Direkt zum Seiteninhalt springen

Tschechisch-russische Zerwürfnisse nach Anschlagsvorwürfen

SWP-Aktuell 2021/A 37, 06.05.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A37

Forschungsgebiete

Die tschechische Regierung kündigte am 17. April an, sie werde 18 Mitarbeiter der russischen Botschaft in der Tschechischen Republik zur Ausreise auffordern. Prag wirft Moskau vor, russische Agenten seien verantwortlich für zwei Explosionen in einem Munitionslager im osttschechischen Vrbětice, die sich 2014 ereigneten. Russ­land reagierte mit der Ausweisung von 20 Botschaftsmitarbeitern, woraufhin Prag verkündete, das russische Botschaftspersonal weiter zu reduzieren. Auch hat Russ­land wohl kaum noch Chancen, beim geplanten Ausbau des Atomkraftwerks Dukovany zum Zug zu kommen. Angesichts des tiefsten bilateralen Zerwürfnisses mit Russland seit 1989 (bzw. seit der Unabhängigkeit des Landes 1993) wirbt die Tschechische Re­pub­lik nun um die Unterstützung der Verbündeten in Nato und EU. Deutschland sollte den Umgang mit Russland sowie das Thema hybride Bedrohungen zu einem sicht­baren Element des Dialogs mit Prag machen.

Am 17. April erklärte die tschechische Re­gie­rung, sie werde 18 russische Diplomaten und Botschaftsangestellte ausweisen, denen nachrichtendienstliche Tätigkeit vorge­worfen wird. Dieser Schritt resultierte aus Erkennt­nissen der tschechischen Geheimdienste, die russischen Agenten die Verant­wortung für zwei Explosionen in einem Muni­tionsdepot in der Gemeinde Vrbětice zuschreiben. Bei dem Vorfall im Jahr 2014 kamen zwei tschechische Staats­bürger ums Leben. Die tschechischen Dienste gehen davon aus, dass die Gescheh­nisse in Vrbětice das Werk zweier Mitarbeiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU waren, die auch den Giftanschlag im britischen Salisbury verübt haben sollen. Die Anschläge sollen sich gegen eine bulga­rische Firma gerichtet haben, die die in Vrbětice von einem tsche­chischen Unternehmen gela­gerte Munition möglicherweise in die Ukraine verkaufen wollte. Nach den bislang öffentlich gewor­de­nen Infor­mationen hätten die Explosionen vermutlich erst später stattfinden sollen, das heißt, wenn sich das Mate­rial bereits außerhalb des Landes befunden hätte, um so eventuell den Händler oder die End­abnehmer zu treffen. Mutmaßlich kam es aber durch Fehler schon in Vrbětice zu den Detonationen.

Russland dementierte die Anschuldigungen und verwies umgehend 20 tschechische Diplomaten bzw. Botschaftsangestellte des Landes. Prag betrachtete diese Reaktion als unverhältnismäßig und verlangte dar­auf­hin eine weitere Reduktion des russi­schen Botschaftspersonals, und zwar um weitere 63 Personen. Da die russische Ver­tretung in Prag einen ungleich höheren Personal­bestand aufweist als die tschechische in Moskau, zielte die tschechische Regierung auf die Herstellung von Parität. Laut offi­ziellen tschechischen Angaben lag das Ver­hältnis vor den Ausweisungen bei 58 Per­sonen in den tschechischen Vertretungen in Russland zu 129 in den russischen Ver­tretungen in der Tschechischen Repub­lik. Diese Zahlen umfassen Diplomaten und sonstiges Botschaftspersonal ohne Orts­kräfte und berücksichtigen Bot­schaften eben­so wie Konsulate. Moskau erklärte sich hier­zu bereit, verfügte aber auch eine Decke­lung für Verwaltungspersonal und Orts­kräfte, wodurch die tschechische Seite stär­ker be­troffen ist.

