtener Rüstungskontroll­verträge. Schon 1987 schrieben die USA und die Sowjetunion im bilateralen Ver­trag über Intermediate- and Shorter-Range Nuclear Forces (INF-Vertrag) fest, auf land­gestütz­te Mittelstreckenraketen und Marsch­flugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km zu verzichten. Bis 1991 wurden vertragsgemäß alle etwa 2.700 Mittelstreckensysteme zerstört.

Auf Basis einer infor­mellen Abstimmung reduzierten Russland und die USA zudem einen großen Teil ihrer takti­schen Atomwaffen. Russland zog sie voll­ständig aus den Stationierungsländern ab; die USA beließen einen Rest in Nato-Europa, um dessen »nukleare Teilhabe« zu sichern.

Mit dem multilateralen Vertrag über Kon­ventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von 1990 verpflichteten sich die Mitgliedstaaten der Nato und des damaligen Warschauer Paktes, ein militärisches Gleich­gewicht auf niedrigerem Niveau herzustellen und die kollektiven Fähigkeiten zu einem regionalen Überraschungsangriff oder zur großangelegten Aggression zu eliminieren. Bis 1996 wurden fast 60.000 Großwaffensysteme abgebaut. Damit waren die Redu­zierungsverpflichtungen bereits weitgehend erfüllt. Die Hauptlast trug dabei wieder­um Russland, gefolgt von Deutschland.

Der KSE-Vertrag war erst 1992 in Kraft getreten, nachdem sich der Warschauer Pakt und die Sowjetunion aufgelöst hatten. Doch auch aus Moskauer Sicht hatte er wei­terhin strategische Bedeutung für die Stabilität Europas, weil er die Nato auf ihren Besitz­stand von 1990 begrenzte und ihre geo­graphische Distanz zu Russland absicherte.

Das änderte sich erst nach dem Abzug der russischen Truppen aus Deutschland, als die Nato begann, über Beitrittsperspektiven für Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn zu verhandeln. Moskau sah darin zunächst einen Bruch früherer Ver­einbarungen und befürchtete die Rückkehr zur geopolitischen Rivalität. Die Nato de­men­tierte dies, unterstrich die Bedeutung einer stabilen politischen Verankerung der vier Beitrittskandidaten und bot Moskau Zusicherungen an, dass die militärische Zurückhaltung gewahrt bleiben würde.

In der Nato-Russland-Grundakte vom Mai 1997 verpflichteten sich die Bündnispartner und Russland, ihre Sicherheits­kooperation zu vertiefen, die OSZE als gemeinsame Sicher­heitsorganisation zu stärken und den KSE-Vertrag an die neue geo­politische Lage anzupassen. Das obsolete militärische Block­gleichgewicht sollte durch nationale und territoriale Obergrenzen für jeden Ver­tragsstaat abgelöst werden. Sie würden auch die Zahl stationierter Truppen begren­zen. Die Nato werde »keine zusätzliche permanente Stationierung substantieller Kampftruppen« vornehmen. Zudem stellte die Nato fest, sie habe keinen Grund, keine Absicht und keinen Plan, Atomwaffen in den Beitritts­ländern zu dislozieren oder dies logistisch vorzubereiten.

Diese Vereinbarungen überlagerten münd­liche Äußerungen des amerikanischen Außenministers James Baker und des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher von 1990, laut denen die Nato nicht beabsichtige, sich nach der deutschen Vereinigung weiter Richtung Osten auszu­dehnen. Diese Bekundungen spiegelten die Lage zur Zeit des Zwei-plus-Vier-Vertrags wider, als das Ende des Warschauer Paktes und der Sowjetunion noch nicht absehbar war. Russland stimmte der ersten Nato-Erweiterung von 1999 unter den Bedingungen zu, die in der Nato-Russland-Grund­akte von 1997 festgeschrieben worden waren.

Trotz der Verstimmung wegen des Koso­vo­krieges der Nato gegen Serbien wurden diese Vereinbarungen zunächst umgesetzt. Nach kurzer Unterbrechung erörterte der Ständige Gemeinsame Rat der Nato-Staaten und Russlands ein breites Themenfeld im gemeinsamen Sicherheitsinteresse. Bei der Umsetzung der Dayton-Abkommen zur Rüstungskontrolle im früheren Jugo­sla­wien arbeiteten die beiden Seiten zusammen.

