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Russlands Krise der Repräsentation

Politische Risiken vor dem großen Wahlzyklus 2021–2024

SWP-Aktuell 2019/A 53, 08.10.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A53

Forschungsgebiete

Die Zustimmungswerte des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin und der Regierungspartei Einiges Russland befinden sich auf einem historischen Tiefstand. Die Hauptstadt Moskau erlebte im Juli und August im Vorfeld der Regionalwahlen vom 8. September die größten Demonstrationen seit der Protestwelle 2011–2013. Doch die Stabilität des Regimes ist vorerst nicht in Gefahr, von einer Legitimationskrise lässt sich noch nicht sprechen. Dem Kreml steht weiterhin ein breites Spektrum an Mitteln zur Verfügung, um dem wachsenden Verlangen von Teilen der Gesellschaft nach politischer Repräsentation entgegenzuwirken. Hierzu gehören Wahlmanipulation und Formen selektiver Repression. An Deutschland gerichtete Vorwürfe, sich in Russlands innere Angelegenheiten einzumischen, sollen von hausgemachten Problemen ablenken. In den nächsten Jahren dürften sich die Spannungen verschärfen, die aus dem Gegensatz zwischen Forderungen nach Grundrechten und Mitbestimmung von unten und repressiver Reaktion von oben resultieren.

Die Kampagne zur Wahl des Moskauer Regionalparlaments entwickelte sich zur ersten großen innenpolitischen Krise in Präsident Putins vierter Amtszeit. Moskau erlebte die größten Proteste und die mas­sivste Welle koordinierter Repression gegen Aktivisten und Opposition seit Jahren. Noch Anfang Juli hatte es dafür keine Anzeichen gegeben. Am diesjährigen Einheitlichen Wahltag fanden 16 direkte Gouverneurs-, 11 Regionalparlaments- und zahlreiche Kommunalwahlen statt. Dieser Tag wurde erwartungsgemäß zu einem wichtigen Test, ob der Kreml erneut wie im Vorjahr emp­findliche Niederlagen erleiden und die lan­ge dominante Position der Regierungspartei Einiges Russland weiter erodieren würde.

Trend hält an: Schleichende Erosion von Einiges Russland

2019 setzte sich der Trend aus dem Vorjahr fort: Einiges Russland verliert an Dominanz. Zwar gewannen alle 16 vom Kreml unter­stützten Gouverneurskandidaten mit offi­ziell zwischen 56 und 89% der Stimmen. Dies gelang aber nur mittels administrati­ver Maßnahmen, mit denen die Konkur­renz schon vor dem Wahltag eingeschränkt wurde. Um nicht mit der zusehends unpo­pulären Partei Einiges Russland assoziiert zu werden, traten sechs der 16 Kreml-Kan­didaten als Unabhängige an. Am deutlich­sten wird der Abwärtstrend der Regierungspartei an den Ergebnissen der Wahlen zu den Regionalparlamenten. Im Vergleich zu 2014 verlor Einiges Russland bei der Listen­wahl im Schnitt 16% und fiel von 68 auf 52%. Dank der Direktmandate konnte sich die Partei mit Ausnahme der Region Chaba­rowsk dennoch die Mehrheit der Sitze in den Parlamenten sichern.

Die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage und das Fehlen einer politischen Vision der russischen Staatsführung schla­gen sich offenkundig auch in den Wahl­ergebnissen nieder. Laut einer Umfrage gibt seit Herbst 2017 – also schon vor der Ren­ten­reform 2018 – eine Mehrheit der Bevöl­kerung zum ersten Mal seit 2003 dem Wan­del den Vorzug vor der Stabilität. Russin­nen und Russen fordern vor allem mehr soziale Gerechtigkeit, die Bekämpfung der Kor­ruption und Wirtschaftsreformen. Weniger als ein Viertel der Bevölkerung glaubt, dass Putin in der Lage sein wird, Russlands Probleme zu lösen. Gleichzeitig sehen knapp 45% keine passable Alter­native zu ihm – ein Ergebnis der Beschrän­kung politischer Konkurrenz.