Prag wirbt bei den Verbündeten in EU und Nato um politische Unterstützung und hofft, dass weitere Staaten klare Zeichen setzen, beispielsweise indem sie Diplomaten ausweisen. Der Nordatlantikrat äußerte seine »tiefe Besorgnis« über von Russ­land ausgehende »destabilisierende Aktivitäten«, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik drückte seine Solidarität mit der Tschechischen Republik aus. Als Erste hatten die Außenminister der Vise­grád-Staaten der Tschechischen Republik ihre Unterstützung zuge­sichert, die Regie­rungschefs der vier Länder folgten Ende April mit einer gemeinsamen Erklärung. Zu weiter­gehenden Maßnahmen entschloss sich zunächst die Slowakei, die drei russi­sche Diplomaten auswies, sowie die balti­schen Staaten, Rumänien und Bulgarien.

Schwierige Beziehungen …

Die tschechisch-russischen Beziehungen waren seit der Selbständigkeit der Tsche­chischen Republik 1993 nie völlig frei von Komplikationen. Mit der breiteren, geo­politisch beförderten Verschlechterung der Beziehungen des Westens zu Russland seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts trübte sich die Atmosphäre des bila­teralen Ver­hältnisses ein, zudem regte sich immer mehr Widerspruch gegen einen pragmatischen Kurs im Umgang mit Russland.

Sichtbar wurden nicht zuletzt erinnerungs­politische Konflikte. So ent­fernten im Frühjahr 2020 im sechsten Prager Bezirk ört­liche Behörden eine Statue des sowjetischen Marschalls Konjev, nachdem es bereits zuvor zu Kontro­versen gekommen war, unter anderem weil das lokale Rathaus das Denkmal verhüllen ließ. Konjev gilt in der Tschechischen Republik einer­seits als wich­tiger Befehlshaber, der an der Befreiung großer Teile Böhmens von der deutschen Be­satzung Ende des Zweiten Welt­kriegs beteiligt war, andererseits halten ihm man­che vor, an der Unterdrückung des ungari­schen Aufstands 1956 oder des Prager Früh­lings 1968 mitgewirkt zu haben. Die russi­sche Seite betrachtete den Abbau des Denk­mals als Schmälerung der historischen Ver­dienste der Roten Armee und als Verstoß gegen Konsultationsregelungen aus dem bilateralen (tschechisch-russischen, im Jahr 1993 unterzeichneten) Vertrag. Tschechische Stellen bestreiten Letzteres und ver­wei­sen auf die Rege­lungen eines bilateralen Abkommens von 1999 zum Erhalt von Kriegs­denkmälern. Diesem Abkommen zu­folge muss sich die Tschechische Republik nur um Kriegsgräber und Gedenkstätten für gefallene sowjetische Soldaten kümmern, zu denen das Denkmal für den umstrittenen Marschall nicht gezählt wird.

Verstimmungen gab es auch, nachdem 2019 der 21. August in der Tschechischen Repu­blik als Gedenktag an den Einmarsch sowjetischer Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings statuiert wurde. Wei­tere Streit­punkte waren: Die Stadt Prag hat die an die russische Botschaft in Prag gren­zende Straße in Boris-Nemzov-Platz um­benannt, in Erinnerung an den 2015 im Zentrum Moskaus erschossenen Oppositions­politiker; die Tschechische Republik hat einen auch von Russland gesuchten Hacker an die USA ausgeliefert; Staatspräsident Miloš Zeman behauptete nach der Vergiftung des früheren Dop­pelagenten Sergej Skripal im briti­schen Salisbury, Kampfstoff vom Novi­tschok-Typ, der in Groß­britannien verwen­det worden war, sei zu Forschungszwecken ebenfalls in der Tschechischen Republik pro­duziert worden. Diese Äuße­rungen sorgten für Verwirrung und wurden von Russland aufgegriffen, um Prag zu be­zichtigen, in den Giftanschlag verwickelt gewesen zu sein.

Unabhängig davon weisen die tschechischen Geheimdienste in ihren öffentlichen Berichten immer wieder auf Agententätigkeit und intransparente russische Netzwerke in der Tschechischen Republik hin. Der Inlandsgeheimdienst BIS betont in seinem Jahresbericht für 2019 die Risiken von Des­information und manipulativer Bericht­erstattung im Zusammenhang mit russ­land­nahen Gruppierungen und Aktivisten.

