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Russlands Dumawahl 2021

Die Kremlpartei Einiges Russland siegt im stark manipulierten Urnengang

SWP-Aktuell 2021/A 67, 14.10.2021, 4 Seiten

doi:10.18449/2021A67

Forschungsgebiete

Die russische Führung hat bei der Dumawahl vom 17. bis 19. September 2021 ihre selbst­gesteckten Ziele erreicht: Die Partei Einiges Russland verfügt weiterhin über eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament, obwohl sie in der Bevölkerung wenig Unterstützung genießt. Von der erstarkten Kommunistischen Partei der Russi­schen Föderation (KPRF) und der neu ins Parlament eingezogenen Partei Nowyje Ljudi (Neue Menschen) geht keine Bedrohung für die russische Führung aus. Damit bleibt die Duma auch in den kommenden fünf Jahren ein willfähriges Instrument des Kremls. Allerdings waren umfangreiche Wahlfälschungen notwendig, um dieses Ergebnis zu erzielen. Politische Konkurrenz und Wahlbeobachtung wurden mit alt­bekannten, aber auch mit neuen Methoden beschnitten. Besonders das elektronische Wählen macht die Wahlergebnisse leichter steuerbar und dürfte den Charakter von Wahlen in Russland nachhaltig verändern. Die voranschreitende inhaltliche Ent­wertung der Urnengänge könnte langfristig aber auch Risiken für den Kreml erzeugen, da er damit ein wichtiges politisches Frühwarnsystem verliert.

Die Kremlpartei Einiges Russland hat bei der Dumawahl ein offizielles Ergebnis von 49,8% der gezählten Stimmen erzielt. Da sie zahlreiche Direkt­mandate gewonnen hat, kontrolliert sie nun 324 der 450 Duma-Sitze und verfügt über eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit. Dabei waren die Vor­zeichen für Einiges Russland außerordent­lich schlecht. Gründe dafür waren die un­po­pulä­re Rentenreform im Jahr 2018, jahre­lange wirtschaftliche Stagnation und anhal­tend hohe Corona-Todeszahlen. Im Sommer waren die Umfragewerte der Partei bis auf 26,4% gefallen. Trotzdem verlief die Wahl ohne größere Überraschungen.

Um auch geringste Unwägbarkeiten während der Wahl auszuschließen, war der russische Staatsapparat zuvor mit kompromissloser Härte gegen oppositionelle Politi­ker und unabhängige Medien vorgegangen. Viele regimekritische Kandi­daten wurden von der Wahl aus­geschlossen oder durch Ermittlungen unter Druck gesetzt. Die russische Repressionsmaschine blieb aber auch nach der Wahl in Fahrt: Vor allem Wahlbeobachter wurden Ende September als »ausländische Agenten« gebrandmarkt.

Mit einem Gesetz, vor der Wahl im Eil­verfah­ren verabschiedet, wurde den Unter­stützern von Alexei Nawal­nys inzwischen verbotener Antikorruptions-Stiftung das passive Wahl­recht für bis zu fünf Jahre entzogen. Nawalnys größtenteils ins Aus­land geflohe­ne Mitstreiter versuchten über das Internet für die Strate­gie des »Smart Votings« zu werben. Dabei soll sich das Protest­potential in jedem Wahl­kreis auf den jeweils stärksten Oppositionskandidaten konzentrieren. Der Kreml be­kämpfte die Veröffentlichung ihrer Kandi­datenlisten nach Kräften. Um auch west­liche Inter­net­konzerne gefügig zu machen, wurde deren Mitarbeitern in Russland mit strafrecht­lichen Ermittlungen gedroht. Dar­auf beug­ten sich auch Google und Apple der Zensur.

Wichtige Teile der kremltreuen Wählerklientel wie Rentner und Angehörige von Militär und Polizei hingegen erhielten in den Wochen vor der Wahl einmalige Bonus­zahlungen. Dafür wurden aus dem Staats­haushalt rund 500 Milliarden Rubel (etwa 5,9 Milliarden Euro) bereit­gestellt, was etwa 0,5% des BIP entspricht. Prä­sident Wladimir Putin unterstützte zu­dem Einiges Russland tatkräftig im Wahl­kampf, obwohl er sich sonst eher von der unbeliebten Partei ab­grenzt. Auf deren Kon­gress vor der Wahl verkündete er die Spit­zenkandidaten für den Wahlkampf, die von den Polit-Urgesteinen Sergei Lawrow und Sergei Schoigu, Außen- und Verteidigungs­minister Russlands, an­geführt wurden.

