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Serbien nach der Ermordung von Zoran Đinđić

Arbeitspapier FG 2 2003/02, 15.03.2003, 4 Seiten

1. Organisierte Kriminalität und staatlicher Sicherheitsapparat

In der Person des am 24. Januar 2003 entlassenen stellvertretenden serbischen Geheimdienstchefs Milorad Bracanovic kommen die Verbindungen zwischen der organisierten Kriminalität und dem staatlichen Sicherheitsapparat unmittelbar zum Vorschein. In den neunziger Jahren war Bracanovic Sicherheits-Chef der Sondereinheit des Staatssicherheitsdienstes (Jedinica za specijalne operacije - JSO) und somit Nummer Zwei in dieser paramilitärischen Formation, die von Milorad Ulemek Lukovic, genannt Legija (wegen seiner früheren Zugehörigkeit zur französischen Fremdenlegion), befehligt wurde. Die "JSO", wegen der Kopfbedeckung auch als Rote Barette bezeichnet, wurde am Anfang der Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien von der serbischen Staatssicherheit gegründet und kämpfte bei Sondereinsätzen in Kroatien, Bosnien, Kosovo und zuletzt in Südserbien an der Grenze zu Kosovo.

"Legija", der seine Laufbahn als Gewaltverbrecher in Belgrad begann, wird jetzt von der serbischen Regierung als Drahtzieher nicht nur für die Ermordung des Regierungs-Chefs, sondern auch für mehrere Dutzend weitere Morde sowie für erpresserische Entführungen, Drogenhandel und andere Schwerstverbrechen verantwortlich gemacht. Er gilt als Chef des etwa 200 Mitglieder zählenden sogenannten Zemun-Clans (Zemun ist eine westliche Vorstadt von Belgrad), einer kriminellen Gruppe, die weitgehend aus ehemaligen Angehörigen der JSO und anderer paramilitärischer Verbände bestehen soll.

Đindic hatte sich am Vorabend des 5. Oktober 2000, als Miloševic durch Massendemonstrationen gestürzt wurde, mit "Legija" getroffen und, wie beide später Journalisten bestätigten, einen gegenseitigen Gewaltverzicht zwischen der demonstrierenden Opposition und der "JSO" vereinbart. Obwohl das Innenministerium die mit US-militärischen Geländefahrzeugen und Waffen ausgerüstete "JSO" gegen die Demonstranten schickte, verbrüderte sich am 5. Oktober die Truppe mit der Masse. Am 14. Juni 2001 wurde "Legija", nach mehreren Gewalttaten, aus dem Dienst entlassen, doch behielte er seinen Einfluß auf die Truppe. Ende Oktober 2001 zettelte er einen Aufstand der "JSO" in Belgrad an, angeblich wegen ihrer Inanspruchnahme zur Inhaftierung von Personen, die vom Haager Tribunal gesucht werden. Im Grunde sollte die Befehlsverweigerung offensichtlich eine Warnung an die Regierung Đindic sein. Nicht nur, daß die Rebellion ohne Folgen für die Truppe blieb: sie wurde kurz danach von Đindic und dem Innenminister Dušan Mihailovic mit einem freundlichen Sonderbesuch honoriert.

Die Ermordung des Polizeigenerals Boško Buha am 10. Juni 2002 in Belgrad signalisierte jedoch, daß die Schonfrist von Sicherheitsapparat und organisierter Kriminalität vorbei war. Buha, der kurz zuvor in der Polizei auf einen unwichtigen Posten abgeschoben worden war, hatte in Zeitungsinterviews von den Versuchen der Mafia-Bosse berichtet, bestimmte Politiker in der Regierung "zu kaufen". Buhas Einlassungen hatten sowohl die Regierung unter Zugzwang gesetzt, als auch die dunklen Geschäfte der Mafia offengelegt.