Die in dieser Deutlichkeit nie dagewesene Kombination aus dem Wunsch nach Wan­del und der wachsenden Erkenntnis, dass in absehbarer Zeit kein Politikwechsel an der Staatsspitze zu erwarten ist, sind systemische Gründe für die Stimmverluste von Einiges Russland. Erst wenn die Zustimmungswerte für Putin massiv einbrechen und die Pro­teste eine noch viel größere Dimension an­nehmen würden als bisher, könnte aus der latenten Unzufriedenheit eine gefährliche Legitimationskrise des Regimes werden.

Krise der politischen Repräsentation in Moskau

Noch Anfang Juli gaben 89% der Moskauer an, sich nicht für die Wahlen zum Stadt­parlament zu interessieren. Im Unterschied zu anderen russischen Regionen boomen in der Hauptstadt allerdings schon seit einigen Jahren lokaler Aktivismus und kommunalpolitisches Engagement. Zu den Kampagnen, die für die außerparlamentarische Op­position erfolgreich verliefen, gehörten et­wa die Bürgermeisterkandidatur von Aleksej Nawalnyj im Jahr 2013 oder die Kommunal­wahlen 2017, bei denen Oppositionelle Einzug in viele Bezirksversammlungen hiel­ten. Dadurch professionalisierte sich die Opposition, bildeten sich lokale Wähler­bindung und stabile Netzwerkstrukturen unter Aktivisten und Politikern heraus.

Evident politisch motiviert war die Wei­gerung des Bürgermeisteramts und der Wahlkommission, etliche Oppositionelle als Kandidaten zu registrieren, obwohl sie die nötige Anzahl an Unterschriften gesam­melt hatten. Dies löste im Juli und August 2019 die größte Protestwelle seit den Groß­demonstrationen gegen Wahlfälschung 2011–2013 aus. Zu Beginn richteten sich die Proteste noch gegen die Verweigerung der politischen Teilhabe. Den Höhepunkt markierte eine Kundgebung am 10. August mit etwa 60 000 Menschen, die nun vor allem auch gegen die Festnahme tausender Personen und gegen Polizeigewalt bei vor­herigen Protestaktionen und laufende Straf­gerichtsprozesse protestierten.

Ungeachtet dessen kann sich Bürgermeister Sergej Sobjanin weiterhin auf eine absolute gesetzgebende Mehrheit im Stadt­parlament stützen (25 von 45 Sitzen). Aber auch die von Nawalnyj per App propagierten Wahlempfehlungen und die Protestwahl zeigten Wirkung: Zum ersten Mal seit der Legislaturperiode 2004–2009 stellt die liberale Jabloko-Partei mit vier Sitzen eine Fraktion. Vor allem aber der Erfolg der Kommunistischen Partei (13 Sitze) verweist auf das Dilemma der nicht im Parlament vertretenen Opposition in Moskau, aber auch in Russland insgesamt: Um Einiges Russland möglichst große Verluste zuzufü­gen, sprach Nawalnyj Wahlempfehlungen auch für Kandidaten mit stalinistischen und staatssozialistischen Ansichten aus, die seinen Positionen und denen seiner Unter­stützer widersprachen. Die Protestwahl war zwar ein Erfolg, mehr Sitze und somit mehr Einfluss gewann die außerparlamentarische Opposition jedoch nicht. Die Krise der Re­präsentation wird sich folglich verschärfen: Da der Opposition die parlamentarische Mit­bestimmung verwehrt ist, bleiben ihr nur Wahlkämpfe und Straßenproteste. Auch der Kreml wird an seiner Linie festhalten und durch Wahlmanipulation und selektive Repression eine Ausweitung der politischen Repräsentation zu verhindern suchen.