Die tschechisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen sind überschaubar; der russi­sche Markt nahm im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie nur 2,2 Prozent der tsche­chischen Ausfuhren auf. Tschechische Un­ter­nehmen exportieren vor allem Maschi­nen, Autos und Kraftfahrzeugzubehör. Im Ener­giesektor ist die Abhängigkeit des Lan­des von Russland mäßig. Durch eine bereits in den 1990er Jahren geschaffene Verbindung an das Tanklager im bayerischen Vohburg (IKL-Pipeline) sind die tsche­chischen Raf­fi­nerien nicht allein auf Liefe­rungen aus der Druschba-Pipeline angewiesen. Das in der Tschechischen Republik ver­brauchte Gas stammt zwar letztlich zum Großteil aus Russland, dies spielt aber keine wesentliche Rolle für die Versorgungs­sicher­heit, da An­bindungen zu Deutschland bzw. zum nord­westeuropäischen Markt­gebiet bestehen und damit große Mengen aus dem Hub in Rotterdam kontraktiert werden kön­nen. Dies ist auch möglich, weil die Reverse-Flow-Kapazitäten des tschechischen Gas­netzes nach der russisch-ukrai­nischen Gas­krise 2009 verbessert wurden.

… und eine vielstimmige Politik

Die politische Debatte in der Tschechischen Republik über den Umgang mit Russland ist seit langem gekennzeichnet durch die Rivalität zwischen unter­schiedlichen An­sätzen. An den Rändern des politischen Gefüges, kon­kret in der Kommunistischen Partei Böh­mens und Mährens (KSČM) und der natio­nalistischen Partei Freiheit und direkte Demo­kratie (SPD), finden sich mehr oder minder unverhohlen russophile Strö­mungen. Die Vorsitzenden der beiden Gruppierungen zweifeln an der Glaubwürdig­keit der Informationen, die tschechische Stellen zu den Explosionen in Vrbětice vor­gelegt haben, vermuten ein abgekartetes Spiel der Geheimdienste oder stellen den Zeitpunkt der Veröffentlichung in Zusammen­hang mit Entscheidungen über den Ausbau des Kernkraftwerks Dukovany oder mit dem möglichen Kauf des russischen Covid‑19-Impfstoffes Sputnik V. Der frühere Staatspräsident Václav Klaus nannte die Angelegenheit ein »konstruiertes Schreck­gespenst« und sprach von einer Atmosphäre wie in der stalinistischen Zeit der 1950er Jahre mit umgekehrten Vorzei­chen. Diese russlandfreundlichen Richtungen haben jedoch keinen Einfluss auf die Regierungspolitik. Allerdings finden in derlei Milieus prorussische und antiwest­liche Medien besonderen Anklang.

Auf der anderen Seite befindet sich das Lager derer, die stets eine striktere Russ­landpolitik gefordert haben. Hierher gehö­ren die euroatlantisch ausgerichteten kon­servativen Oppositionsparteien, viele Stim­men in der Piratenpartei, unabhängige Mit­glieder des Senats, allen voran Pavel Fischer, früherer Präsidentschaftskandidat und Vor­sitzender des Ausschusses für Außen­politik, Sicherheit und Verteidigung der zweiten Parlamentskammer. Ferner zählen zu ihnen Kommunalpolitiker aus Prag, wie dessen Bürgermeister Zdeněk Hřib (Piratenpartei) oder der Bezirksbürgermeister des sechsten Prager Bezirks, Ondřej Kolář (TOP09), die zum Beispiel durch die erwähnte Denkmals­politik zu Akteuren der tschechisch-russi­schen Beziehungen wurden und zu Ver­wicklungen beitrugen.

Innerhalb der Regierung war der sozialdemokratische Außenminister Tomáš Petří­ček die vielleicht sichtbarste Kraft einer pro­westlichen und russland- ebenso wie china­kritischen Linie – wodurch er auch in seiner Partei auf Widerstand traf. Unmittel­bar be­vor die Umstände der Explosionen bekannt wurden, war Petří­ček durch seinen Partei­freund Jan Hamáček ausgebootet wor­den, nachdem Letzterer sich beim Kampf um den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei durchge­setzt hatte. Nicht zuletzt war Petříček Staatspräsident Zeman ein Dorn im Auge.