Beim Istanbuler OSZE-Gipfeltreffen 1999 unterzeichneten die KSE-Ver­trags­staa­­ten das KSE-Anpassungsabkommen (AKSE). Parallel dazu verabschiedeten alle OSZE-Teilnehmer­staaten die »Europäische Sicherheitscharta«. Darin bekennen sie sich erneut zum Ziel, einen gemein­samen Raum gleicher und unteilbarer Sicherheit zu schaffen. Kein Staat und keine Organisation könne eine vorrangige Verantwortung für die Bewahrung der europäischen Sicher­heit beanspruchen oder besondere Einfluss­zonen geltend machen. Gleichwohl habe jeder Staat das Recht, einem Bündnis beizutreten oder neutral zu bleiben. Allerdings sollen die Staaten ihre gegen­seitigen Sicherheitsinteressen respek­tieren und ihre Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten stärken.

Rüstungskontrolle und Vertrauens­bildende Maßnahmen seien Kernelemen­te, um Sicherheit und Stabilität im OSZE-Raum zu gewährleisten. Ihr »Eckpfeiler« sei der KSE-Vertrag. Seine Anpassung werde dem Wandel der Rahmenbedingungen Rechnung tragen, den Vertragsbeitritt wei­terer europäischer Staaten ermöglichen und so zur Verbesserung der militärischen Stabili­tät in Europa beitragen. Moskau wirft der Nato vor, sie habe sich nach Osten erwei­tert, ohne die Vereinbarungen einzuhalten.

Erosion der Vereinbarungen

Das KSE-Anpassungsabkommen ist nicht in Kraft getreten, obwohl Russland es 2004 ratifiziert hat. Im Bündnis blockierten die USA die Ratifizierung des AKSE, nach­dem George W. Bush 2001 sein Amt als Präsident angetreten hatte. Er wollte den Abzug ver­bliebener russischer Stationierungstruppen aus Georgien und der Republik Moldau erreichen, um den Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens vorzubereiten.

Die USA begründeten dies mit bilateralen Zusatzvereinbarungen Russlands mit Georgien sowie mit der OSZE, die während des OSZE-Gipfels in Istanbul den KSE-Ver­tragsstaaten zur Kenntnis gegeben und in der KSE-Schlussakte zusammengefasst wur­den. In der Nato bestand jedoch kein Kon­sens darüber, ob die Abzugsverpflichtungen auch für russische Peacekeeper in den Kon­fliktgebieten Abchasien und Transnistrien galten, da sie über Mandate der UN und der OSZE verfügten. Auch als Russland 2002 zunächst alle KSE-relevanten Waffensysteme aus Transnistrien und 2007 alle Statio­nierungstruppen aus Georgien abgezogen hatte, änderte sich die amerikanische Hal­tung zum AKSE nicht. Deutschland teilte diese Auffassung zwar nicht, wollte aber die Bündnis­solidarität nicht brechen.

Obwohl der AKSE wegen der Blockade durch die USA nicht in Kraft getreten war, traten der Nato ab 2004 Staaten bei, die dem KSE-Vertragsregime nicht angehören. So ent­stan­den an Russlands Grenzen, nämlich in den baltischen Staaten, poten­tielle Sta­tio­nierungsräume der Allianz, die keinen rechts­gültigen Rüstungskontroll­regeln unterliegen.

Ferner verhinderten die USA, dass die Zusage, keine zusätzlichen »substantiellen Kampftruppen« dauerhaft zu stationieren, gemein­sam mit Russland definiert wurde. Dies wäre aber schon deshalb wichtig, weil Russland gleichlautende Verpflichtungen für die Grenzräume zu den baltischen Staa­ten, Polen und Finnland eingegangen ist.

Stattdessen schufen die USA 2007 eine ständige Militärpräsenz am Schwarzen Meer, ohne dies vorher im Bündnis oder im Nato-Russland-Rat zu erörtern. Ihre »rotie­ren­den« Kampftruppen in Rumänien und Bul­garien bezeichneten die USA als »nicht substan­ti­ell«. Beide Staaten gehören aber zum »Flan­kengebiet der östlichen Gruppe« der KSE-Ver­trags­staaten, für die besondere Begrenzungen und Konsultationspflichten gelten.

Russland hat daraufhin die eigenen Flankenbegrenzungen, welche den Umfang rus­sischer Truppen im Hohen Norden und im Kaukasus limitieren, für obsolet erklärt. Schon seit 2002 hatte Moskau arg­wöhnisch auf die Entwicklung der georgisch-amerika­nischen Militärkooperation (Train and Equip Program) geblickt, mit der eine US-Militär­präsenz an der instabilen russischen Kauka­susgrenze eingerichtet wurde. Hatte Mos­kau noch 1996 Sanktionen gegen das Sepa­ratisten­regime in Abchasien veranlasst, begann es nun, die von Georgien abtrünnigen Republiken informell zu stützen.

Den Austritt der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002 wer­tete Moskau als Gefahr für die strategische Stabilität. Sie verschärfte sich, als die USA 2007 mit Polen und Tschechien bilateral vereinbarten, dort Raketenabwehrsysteme zu stationieren. Washingtons Begründung, der ira­ni­schen Bedrohung begegnen zu müssen, zog Moskau in Zweifel.

