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Rückschläge für Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung in Lateinamerika

Die lokale Verankerung international gestützter Sondermechanismen tut not

SWP-Aktuell 2020/A 09, 12.02.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A09

Forschungsgebiete

Korruption und Straflosigkeit sind zwei zentrale Probleme des Rechtsstaats in Latein­amerika und damit auch von Qualität und Stabilität der Demokratie in dieser Region. Weil ihre eigenen Handlungs­möglichkeiten erschöpft waren, versuchten einige Regie­rungen, gemeinsam mit internationalen Organisationen dagegen vorzugehen. Dafür wurden Sondermechanismen eingerichtet, die außerhalb staatlicher Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, aber zugleich mit ihnen ver­schränkt daran arbeiten, Netz­werke der Korruption aufzudecken. In Guatemala, Honduras, Mexiko und Nicaragua sind solche Bemühungen zur Durchsetzung von Recht und Menschenrechten vor Kurzem abgebrochen worden, in Ecuador und El Salvador stehen vergleich­bare Ver­suche noch am Anfang. Nur wenn sie umfassend lokal eingebettet und (zivil)gesell­schaftlich verankert sind, werden sie erfolgreich sein können.

Auf den ersten Blick scheint in Lateinamerika der Rechtsstaat auf dem Vormarsch: Der Korruptionsskandal um den brasi­lia­ni­schen Baukonzern Odebrecht hat über Bra­si­lien hinaus in 14 Ländern der Region Straf­verfolgungsmaßnahmen gegen Präsi­denten und führende Politiker nach sich gezogen. Doch jen­seits dieser Fälle, die bis zu Perso­nen mit höchster politischer Ver­ant­wortung rei­chen, wird die pre­käre Situation von Rechts­staatlichkeit in der Region oft übersehen.

Dabei leidet der lateinamerikanische Sub­kontinent unter der unklaren Trennung von Recht und Politik; Justiz, politische und wirt­schaftliche Interessen sind zunehmend mit­einander verwachsen. Der Zugang der Bevöl­kerung zum Recht ist in vielen Ländern ein­ge­schränkt, das Justiz­system überlastet und wenig effizient. Die Folge: ein Ver­trauens­verlust der Bürger ange­sichts der fehlen­den Unabhängigkeit der Justiz, aber auch in An­betracht der starken korporativen Interessen­vertretung der Richter­schaft. Es gilt zu ver­hin­dern, dass sich wirtschaftliche und poli­ti­sche Interessen bei der Richterbestellung durch­setzen und die Interessen der Richter den Justizapparat als Ganzes blockieren.

Das unklare Verhältnis von Staat, Politik und Recht

Jenseits der etablierten formalistischen Rechts­kultur in Lateinamerika manifestiert sich eine zentrale Dimension mangelnder Rechtsstaatlichkeit in dem Zusammen­treffen zweier grundlegender und in Teilen gleichzeitig verlaufender Prozesse: der Verrecht­lichung der Politik, das heißt der Verschiebung politischer Entscheidungen in das Justizsystem, und der Politisierung der Justiz durch politischen Druck auf die Rechts­organe und durch die Nutzung der Justiz als politische Bühne. Dies ist nicht nur in der Debatte um die (abstrakte und / oder konkrete) Normen­kontrolle durch Verfassungs- und Oberste Gerichte ablesbar. Sowohl die Exekutive als auch die Legis­lative und gesellschaftliche Machtgruppen nehmen informell Einfluss auf richterliche Entscheidungen sowie vorgelagerte staats­anwaltliche Ermittlungen. Dass sich Teile der Justiz und der Strafverfolgungsbehörden für politische oder wirt­schaftliche Interessen instrumentalisieren lassen, ist umfassend belegt. Hinzu kommt für die Bürger ein erschwerter Zugang zur Justiz und zum Recht. Im Bereich des Strafrechts spiegelt sich das in einer hohen Straflosigkeitsquote – in über 90 Prozent der Fälle kommt es zu keiner Verurteilung.

Versuche, dies zu ändern, waren bisher nicht erfolgreich: weder Justizreformen »von oben«, die auf institutionelle Reformen und eine aktivistische Gerichts­barkeit setzten, noch zivilgesellschaftlicher Druck »von unten«, etwa durch den Ausbau außer­gerichtlicher Streitbeilegung oder friedensrichterlicher Modelle. Denn infor­melle Mecha­nismen ließen sich schnell an andere Regelungsvorgaben anpassen, die Bürger kamen so auch nicht zu ihrem Recht.