Facelifting für Systemopposition

Zum ersten Mal seit den frühen 2000er Jahren ist in Gestalt von Nowyje Ljudi (Neue Menschen) eine neu gegründete Partei in die Duma eingezogen. Sie errang 5,3% der Stimmen und vervollständigt als fünfte Fraktion die reichlich angestaubte kremltreue sogenannte Systemopposition. Diese bestand bisher aus der KPRF (18,9%), der antiliberal-nationalistischen Liberal-Demo­kratischen Partei Russlands (7,6%) und der Partei Gerechtes Russland – Für die Wahr­heit (7,5%). Offiziell steht der russische Unternehmer Alexei Netschajew an der Spitze von Nowyje Ljudi. Tatsäch­lich dürfte die Partei aber am Reiß­brett im Kreml ent­standen sein, um Unzu­friedenheit in der Bevölkerung in die Bah­nen des kontrollierten Parteiensystems zu lenken. Im Wahl­kampf wurde Nowyje Ljudi von Putin-nahen Unternehmern und ihren Medienhäusern unterstützt. Die Partei inszeniert sich als wirt­schaftsfreundlich und modern und for­dert mehr Selbstbestimmung für die Regio­nen. Damit will sie zum einen den immer wieder aufkeimenden regionalen Patrio­tismus bedienen. Zum anderen rich­tet sich die Partei an gemäßigte urbane Protest­wähler, die auch mit Nawalny sym­pathisie­ren könnten. Das markante Türkis, das Nawalnys YouTube-Kanal prägt, wurde wohl nicht zufällig als Markenfarbe von Nowyje Ljudi ausgewählt.

Die KPRF, größte Partei der Systemopposition, tat sich im Vorfeld der Dumawahl durch relativ offene Kritik an den staat­lichen Repressionen hervor. Nachdem ihr ehemaliger Präsidentschaftskandidat Pawel Grudinin nach einer Entscheidung der Zen­tralen Wahlkommission nicht kandidieren durfte, rief die KPRF zu Protesten auf. Auch nach der Wahl orga­nisierte die Partei einige kleinere Demon­strationen gegen Wahl­fälschungen. Das wurde allerdings schnell von der Polizei unter­bunden. Die Spannungen zwischen der KPRF und der Zentralen Wahlkommission haben der Partei größere Glaub­würdigkeit verliehen, was dazu bei­trug, dass sie ihr bestes Ergebnis seit 2011 einfahren konnte. In Umfragen trenn­ten sie zuletzt nur noch sechs Prozentpunkte von Einiges Russland.

Zurzeit durchläuft die KPRF einen langsamen Generationswechsel. In ihren Reihen finden sich immer mehr jüngere Politiker, die sich zum Teil in echter Oppositionsarbeit versuchen, wie etwa Nikolai Bondarenko in Saratow, Oleg Michailow in der Repu­blik Komi und Michail Lobanow in Moskau. Nach der vollständigen Zerschlagung des politischen Netzwerks von Alexei Nawalny ist die KPRF zudem für einige Aktivisten und Protestwähler zur besten noch verfüg­baren Anlaufstelle geworden. Gerade auf lokaler und regionaler Ebene ist auch unter dem Dach der systemtreuen KPRF mancher­orts eine gewisse unabhängige politische Arbeit möglich.

Trotzdem bleibt es im russischen politischen System derzeit ausgeschlossen, dass die KPRF sich zu einer veritablen Opposi­tion entwickelt. Die Zugewinne an Unter­stützung erlauben es der Partei zwar, ihre Loyalität dem Kreml gegenüber teurer zu verkaufen. Dennoch besteht die Existenzgrundlage der KPRF nach wie vor darin, dass die politische Füh­rung sie für nützlich hält, um den Wahlen in Russland mehr Legitimität zu verleihen. Mit der Macht der Staatsmedien und der Zentralen Wahlkom­mission ließe sich der Höhenflug der Partei leicht unterbinden. Darüber ist sich auch die Parteiführung im Klaren: Als die KPRF nach der Dumawahl in Moskau für den 25. Sep­tember zu Protesten gegen Wahl­fälschungen aufrief, blieb ihr Vorsitzender Gennadi Sjuganow der De­monstration fern, um einen Termin aller Parteiführer mit Wladi­mir Putin nicht zu verpassen.