Am 21. Dezember 2002 sprengte eine größere Gruppe von vermummten und mit Maschinengewehren ausgerüsteten Männern fachmännisch den gesamten Fuhrpark des Bauunternehmers Ljubiša Buha, der als Anführer des sogenannten Surcin-Clans gilt. Er ist nicht mit dem getöteten Polizeigeneral verwandt. Bei dieser Tat war die "Handschrift" der "JSO" unverkennbar, die offenbar im Interesse des Zemun-Clans eine gegnerische Kriminellenbande vernichten wollte. Buha, der sich mittlerweile im Ausland versteckt hält, bot sich der Polizei als "geschützter Zeuge" an. Er gab, auch in Zeitungsinterviews, umfangreiche Details über viele ungelöste Morde und andere Verbrechen aus den vergangenen Jahren preis, in einige von denen er selbst verwickelt war.

Offenbar war Buhas Geständnis das auslösende Moment für die Ablösung der Spitze des Geheimdienstes (Bezbednosno-informativna agencija - BIA). Der Vizechef Bracanovic wurde von Đindic zusammen mit dem Geheimdienstchef Andrija Savic entlassen, wobei letzterer (früher Leiter der Polizeiakademie) von Anfang an von der Presse nur als Vorzeigefigur geführt wurde. Seit Ende 2001, nach dem Aufstand der "JSO", war die BIA direkt dem Regierungschef und nicht mehr dem Innenminister untergeordnet. Von vielen Seiten wurde Bracanovic schon lange öffentlich als Drahtzieher früherer politischer Morde bezichtigt, ohne daß dies seinen Aufstieg bis zur Spitze der Staatssicherheit aufgehalten hätte. Dies konnte nur mit der Billigung des Premiers geschehen.

Die Entlassung von Savic habe, so erklärten nach der Ermordung Đindics zwei seiner Vertreter, Žarko Korac und Nebojša Covic, den Zemun-Clan in "Panik" versetzt, denn die Verbindungen zu den Sicherheitsorganen wurden dadurch unterbrochen. Beide Vizepremiers gaben jedoch gleichzeitig zu, daß nicht "alles ausreichend gesäubert wurde", denn "jemand aus den Sicherheitsstrukturen gab nach wie vor weiter, was abläuft und was geplant ist".

Mehrere Regierungsmitglieder waren, nach glaubwürdigen Angaben, schon seit Wochen mit dem Tod bedroht worden für den Fall, daß die Behörden die seit Monaten vorbereitete Festnahme der Führung des Zemun-Clans wirklich durchsetzt. Am 21. Febaruar 2003 entging Đindic einem ersten Attentatsversuch auf der Belgrader Stadtautobahn, als ein Mitglied des Clans mit einem LKW die Wagenkolonne des Premiers aufhalten wollte, um sie ins Visier lauernder Scharfschützen zu bringen. Obwohl der LKW-Fahrer als Mitglied der kriminellen Gruppe aus Zemun bekannt war, erstattete die Polizei gegen ihn nur eine Anzeige wegen Urkundenfälschung, so daß er vom zuständigen Gericht nach wenigen Tagen freigelassen wurde und sogleich untertauchte.

Ende Januar 2003 hatte "Legija" in einem Brief an verschiedene Zeitungen öffentlich Đindic gedroht, weil er "Krieger des serbischen Volkes" dem Haager Kriegsverbrechertribunal ausliefere, und dabei auf seine ("Legijas") Verdienste für die unblutige Wende am 5. Oktober 2000 verwiesen. Der Regierungschef erwiderte am 28. Januar vor Journalisten, daß niemand Verdienste hätte, die eine Amnestie wegen Verbrechen rechtfertigen könne. Daraufhin veröffentlichte die Zeitschrift "Identitet", die allgemein als Sprachrohr des Zemun-Clans betrachtet wird, unverhüllte Morddrohungen gegen Mitglieder der serbischen Regierung. Zudem hatte, bevor er sich am 24. Februar 2003 dem Haager Kriegsverbrechertribunal stellte, der Chef der extremistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) Vojislav Šešelj, der selbst enge Verbindungen zur Unterwelt besitzt, weitere Mordanschläge in Serbien angekündigt. Trotz allem wurde nicht bekannt, daß besondere Vorkehrungen getroffen wurden, um die Sicherheit der Regierungsmitglieder zu verbessern!