Zeman war bislang der vielleicht wichtigste Protagonist einer prag­matischen Ko­operation mit Russland. Ob­schon er sich bei Themen wie dem Geden­ken an das Jahr 1968 durchaus kritisch gegenüber Moskau äußerte, vertraten er und Teile seiner En­tou­rage in Sachen Geschichts­politik und Wirt­schaft zumeist einen kooperativen Ansatz. Zeman fand bisher in Teilen der sozial­demo­kratischen Partei Zustimmung für seinen Kurs. Desgleichen gab es in der Par­tei ANO von Premierminister Andrej Babiš bis jüngst Verfechter einer prag­ma­tischen Poli­tik, etwa Indus­trie­minister Karel Havlíček, der sich noch vor kurzem für eine Teilnahme russischer und chine­sischer Bieter an der Ausschreibung für den Ausbau des Kern­kraftwerks in Dukovany einsetzte, oder Parlamentspräsident Radek Vondráček, der 2018 eine um­strittene Reise nach Russland unter­nahm, bei der er sich auch mit Perso­nen traf, die auf der EU-Sank­tionsliste stehen. Der Regie­rungschef selbst hielt sich in der Vergangenheit bezüg­lich Russland zurück.

Infolge dieser Vielstimmigkeit entwickelte sich in der Tschechischen Republik keine schlüssige Russlandpolitik – Differenzen über die außen- und sicherheitspolitische Beurteilung Russlands oder unterschied­liche Sichtweisen auf die dortige innenpolitische Lage haben einen Ansatz aus einem Guss bislang ver­hindert. Überdies belas­te­ten die zuvor erwähnten, oftmals eher sym­bolischen, aber öffentlichkeitswirk­samen Streitfragen das bilaterale Verhältnis. Trotz unterschied­licher Ansätze wurde der Ver­such unternommen, den ins Stocken gera­tenen Dialog wieder in Gang zu bringen, indem im vergangenen Sommer der Posten eines Bevollmächtigten für Konsultationen mit Russland geschaffen wurde. Besetzt wurde er nach Abstimmung zwischen Prä­sident, Premierminister, Außen- und Innen­minister mit Rudolf Jindrák, Abteilungs­leiter für Außenpolitik in der tschechischen Präsi­dialkanzlei und ehemals unter ande­rem Botschafter in Deutschland. Jindrák er­klärte nach seiner Ernennung, Ziel sei es, eine »Inventur« der beiderseitigen Beziehun­gen vorzunehmen, die jenseits der Tref­fen der Staatspräsidenten im Grunde nicht existier­ten. Zu Konsultationen kam es seither nicht.

Auch in der aktuellen Situation sind russ­landpolitische Dissonanzen wieder zum Vor­schein gekommen. Während die Regie­rung geschlos­sen agierte und vor allem von der konservativen Opposition und der (aller­dings verhaltener auftretenden) Piraten­partei unterstützt wurde, stellte Präsident Zeman das Vorgehen der Regie­rung infrage. Nach einer Woche des Schweigens ging er am 25. April an die Öffentlichkeit und for­derte eine Aufklärung der Vorgänge in und um Vrbětice »ohne Hysterie«. Der tschechische Inlandsgeheimdienst BIS habe zum Beispiel keine Beweise dafür vorgelegt, dass sich die russischen Agenten auf dem Areal des Munitionsdepots aufgehalten hätten. Ohnehin würden solcherlei Beweise noch nichts darüber aussagen, dass die russischen Agen­ten tatsächlich in den Anschlag ver­wickelt gewesen seien. Es bedürfe weiterer Unter­suchungen. Man müsse neben der Hypo­these eines Anschlags durch ausländische Geheim­dienst­aktivitäten auch in Rich­tung eines unsach­gemäßen Umgangs oder der Mani­pu­lation mit eingelagerter Muni­tion ermit­teln. Sollte sich die zuletzt ge­nannte Version be­stätigen, so Zeman, sei von einem Spiel der tschechischen Geheim­dienste aus­zugehen.