Schlecht versteckte Fälschungen

Die Dumawahl fand erstmalig an drei auf­einanderfolgenden Tagen statt, eine Praxis, die sich aus Sicht des Kremls schon im Vor­jahr beim Votum zur Verfassungsänderung bewährt hatte. Vordergründig soll die zeit­liche Ausdehnung helfen, die Corona-Infek­tionsgefahr zu verringern. Tatsächlich eröff­nete der erste Wahltag am Freitag aber vor allem die Möglichkeit, Staats­bedienstete in großer Zahl in ihrer Arbeitszeit an die Wahl­urnen zu chauffieren, was erst recht zu dichten Menschenansammlungen führte.

Während die Mobilisierung des Kern­elektorats damit für den Kreml einfacher wurde, erschwerte die Ausdehnung der Wahl auf drei Tage (und vor allem: zwei Nächte) die Wahlbeobachtung dramatisch. Die Corona-Pandemie diente auch als Vor­wand dafür, eine Wahlbeobachtung der OSZE auf 60 Personen zu limitieren, wor­auf­hin die Organisation ganz auf eine Mission verzichtete. Die 2012 eingeführte, offen im Internet zugängliche Videoüberwachung der Wahlbüros bekamen nur noch wenige offizielle Wahlbeobachter zu Gesicht. Das begründete die Wahlkommission mit der Bedrohung durch äußere Feinde.

Obwohl die Wahlfälschungen damit am Wahltag weniger sichtbar waren, meldete die Bewegung zum Schutz der Wähler­rechte »Golos« den Wahlbeobachtern über 4.500 Verstöße. Die Fälschungen zeig­ten sich auch deutlich in den statistischen Untersuchungen des russischen Physikers Sergei Schpilkin. Ausgehend von Anomalien bei Stimmverteilung und Wahlbeteiligung in den verschiedenen Wahlkreisen taxiert er den Betrug zugunsten Einiges Russland auf rund 14 Millionen Stimmen. Dieser Zuwachs lässt sich beispielsweise mit dem Einwerfen zusätzlicher Stimmzettel, dem Fälschen von Wahlprotokollen oder mit Druck auf Staatsdiener erklären. Ohne diese Stim­men hätte die Partei ein hypothe­tisches Ergebnis von 32,9% erzielt. Zudem gaben in einer unabhängigen Befragung nach der Wahl nur 38% der Wähler an, für Einiges Russ­land votiert zu haben. In einem Um­feld, in dem eine glaubwürdige Kon­kurrenz fehlt, offenbaren diese Werte den fehlenden Rückhalt des nominellen Wahl­siegers in der russischen Gesellschaft.

Wählerstimmen auf Knopfdruck

Zu den Neuerungen mit großer Tragweite gehört die Ausweitung der elektronischen Stimmabgabe (E-Voting). Russland experimentiert bereits seit 2019 bei Wahlen auf verschiedenen Ebenen mit dieser Option. In sieben Regionen, darunter auch das poli­tisch wichtige Moskau, konnten die Wähler bei der Dumawahl ihre Stimme online abgeben. Der Kreml strebt an, das E‑Voting bald auf ganz Russland auszudehnen.

In der Hauptstadt zeigten sich die Implikationen dieser zweifelhaften Innovation besonders drastisch. Die Ergebnisse der digi­talen Wahl wurden erst lange nach Aus­zäh­lung der physischen Stimmzettel bekanntgegeben. Sie machten den zum Teil großen Vorsprung oppo­sitioneller Kandidaten in acht von 15 Wahl­­kreisen zunichte und sicherten der Liste des kremltreuen Moskau­er Bürgermeisters Sergei Sobjanin einen makellosen Sieg. Nach der Wahl gelang es IT-Experten aller­dings, in der Datenbank der Wählerstimmen deutliche Hinweise auf nachträgliche Manipulationen zu finden.