Daher sind zunehmend Projekte und Pro­gramme der Rechts­staats­förderung »von außen« aufgelegt worden, um über den regio­nalen Rechts­bestand (insbesondere die Normen und die Recht­sprechung des inter­amerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte) innerstaatlich zu wirken, nämlich durch eine Kontrolle der Kon­ven­tionsmäßigkeit. Damit ist die übernationale Rechtsprechung auch für Menschenrechtsfragen auf nationaler Ebene anzuwenden, die interamerikanische Ebene nimmt also eine expansive Rolle ein. Das stößt auf Widerstand: Im April 2019 haben etwa die Regierungschefs Argentiniens, Brasiliens, Chiles, Kolumbiens und Paraguays gemein­sam ein Schreiben an den Vorsitzenden der Inter­amerikanischen Kommission für Men­schenrechte (Inter-Ameri­can Commission on Human Rights, IACHR) verfasst und darin ihre Vorbehalte gegen eine Ein­schrän­kung der nationalen Recht­sprechung zum Ausdruck gebracht. Sie verlangten, dass die nationale Souveränität und staat­liche Ent­scheidungsspielräume gewahrt würden und dass das interamerikanische System eine rein subsidiäre Rolle spiele. Andere Staaten wie Bolivien und Ecuador haben unter ihren links gerichteten Präsi­denten einen Rückzug aus dem inter­amerika­nischen Menschenrechtssystem erwogen, Venezuela hat diesen bereits umgesetzt.

Noch stärker ist der Widerstand, wenn solche Versuche, die Rechtsstaatlichkeit zu stützen, den regionalen Rahmen über­schreiten. Schnell werden sie interpretiert als »Inter­vention« externer Akteure bei der Trans­formation des Justiz­systems. Weil diese Herangehensweise politisch so sen­si­bel ist, ist sie beim Thema Bekämpfung von Kor­rup­tion und Straflosigkeit nach wie vor selten – schließlich werden die innere Sou­ve­ränität und die institutionelle Auto­nomie berührt, die als harter Kern der Unabhängig­keit einer Nation angesehen werden.

International gestützte Sonder­mechanismen als Instrument der Rechtsstaatsförderung

Als Sondermechanismen werden all jene Formate der Beteiligung internationaler Organisationen oder Experten betrachtet, die zwischen nationalen Re­gie­rungen, zivilgesellschaftlichen Instanzen und Opferangehörigen einerseits sowie inter­natio­nalen Organisationen andererseits vereinbart werden, um Fra­gen der Rechtsstaatlichkeit und / oder Menschenrechte zu bearbeiten und zu lösen. In Lateinamerika lassen sich dabei Rechtsstaatsmissionen und Kommissionen un­abhängiger Experten unterscheiden.

Rechtsstaatsmissionen

Die Einrichtung einer Internationalen Kom­mission gegen Straflosigkeit in Gua­temala (Comisión Internacional Contra la Impuni­dad en Guatemala, CICIG) kann als Teil eines allgemeinen Trends zu inter­natio­nalen hybriden Justizsystemen ver­standen werden. Erprobt wurden diese zum Beispiel in Kambodscha, Timor-Leste oder Sierra Leone, meist im Kontext von Prozessen der Tran­sitional Justice. Die CICIG stellte eine innovative Antwort dar auf die in Guate­mala grassierende Straflosigkeit von über 97 Prozent, die nicht nur auf Mängel bei Poli­zei und Justiz zurückgeführt wird. We­sent­lich bedingt werden diese Defizite auch durch so­genannte »hidden powers«, also »ein informelles Netzwerk« mächtiger Per­so­nen, die ihre Positionen und Kontakte in der Öffentlichkeit und im Privatsektor nut­zen, um wirtschaftlich von illegalen Aktivi­täten zu profitieren und Verfolgung für von ihnen begangene Straf­taten zu vermeiden.

Während der Amtszeit von Präsident Óscar Berger (2004–2008) er­suchte Gua­te­mala im Jahr 2006 – nicht zuletzt auf Druck aus Washington – die Vereinten Nationen (VN) um Hilfe bei der Ein­richtung einer gemeinsamen gemischten Kommission zur Bekämpfung der Straf­losigkeit in Fällen von organi­sierter Kriminalität. Dieses Ersuchen war politisch und rechtlich hoch­umstritten. Die Ermordung dreier salvadorianischer Mitglieder des Zentralamerikanischen Par­laments in Guatemala im Februar 2007 unterstrich indes seine Dringlichkeit, so dass die CICIG Ende 2007 ihre Tätigkeit aufnehmen konnte. Finanziert wurde sie mit freiwilligen Beiträgen von VN-Mitglied­staa­ten wie Deutschland. Sie erhielt den Auftrag, illegale Sicherheitsstrukturen aufzudecken und abzubauen sowie die Justiz­kapazität der staatlichen Institutionen Guatemalas zu stärken, indem sie paradigmatische Ermittlungsstrategien und insti­tutionelle Refor­men förderte. Die CICIG war in ihrem Ansatz einzigartig, da es keine Präzedenzfälle gab, in denen ein souveränes Lan­d einer internationalen Ein­heit zugestimmt hatte. Im Fall der CICIG führte sie eigene Ermittlungen, wobei sie sich mit dem nach guatemal­tekischem Recht tätigen Generalstaats­anwalt abstimmte. Sie reichte Klagen ein und begleitete die jeweiligen Pro­zesse als »querellante adhesivo« (eine Art Nebenkläger). Des Weiteren überprüfte sie Bewerber für führende öffentliche Ämter daraufhin, ob sie in Korruption verwickelt waren, und beteiligte sich an der Aus­bil­dung von Polizisten und Justiz­beam­ten.