Repression per Gesetz und digitale Technologien

Zu den klassischen repressiven Methoden gehört, dass der Staat rechtliche Bestimmungen instrumentalisiert, um Andersdenkende einzuschüchtern und abzuschrecken: Oppositionspolitiker werden für Ord­nungswidrigkeiten zu mehrwöchigen Haft­strafen verurteilt, zahlreichen Protestieren­den hohe Geldbußen auferlegt. Schwerer wiegen Tatbestände des Strafgesetzbuchs. Wie schon beim Bolotnaja-Prozess 2012–2014 wurden Protestierende wegen Anstif­tung zu Massenunruhen und Gewaltanwen­dung gegen Sicherheitskräfte angeklagt. Am folgenreichsten ist das Verfahren wegen Geldwäsche, das im August gegen Mitarbeiter von Aleksej Nawalnyjs »Stiftung für den Kampf gegen Korruption« eingeleitet wurde. Die Stiftung, die sich über Crowd­funding finanziert, ist nicht nur für ihre viralen Videos über Korruption in der rus­sischen Elite bekannt. Sie dient vor allem auch als Organisationsstruktur, mit deren Hilfe Nawalnyj Proteste und Wahlkämpfe organisiert. In Zukunft könnte die Stiftung als Basis für die Bildung einer Partei fungie­ren. Nach landesweiten Razzien Mitte Sep­tember steht indes zumindest die regionale Infrastruktur, wenn nicht sogar die Exis­tenz der Stiftung insgesamt auf dem Spiel.

Opposition und Aktivisten koordinieren sich und kommunizieren erfolgreich on­line. Zudem formiert sich eine digitale Gegenöffentlichkeit auf Youtube und Insta­gram. Bislang unpolitische Influencer soli­darisieren sich mit den Protesten und sprechen sich gegen staatliche Repression aus. Vertreter unterschiedlichster Berufsgruppen veröffentlichen Online-Petitionen.

Der russische Staat verfügt über ein viel­fältiges technologisches Repertoire an Kon­trollmitteln. Erstmalig wurde am 3. August in Moskau ein Internet-Shutdown doku­mentiert. Um die Kommunikation der Protestierenden zu behindern, wurde der Datenfluss im mobilen Internet stundenlang gedrosselt. Der unabhängige Sender TV Rain, der von jeder Protestaktion live berichtete, konnte zeitweise keine Schal­tun­gen durchführen. Am 27. Juli und 3. August legten heftige »Distributed-Denial-of-Service«-Attacken die Webseite von TV Rain zeitweise lahm. Auch die Live­berichterstattung durch Nawalnyjs You­tube-Kanal haben Sicherheitskräfte am 27. Juli unterbunden. Noch während der Proteste wurde die Videoüberwachung um die Komponente der Gesichtserkennung ausgebaut, die in Zukunft bei allen Massen­veranstaltungen Anwendung finden soll. Schon jetzt verfügt das Innenministerium über eine umfassende Gesichtsdatenbank. Bei Festnahmen wurden zudem häufig Mobiltelefone konfisziert, um sich Zugang zu sozialen Netzwerken und zu Messenger zu verschaffen.

Vorwurf der Einmischung aus Deutschland

Bei der Protestwelle 2011–2013 wurde vor allem den USA vorgeworfen, die russische Bevölkerung gegen das Regime aufzuwiegeln. Aus russischer Sicht verfolgte die Bun­desregierung ihre Sanktionspolitik im Ver­lauf der Ukraine-Krise unerwartet konse­quent. Daraufhin trübte sich nicht nur das Deutschlandbild bei der russischen Bevölke­rung deutlich ein. Auch von Parlament und Außenministerium wird häufiger der Vor­wurf geäußert, Deutschland mische sich in innere Angelegenheiten Russlands ein.

Im Zuge der Moskauer Protestwelle im Sommer 2019 äußerten sich das Auswärtige Amt und der Russlandkoordinator der Bun­desregierung, Dirk Wiese, besorgt über den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz und zahlreiche Festnahmen bei den Protest­aktionen. Sie verwiesen dabei auf die in der russischen Verfassung verbrieften Grund­rechte und auf Russlands Verpflichtungen nach internationalem Recht, die nicht zu den inneren Angelegenheiten souveräner Staaten zählen. Auf eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts reagierte das russi­sche Außenministerium mit dem Vorwurf, Deutschland verstoße damit gegen das Prin­zip der Nichteinmischung in innere Ange­legenheiten souveräner Staaten, wie es im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen kodifiziert ist. Das Minis­terium beschuldigt die Deutsche Welle (DW) zudem, »eindeutige Aufrufe zur massen­haften Teilnahme an unerlaubten Protesten veröffentlicht« zu haben, und bestellte aus diesem Anlass die damalige Interims-Ge­schäftsträgerin der Deutschen Botschaft ein.