Den Angriff der USA gegen den Irak 2003 kritisierte Moskau als Völkerrechtsbruch. Zwar gab es in der Nato keinen Kon­sens für den Krieg, doch Washington konnte sich auf eine »Koalition der Willigen« stützen, die vor allem aus den neuen osteuropäischen Verbündeten bestand. Schon 1999 hatte Moskau den Krieg der Nato gegen Serbien als illegalen Angriffskrieg und Verletzung des Gewaltverbots gebrandmarkt.

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 kritisierte Präsident Putin diese Entwicklung als Bruch der Vereinbarungen von 1997 und 1999 und unterstellte den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nach­teil Russlands. Ende 2007 suspendierte er den KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept obsolet ge­worden war.

Als westliche Staaten die im Februar 2008 ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos an­erkannten, wurden erstmals seit der Char­ta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewalt­anwendung und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates verändert. Mos­kau reagier­te, indem es seine informellen Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde seit den Kriegen 1990–1994 unter Lei­tung der UN und der OSZE verhandelt.

Als Bruchpunkt in den Beziehungen der Nato zu Russland erwies sich ihr Bukarester Beschluss vom April 2008, der Ukraine und Georgien den Bündnisbeitritt in Aussicht zu stellen. Mit Unterstützung osteuropäischer Staaten wollte Präsi­dent George W. Bush dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutschland und Frankreich verhinderten einen konkreten Bei­trittsplan. Sie bezweifelten, dass die innen­politischen Verhältnisse der Kandidaten den Nato-Standards entsprächen. Auch be­fürch­teten sie eine Destabilisierung der Ukraine, da die Bevölkerungsmehrheit den Bündnisbeitritt ablehnte. Zu­dem mahnten sie, »rote Linien« Moskaus nicht zu überschreiten, um die regionale Stabilität und die Sicherheit Europas und der Allianz nicht zu gefährden.

Gleichwohl fühlte sich der georgische Präsident Saakaschwili durch seine strate­gische Partnerschaft mit den USA ermutigt, am 7. August 2008 ossetische Milizen und russische Peacekeeper in der südossetischen Stadt Zchinwali an­zugrei­fen. Der russische Gegenschlag ver­trieb die georgische Armee aus Südossetien und eröffnete eine zweite Front in Abcha­sien. Dass Moskau nach dem Waffen­still­stand die beiden abtrünnigen Regionen als »Staaten« anerkannte, wertete der Wes­ten als illegale Änderung von Gren­zen durch Gewalt und als Verletzung der Sou­veränität Georgiens.

Mit Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim und seiner Unterstützung für die Rebellen im Donbas erreichte die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung ihren Kulminationspunkt. Begonnen hatte sie aber schon 2002 mit dem wachsenden Kon­fliktpotential zwischen Washington und Moskau. Daran hatte die Geopolitik von Präsident George W. Bush beträcht­lichen Anteil. Sein Nachfolger Barack Oba­ma vermochte nicht, dies zu heilen, trotz der Teil­erfolge seiner »Reset«-Politik.

Verhandlungslösungen

Die Erosion der Sicherheitsvereinbarungen für Europa weist auf eine tiefere Wurzel des Ukraine-Konflikts hin. Es geht Moskau um die strategische Parität mit den USA und darum, geopolitische Nachteile zu ver­hindern, die sich aus der Nato-Erwei­terung ergeben könnten. Vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine würde traditio­nelle Bindungen zu prorussischen Volks­teilen im Osten des Landes zerreißen, wei­tere Stationierungsräume der Nato in un­mittelbarer Nähe rus­sischer Kernregionen schaffen und die US-Militärpräsenz in der Schwarzmeerregion bis zum Don aus­wei­ten. Moskau sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba-Krise von 1962 legiti­miert, um strategische Sicherheitsinteressen zu schützen.

Diesem Zweck dienen auch die russischen Vertragsentwürfe vom Dezember 2021. Moskau will neue Nato-Beitritte verhindern, die es der Allianz und vor allem den USA erlauben, weitere Stationierungsräume an Russlands Grenzen zu schaffen. Auch ver­langt Moskau Zusicherungen, dass die Nato auf grenznahe Trup­penstationierungen und die Dislozierung von Raketen und Atomwaffen in Schlag­distanz verzichtet. Moskau ist dabei auf das strategische Gleichgewicht mit den USA fixiert. Die geopolitische Asym­metrie zwischen der Insellage der USA und der Zent­rallage Russlands im eurasischen Kontinent stellt jedoch Verhandlungen vor politische und konzeptionelle Herausforderungen. Dass der Kreml die Sicherheitsinter­essen seiner europäischen Nachbarn dem eigenen Sicherheitsbedürfnis unterordnet, ist aus europäischer Sicht nicht akzeptabel.