In Russland wurden diese Äußerungen umgehend aufgegriffen und als Beleg dafür gewertet, dass die tschechischen Vorwürfe unbegründet seien. Zemans Einschätzungen können das Bemühen der tschechischen Regierung um internationale Unter­stützung erschweren, denn sie begünstigen Debatten um die Glaubwürdigkeit der Ermittlungsgrundlagen. Zudem wird es einfacher, Gegen­narrative zu den von der Regie­rung bzw. den Sicherheitsorganen vor­gelegten Infor­mationen zum Tathergang zu lancieren. Zemans Kommentare fielen darüber hinaus bei den nationalistischen Kräf­ten und den Kommunisten im eigenen Land auf frucht­baren Boden.

Die Tschechische Republik ist angesichts der politischen und gesellschaftlichen Rah­menbedingungen aus russischer Perspektive ein Land, das zahlreiche Kooperations­chancen und Einhakpunkte bietet und das anfällig für Destabilisierung ist. Anders als zum Beispiel im benachbarten Polen be­steht kein übergreifender politischer Kon­sens, was die Sicht auf Russland angeht. In der Gesellschaft gibt es (historisch gewachsen und trotz Erschütterungen wie dem August 1968) zwar minoritäre, aber bedeut­same russland­freundliche Tendenzen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungs­instituts CVVM vom November 2019 hegt immerhin ein Fünf­tel der Befragten mehr oder minder starke Sympathien für Russ­land. Gleich­zeitig ist eine relevante Abnei­gung gegen den Westen und dessen Insti­tutionen zu verzeichnen. Im Lauf des letzten Jahrzehnts waren stets etwa ein Fünftel bis ein Viertel der Befragten un­zufrieden mit der Nato-Mitgliedschaft ihres Landes (bei Zufriedenheitswerten zwischen 50 und 60 Prozent (CVVM, März 2020)).

»Alternative« Medien mit ex- oder implizit russlandfreundlicher und vor allem west­kritischer Ausrichtung haben daher einen nennenswerten Resonanzraum. Das tsche­chische Innenministerium soll schon vor vier Jahren an die 40 solcher »alternativer« Websites beobachtet haben. Auch wenn derlei Medien antiwestliche Berichterstattung betreiben, lässt sich vielfach kein di­rek­ter Bezug ihrer Redaktionen zu Russ­land nachweisen. Was Themen zur Corona-Pan­demie anbetrifft, stammt angeblich das Gros an Content und (Des-)Information von deutschen Websites.

Kurzfristige Ziele

Das Agieren der tschechischen Regierung seit dem Öffent­lichwerden der Erkenntnisse bezüg­lich der Explosionen in Vrbětice ver­deut­licht, dass sie drei Ziele verfolgt. Ers­tens sollen klare Signale an Moskau ge­sen­det werden, um zu demon­strieren, dass Prag in Anbetracht des Vor­falls nicht zur Tagesordnung übergehen wird, sondern politisch gegenhalten und, wie oft betont wird, als »souveräner Staat« auftreten möchte. Passi­vität kann sich die Regierung mit Blick auf die prowestliche Opposition und Teile der Medien nicht erlauben. Ein Beleg hierfür ist die Forderung, als Antwort auf Russ­lands schroffe Ausweisungspolitik das diplomatische Personal symmetrisch zu reduzieren (also die Anzahl akkreditierter Diplomaten auf die gleiche Zahl zu begren­zen). Über­dies dürfte die russische Rosatom praktisch keine Chance mehr haben, bei der Aus­schreibung für den Bau eines fünf­ten Blocks des Kernkraftwerks Dukovany zum Zug zu kommen. Ebenso wird man in anderen Bereichen rasch ver­suchen, noch bestehende Abhängigkeiten von Russland abzubauen, etwa bei mili­tärischer Ausrüstung, wo man beispiels­weise noch bis 2023 auf Ersatzteile aus Russland für Hubschrau­ber vom Typ Mil angewiesen ist.