Aber auch ohne das krude Umschreiben von Ergebnissen höhlt das E-Voting die Bedeutung von Wahlen in Russland weiter aus. Zudem erleichterte es die Mobilisierung des eigentlich trägen und unpolitischen Kernelektorats der Staatsbediensteten. Ihre Teilnahme an der Wahl lässt sich online einfacher gewährleisten und kon­trollieren. Ferner kann sich beim E‑Voting im Gegen­satz zur physischen Wahlkabine niemand sicher sein, dass die Privatsphäre bei der Stimmabgabe gewahrt wird, was Selbst­zensur zur Folge hat.

Überdies ermöglichte das E-Voting dem Kreml, loyale Wählergruppen auch außer­halb der russischen Landesgrenzen zu er­schließen. Das betrifft vor allem die Ukraine. Über 150.000 Bewohner der selbst­ernann­ten Volksrepubliken im Don­bas, von denen viele in den letzten zwei Jahren einen russi­schen Pass erhalten hatten, nah­men an der Duma­wahl teil. Die meisten von ihnen taten das online, während ein kleinerer Anteil mit Bussen und Zügen zur Abstimmung in die benachbarte Region Rostow gebracht wurde. Die Stimmabgabe der Donbas-Bewohner hat nicht nur die Wahl­beteiligung und das Ergebnis für Einiges Russland aufgebessert. Sie vertieft auch die politische Anbindung der Donbas-Bewoh­ner an Moskau. Das lässt die Wieder­eingliederung der Gebiete in die Ukraine, wie in den Minsker Vereinbarungen vor­gesehen, in noch weitere Ferne rücken.

Ausblick

Obwohl Einiges Russland eine Verfassungs­mehrheit erzielt hat, zeugte die Dumawahl von der geringen Unterstützung für die Partei in der Bevölkerung. Der Kreml hatte im Vorfeld der Wahl nicht versucht, über eine personelle oder strategische Erneuerung der Partei oder gar einen Umbau der gesam­ten politischen Landschaft das Legi­tima­tionsdefizit zu beheben. Vielmehr wurde erneut klar, dass die politische Füh­rung bei steigendem Druck erst recht an den bestehenden Strukturen und Personen festhält, anstatt sich auf politische Experi­mente und Neuerungen einzulassen.

Trotz der Repressionen sucht der unzufriedene Teil der russischen Bevölkerung weiterhin nach Wegen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Dabei dürfte sich der Trend der letzten Jahre hin zu mehr loka­lem und regionalem Aktivismus fortsetzen. Nach der Zerschlagung des Nawalny-Netz­werks versuchen regimekritische Russen mangels Alternativen ver­stärkt, auch die kremltreue Systemopposi­tion als politische Plattform zu nutzen. Besonders der KPRF stehen deshalb innere Spannungen bevor, wenn die Neu­zugänge die Partei in eine radikalere Rich­tung bewegen, als es der Führung recht ist.

Mit vielfältigen Einschränkungen der Wahl­beobachtung, mehrtägigem Wählen und dem E-Voting hat die russische Füh­rung gezeigt, wie sie die Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnen will. Länger­fristig könnte es sich für den Kreml aber auch als Problem entpuppen, dass die Wahlen durch seine Politik der kompromiss­losen Kontrolle immer weiter entwertet werden. Trotz der politischen Unwägbar­keiten erfüllen die Urnengänge für das heutige Regime wichtige Funktionen als Stresstest und Frühwarn­system: Sie decken Miss­stände auf, bevor sie gefährlich werden können, ermöglichen es, politische Akteure innerhalb der »Machtvertikale« zu diszi­plinieren, und demonstrieren den russischen Eliten, dass das Land noch vom rich­tigen politischen Personal geführt wird. Keimen hier künf­tig Zweifel auf, droht zu­nehmende politi­sche Instabilität in Russ­land, gerade mit Blick auf den derzeit nur auf­geschobenen Übergang von Putin zu seinem Nachfolger.

Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Leslie Schübel war Praktikantin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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