Der als propagandistischer Staatsfunk eingestufte deutsche Auslandssender steht seit 2018 verstärkt unter Beobachtung des Außenministeriums. Seit Juni 2017 existiert im Föderationsrat eine »Provisorische Kom­mission für den Schutz der staatlichen Sou­veränität und das Verhindern von Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation«. Ihr im Mai 2019 veröffentlichter Jahresbericht geht vor allem auf die russische »elektorale Souveränität« ein. Die DW habe dazu aufgerufen, die Prä­sidentschaftswahlen 2018 zu behindern. Im September 2019 setzte auch die Staatsduma eine Kommission ein, die zu dem Ergebnis kam, dass die DW gegen mehrere Gesetze verstoßen habe. Der Verweis auf vermeintliche Einmischung von außen ist ein belieb­tes Mittel von schwachen Akteuren wie Par­lament und Außenministerium, sich dem Kreml gegenüber als loyal zu zeigen.

Sollten Sicherheitsbehörden die Federführung beim Vorgehen gegen die DW über­nehmen, droht ihr die Eintragung in das Register ausländischer Agenten, in dem bis­her neun amerikanische Auslandsmedien gelistet sind. Dies würde vor allem eine ex­tensivere Finanzberichterstattung an das Justizministerium nach sich ziehen. Die Staatsanwaltschaft könnte auch beim Au­ßen­ministerium erwirken, dass der DW die Akkreditierung entzogen wird.

Noch erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die DW ihre Tätigkeit in Russland voll­ständig einstellen muss. Doch zeigt die Aus­einandersetzung deutlich, wie fundamental unterschiedlich das Verständnis ist, das Deutschland und Russland vom Schutz der Grundrechte und der Rolle des Journalismus haben.

Ausblick und Empfehlungen

Präsident Putin und Einiges Russland sitzen derzeit fest im Sattel. Doch wird sich die Krise der Repräsentation in den nächsten Jahren verschärfen. Sowohl innerhalb der Elite als auch in der breiteren Bevölkerung regt sich Unmut über die repressiver wer­dende Gangart der Sicherheitsorgane gegen diejenigen, die mehr Teilhabe einfordern. Obwohl jede Kritik aus dem Ausland als Einmischung in innere Angelegenheiten Russlands zurückgewiesen wird, sollte Deutschland weiterhin konsequent die Ein­haltung von Grundrechten anmahnen. Denn auch knapp 60% der Bevölkerung sehen den Vorwurf der Einmischung von außen als unberechtigt an.

Ein vertiefter Austausch sollte vor allem mit jenen Eliten gesucht werden, die an einer Reform des russischen Staates und daran interessiert sind, dass die Ausweitung repressiver Kapazitäten begrenzt wird. Un­ter den Behörden sind dies etwa der Rech­nungshof, das Ministerium für wirtschaft­liche Entwicklung oder das Ministerium für digitale Entwicklung. Im Rahmen der deutsch-russischen Roadmap für die Zu­sammenarbeit im Hochschulwesen wären Forschungskooperationen zur Reform staat­licher Aufsichtsbehörden und zur Digitali­sierung der Staatsverwaltung denkbar. Ins­besondere dem Gerichtswesen und den Rechtsschutzorganen wird eine entscheiden­de Rolle beim Umgang mit der sich zuspit­zenden Krise der Repräsentation zukom­men. Im Vorfeld der Dumawahl 2021 und der Präsidentschaftswahl 2024 liegen ein weiterer Verfall staatlichen Handelns und die Verschärfung der Repressionen weder im russischen noch im deutschen Interesse.

Dr. Fabian Burkhardt ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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