Zweitens wird von den Verbündeten in Nato und EU erwartet, dass sie ihre Solidari­tät bekunden, denn Prag möchte in seinem Konflikt mit Russland nicht isoliert da­stehen. Auch deswegen wurde zunächst ver­sucht, mit einem Narrativ des Salisbury-Moments ähnlich starke Reaktionen der Bündnispartner wie nach dem Fall Skripal herbeizuführen, selbst wenn der Vergleich seine Schwächen hat. Mit Ausweisungen folgten aber bisher nur einige traditionell russ­landkritische Länder aus Ostmittel- und Südosteuropa. Ob und welche Maßnahmen westliche Län­der nach Konsultationen er­greifen werden, wird in Prag einerseits als Ausweis der Solidarität seitens der Bündnis­partner wahrgenommen werden, andererseits als Test für die Effektivität der eigenen Regierung und ihrer Kontakte zu befreundeten Haupt­städten.

Drittens ist man trotz allem nicht an einer Eskalation der Ereignisse interessiert. Die Rhetorik der tschechischen Politik ist entschlossen, aber besonnen. Premierminister Babiš nahm den Begriff des Staatsterrorismus zurück. Auch verläuft der Konflikt neben öffentlichen Verbalscharmützeln bislang vornehmlich im engen diplomatischen Bereich. Bei der Forderung, beim diplomatischen Personal Parität herzustellen, gab man Moskau für die Ausreise wei­terer Diplomaten Zeit bis Ende Mai, was Raum für Gespräche über die Details bei der Neu­balancierung der Personalstärke in den diplomatischen Vertretungen sowie hin­sichtlich anderer Fragen schafft. Dass sich Russland auf die Herstellung von Sym­me­trie bei den Personalstärken eingelassen hat, bedeu­tet zwar nicht, dass damit der diesbezüg­liche Dissens überwunden ist; doch kann die tschechische Regierung die­sen Schritt innenpolitisch als Erfolg prä­sentieren. Jahre­lang hatten kritische Stim­men im Land die starke Präsenz russi­schen Bot­schaftspersonals als Sicherheits­risiko oder Überbleibsel von 1968 angeprangert, dennoch konnten in dieser Ange­legenheit niemals Fortschritte erzielt werden.

Gleichzeitig ist man bemüht, zum Beispiel die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus dem Konflikt herauszuhalten. Im Energiesektor ist jenseits der Frage Atom­kraft ebenfalls kein Plädoyer für eine Ab­kehr von der jetzigen Politik zu ver­nehmen. Im Hinblick auf Nord Stream 2 wird bisher wenig neue Kritik formuliert. Der tschechische Netz­betreiber Net4Gas hat Anfang 2021 im Rahmen seines Capacity4Gas-Projekts eine neue Hochdruckgasleitung fertiggestellt. Diese verbindet die Eugal-Pipeline, mit der Gas aus Nord Stream 2 verbracht werden soll, mit dem tschechischen System.

Unklar ist das weitere Schicksal der Impf­stoffbeschaffung. Ursprünglich sollte der Innen- und zu diesem Zeitpunkt auch noch übergangsweise als Außenminister fungie­rende Chef der Sozialdemokratie Hamáček an dem Tag nach Moskau reisen, an dem die Erkenntnisse zu den Explosionen ver­öffentlicht wurden. Dort sollte er über die Lieferung von russischem Sputnik‑V-Impf­stoff verhandeln. Hamáček erklärte später, die geplante Reise sei nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Aufmerksamkeit russischer Stellen von laufenden Ermitt­lungen zum Thema Vrbětice wegzuleiten. Noch Mitte April hatte Premierminister Babiš verkündet, die tschechische Regierung habe bereits 300 000 Dosen des Vak­zins sowie 150 000 weitere pro Monat be­stellt. Nun ist der Einsatz von Sputnik V in der Tschechischen Republik erst einmal fraglich geworden und man setzt auf west­liche, im Rahmen der EU-Beschaffungs­politik angekaufte Impfstoffe.