Somit stellt sich die Frage, wie die Prinzi­pien der europäischen Sicherheitsordnung so umgesetzt werden können, dass sowohl die Sicherheit Russlands als auch die seiner Nachbarn und deren Recht auf freie Bünd­niswahl gewahrt werden können. Dies ist in den Jahren 1990–1999 gelungen, indem Statio­nierungsbegrenzungen für die Beitritts­­länder vereinbart wurden. Doch die Sicher­heitsgarantien wurden nicht umgesetzt. So wurde weder die Rüstungskontrolle ange­passt noch die OSZE als Zentrum der euro­päischen Sicherheitsordnung gestärkt.

Die russischen Vertragsvorschläge legen daher zwei Verhandlungskomplexe nahe, die sich in ihrer politischen Qualität grund­sätzlich unterscheiden: Eine Revision ver­einbarter Prinzipien der europäischen Sicher­heitsordnung, etwa der freien Bünd­nis­wahl, ist nicht konsensfähig. Aller­dings sind auch reziproke Sicherheitsgarantien, vor allem durch Rüstungs­kontrolle, Teil der vereinbarten Sicherheits­ordnung. Daher sind Stationierungsbegrenzungen durchaus verhandel­bar, sofern sie keine Zonen min­derer Sicher­heit schaf­fen.

Unrealistisch ist hingegen Moskaus Forderung, die Allianz solle ihre Erklärung von 2008 zurücknehmen, mit der sie der Ukraine und Georgien einen Nato-Beitritt in Aussicht stellte. Die Bündnispartner könn­ten aber feststellen, dass seither de facto ein Beitrittsmoratorium gilt und dass es auf absehbare Zeit weiterbestehen wird, weil die Beitritts­kriterien – politische Reife der Kandidaten, Zuwachs an Sicherheit für das Bündnis und Konsens dort – nicht erfüllt wer­den. Die Allianz kann indes nicht garan­tieren, dass sich diese Lage nie ändern wird. Gleichwohl begründet das Recht auf freie Bündniswahl kein Recht auf einen Nato-Beitritt, denn die Allianz unterliegt beson­deren Verpflichtungen, die sie im Rahmen des strategischen Interessenausgleichs ein­gegangen ist. Gerade ihre nu­kleare Dimen­sion und die Führungsrolle der USA legen ihr besondere Verantwortung für die strate­gische Stabilität in Europa auf.

Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, ein Moratorium für die Stationierung neuer INF-Waffen in Europa zu vereinbaren, so­fern die Verifikation der Reichweite stritti­ger Systeme sichergestellt werden kann.

Die Nato-Russland-Grundakte rechtfertigt nicht Moskaus Forderung, aus den Nato-Beitrittsländern all jene Truppen abzuziehen, die nach dem Mai 1997 dort stationiert wurden. Vielmehr sollte die Formel »Ver­zicht auf die zusätzliche dauerhafte Statio­nierung substantieller Kampftruppen‹« nun einvernehmlich defi­niert und die reziproken Verpflichtungen Russlands eingefordert werden.

Moskaus Forderung an die USA, taktische Atomwaffen aus Europa abzuziehen, ist ein Thema für ein New-Start-Folgeabkommen. In der Grundakte hat die Nato zugesagt, sol­che Waffen nicht nach Osten zu verlegen.

Nicht nur in Moskaus, sondern auch im westlichen Interesse liegen die russischen Vorschläge, ein konventionelles Stabilitätsregime einzurichten, Zwischenfälle auf und über der Hohen See zu ver­meiden sowie Übungen in Grenzräumen nur noch bis zur maximalen Größenordnung einer Heeresbrigade zuzulassen und zu verifizieren. Sie sollten im Detail verhandelt werden. Wash­ington und Moskau könnten die militärische Transparenz stärken, wenn sie zum Open-Skies-Vertrag zurückkehrten.

Das Minsk-II-Abkommen bleibt ein zen­traler Baustein dafür, den Ukraine-Konflikt zu beenden. Vor allem müssen dessen stra­tegische Ursachen eingehegt werden, um die europäische Stabilität wiederherzustellen. Dazu ist ein strategischer Interessenausgleich zwischen den USA, der Nato und Russland erforderlich. Um die Eskalation zu stoppen, muss die Rüstungskontrolle wie­derbelebt werden. Scheitert dies, könn­ten zusätzliche Stationierungen und Manö­ver an den Nato-Russland-Kontaktlinien in Osteuropa die Lage weiter destabilisieren.

Oberst a.D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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