Mittelfristige Auswirkungen

Während sich das Land allein schon auf­grund seiner Lage nach 1989 nie als Front-Line-State in einer neuen geopolitischen Auseinandersetzung mit Russland gesehen hat, hat es nun drastisch gespürt, dass geo­politische Konflikte in Gestalt hybrider Risiken auch auf dem eigenen Territorium in der gefühlt sicheren Mitte Europas aus­getragen werden. Die ohnehin schon hohe Sensibilisierung für hybride Bedrohungen wird deutlich zunehmen. Wenige Tage nach Bekanntwerden der Hintergründe um die Vorfälle in dem Munitionslager wurde die vom tschechischen Verteidigungs­minis­terium schon seit längerem vorbereitete Strategie zur Abwehr hybrider Aktivitäten veröffentlicht. Anfang April ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Ein­klang mit dem EU-Rah­men das Risiko-Screening von Inves­ti­tionen ausländischer Herkunft ermöglicht. Bei der Frage des 5G-Netzes und der Politik gegen­über Huawei ist Prag zumindest de­klarativ schon länger an die USA herangerückt. Das Augenmerk wird nun besonders auf Des­informationsaktivitäten und die Cyber­sphäre gerich­tet werden. Die private Firma Seman­tic Visions berichtete über ein rasches, kam­pagnen­artiges Um­schalten ein­schlägiger Nach­richten-Websites von der bislang domi­nan­ten The­matik Covid‑19 auf die Prob­lematik um das Munitionsdepot.

Insgesamt ist in der tschechischen Politik das Lager der Russland-Pragmatiker ge­schwächt, das der Transatlantiker und der Befürworter einer normativen Außenpolitik gestärkt worden. Dieser Effekt wird auch in die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen hineinreichen. Die russlandkritische Opposition wird der Regierung Babiš vor­werfen, zu nach­lässig agiert und Präsident Zeman nachgegeben zu haben. Russlandfreundliche Grup­pierungen (unterstützt von entsprechenden Medien) wiederum werden die Linie der Regierung und der pro­westlichen Opposi­tion zu diskreditieren versuchen, um so die in der tschechischen Gesellschaft bestehenden russophilen oder EU- bzw. US-kriti­schen Wählergruppen zu mobilisieren. Eine Umfrage, die unmittelbar nach der Bekanntmachung der Ereig­nisse in Vrbětice durchgeführt wurde, ergab, dass selbst in der jetzigen Situation noch knapp 30 Pro­zent der Befragten Russ­land für keine Bedrohung halten oder nur für eine geringe. Ein Zehntel gab an, in Russ­land überhaupt keine Bedrohung zu sehen.

Sicherheits- und Russlandpolitik als Bestandteil des deutsch-tschechischen Dialogs

Deutschland sollte angesichts der tschechisch-russischen Verwerfungen in den Beziehungen zu Prag neben bilateralen und europapolitischen Themen vermehrt sicher­heitspolitische und strategische Aspekte betonen. Einige rasche Signale hat Deutsch­land bereits gesetzt: Ein direkter Austausch auf hoher politischer Ebene hat stattgefunden, also Gespräche zwischen der Bundeskanzlerin und dem tschechischen Premier­minister sowie zwischen den Außen­minis­tern; beide Länder haben sich gemeinsam für eine Erklärung der EU zu den Vorfällen in Vrbětice eingesetzt; die deutsche Ver­tretung in Moskau hat der ausgedünnten tschechischen Botschaft praktische Unter­stützung angeboten.

Sollte Deutschland bei weiteren Gegenmaßnahmen, konkret bei der Ausweisung von Botschaftspersonal, zurückhaltend agieren, wird dies zunächst keine Schatten auf das deutsch-tschechische Verhältnis wer­fen, denn in der Diplomatie und in Regie­rungskreisen, die mit Außen- und Sicherheitspolitik befasst sind, werden die bisher geübte Solidarität und die enge Kommunikation mit Deutschland wert­geschätzt. Überdies ist man sich dort dessen bewusst, dass auch viele andere Staaten aus EU und Nato (nament­lich größere) bei der Ausweisungspolitik zurückhaltend sind und dass Deutsch­land mit seinen breiteren russ­landpolitischen Interessen bei Sanktions­maßnahmen möglicherweise anders han­delt als Prag.

Dessen unge­achtet könnte in Teilen der tschechischen Medienlandschaft und des politischen Spekt­rums (insbesondere in der prowestlichen, atlantisch orientierten Op­posi­tion) der Eindruck aufkommen, Deutsch­land engagiere sich nur zöger­lich in der aktuellen tsche­chisch-russischen Krise und gene­rell in der Russlandpolitik. Das gemein­same Gespräch mit der tsche­chischen Seite über den Um­gang mit Russ­land in Nato und EU kann dazu bei­tragen, dieser Wahr­nehmung entgegen­zuwirken. Dar­über hin­aus könnte ein solcher Dialog das laufende Beschaffungs­verfahren für 210 Schützenpanzer für die tschechische Armee mittel­bar beeinflussen. Bei diesem teuersten Modernisierungs­pro­jekt der tsche­chischen Streitkräfte, über das in der zwei­ten Jahres­hälfte 2021 ent­schie­den werden soll, ist auch ein deutscher Bieter im Rennen.

Im Bereich hybrider Bedrohungen könnte der Austausch mit tschechischen Ein­rich­tungen ausgebaut werden, etwa mit dem beim dortigen Innen­ministerium angesiedel­ten Zentrum gegen Terrorismus und hyb­ride Bedrohungen oder mit der Nationalen Be­hörde für Cyber- und Informationssicher­heit. Denkbar wäre auch seine pro­minente Verankerung im deutsch-tschechischen Stra­tegischen Dialog. Thematisch könnten dabei Erfahrungen zu strategischer Kom­mu­nikation und im Umgang mit Des­infor­ma­tion besprochen oder gemeinsame Re­silienz­übungen organisiert werden (bis­lang orientiert sich beispielsweise das tsche­chi­sche Verteidigungsministerium bei hyb­ri­den Fragen an Großbritannien oder Tai­wan). Des Weiteren könnten die Außen- und Ver­tei­digungs­ressorts beider Länder ihre Bedro­hungs­analysen auf der Grundlage von EU- und Nato-Doku­menten sowie natio­naler Leit­linien strukturiert abgleichen.

Außerdem könnte der Austausch zu Energie- und Ver­sorgungssicherheit vertieft werden. Die Tschechische Republik ist ein Beispiel für eine recht früh angegangene Diversifizierungspolitik, die es dem Land ermöglicht hat, trotz weiterhin bestehender Zusam­menarbeit mit Russland seine Ver­wundbarkeit weitgehend zu reduzieren. Deutsch-tsche­chische Diskussionsformate unter Einschluss anderer Länder aus Mittel­europa könnten helfen, die aufgeladenen Debatten um Versorgungs­sicherheit, etwa im Gassektor, zu versachlichen.

Schließlich könnte mit Blick auf die über­spannenden geostrategischen Aspekte eine gemeinsame Reflexion angestrebt werden, und zwar über die Aus­richtung von Nato und EU gegenüber Russ­land, über Risiko­einschätzungen, die Rolle der USA im Um­gang mit Russland, über die Austarierung von Sanktionspolitik gegen und Koopera­tions­möglichkeiten mit Russ­land sowie über Ansätze einer verstärkten Politik gegen­über der Östlichen Partnerschaft (die die Gespräche zwischen Deutschland und der Visegrád-Gruppe konkretisiert).

Es ist nicht notwendig, mit derlei Bemühungen bis nach den Parlamentswahlen in beiden Län­dern zu warten. Vielmehr lassen sie sich auch in der jetzigen schwierigen Phase der tsche­chisch-russischen Spannungen initiieren, um so ein Stück weit Ver­trauen und Konti­nuität zu generieren.

Insgesamt sollte es Deutschland darum gehen, Solidarität mit seinem tschechischen Nachbarn zu demonstrieren, den tschechisch-russischen Konflikt einzudämmen und mit Prag weiterhin einen Partner zu haben, der eine kritische Russlandpolitik mit Dialogbereitschaft kombiniert. Die wei­tere Entwicklung des Konflikts um die Er­eig­nisse in Vrbětice wird (abgesehen vom Aus­gang der tschechischen Wahlen) eben­falls Einfluss darauf haben, ob das Land künftig einen stärker russlandkritischen Kurs ein­schlägt bzw. wie stark auch in Zukunft prag­matische Einstellungen prä­sent sein wer­den. Die im Rampenlicht der Öffentlich­keit ausgetragenen geschichtspolitischen und sonstigen Konflikte der vergangenen Jahre haben ohnedies bereits dazu geführt, dass die Tschechische Republik in puncto Russ­landpolitik und sicherheitspolitischer Positionierungen näher an die baltischen Staaten und Polen herangerückt ist.

Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018