Auf diese Weise hat der guatemalte­kische Staat einen Teil seiner Attribute zur Gewährleistung von Sicherheit und Gerech­tigkeit abgetreten und eine Modalität der »geteilten Souveränität« ein­geführt. Unter der Leitung ihres dritten Chefs Iván Velásquez, kolumbianischer Staats­anwalt und Richter, nahm die CICIG bei der Untersuchung von Korruptionsskandalen eine Vorreiterrolle ein. Sie haben zum Rücktritt der Vizepräsidentin des Landes, Roxana Baldetti (9. Mai 2015), und des Präsidenten Otto Pérez Molina (2. Sep­tember 2015) geführt, nachdem ihre Im­munität vom Parlament aufgehoben worden war. Durch die Ermittlungen gegen die beiden Amtsinhaber wurde ein Netz­werk aufgedeckt, das Millionen von Dollar von der guatemaltekischen Zollbehörde abge­schöpft hatte.

Diese Ereignisse des Jahres 2015 haben eines klar gezeigt: Für die CICIG in ihrem Kampf gegen kriminelle Strukturen war die Unter­stützung durch staatliche Institutionen (Staatsanwalt­schaft, Justiz), eine mobi­li­sierte Zivilgesellschaft und internationale Partner zentral. Sobald die Interessen be­stehender Eliten angetastet wurden, kam es zu Abwehrreaktionen. In deren Folge gerie­ten die Arbeit der CICIG und die Ver­länge­rung ihres Mandats in zweijährigem Turnus zu einer Machtprobe zwischen staat­lichen Akteuren, den CICIG-Unter­stützern in der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft. Die Ausein­andersetzungen eskalierten, als Präsident Jimmy Morales (2016–2020) sein Amt antrat und gegen seine Partei wie seine Familie Ermittlungen aufgenommen wurden wegen illegaler Wahlkampffinanzierung. Der kolumbianische Chef der Kommission Iván Velásquez wurde 2017 ein erstes Mal ausgewiesen – und trotz des Widerstands des VN-General­sekretärs ist im September 2019 die Tätig­keit der CICIG beendet worden. Dieser Ab­bruch der inter­national gestützten Rechts­staatsförderung in Guatemala zeitigte auch im Nachbarland Honduras Folgen.

Dort war 2016 eine Unterstützungs­mission gegen Korruption und Straflosigkeit in Honduras (Misión de Apoyo Contra la Corrupción y la Impunidad en Honduras, MACCIH) eingesetzt worden, auf der Grund­lage einer Ver­einbarung der Regierung mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Anlass war ein Kor­ruptionsskandal, bei dem zu Lasten des Hon­duranischen Sozialversicherungsinstituts (IHSS) Gelder für den Wahlkampf der Regierungspartei Partido Nacional umgeleitet worden waren. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft im Jahr 2015 in Form sogenannter »Fackel­märsche« zwang die Regierung von Präsident Juan Orlando Hernández dazu, diese Unter­stützungsmission mit der OAS zu initiieren. Die MACCIH kooperierte mit der Sonder­staatsanwaltlichen Einheit gegen Straflosigkeit von Korruption (UFECIC), zudem sollte sie der Regierung Reformen des hondu­ra­nischen Justiz­systems vor­schlagen.

Als die MACCIH Verfahren gegen Parlamentsmitglieder wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder einleitete (»Fall Pan­dora«) und der Druck auf das Oberste Ge­richt des Landes zur Ver­urtei­lung angeklagter Amtsinhaber stieg, wurde die Arbeit der Kommission hintertrieben, mitunter sogar lahmgelegt. So muss es nicht verwundern, dass das Par­lament 2019 das Ende der Mission forderte. Die Regierung und die OAS hingegen bewerteten in einer gemein­samen Evaluierung die vierjährige Arbeit der MACCIH durchaus positiv. Am 19. Janu­ar 2020 schließlich hat Präsident Hernán­dez die Mission für beendet erklärt, da es nicht gelungen sei, zusammen mit der OAS eine neue Basis für ein anderes Übereinkommen für eine Nachfolgekommission zu finden. Da­mit sind die externen Anreize entfallen, »strukturelle Straflosigkeit« von über 90 Prozent in Honduras (Bericht der IACHR aus dem Jahr 2019) zu be­kämpfen. Korruption von Amts­trägern und schwere Menschenrechtsverletzungen bleiben un­gesühnt. Der Abbruch der MACCIH muss als Erfolg jener kriminellen Netzwerke interpretiert werden, die sich staatlicher Unterstützung oder staatlichen Einflusses zu bedienen wissen, um ihre Interessen durchzusetzen – unbehelligt von jedweder Strafverfolgung.

Kommissionen unabhängiger Experten

Eine andere Art von Sondermechanismus zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit wurde im Rahmen des interamerika­nischen Menschenrechtssystems in Mexiko und Nicaragua angewandt: In beiden Ländern wurde in Übereinkunft mit den jeweiligen Regierungen eine Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes, GIEI) tätig, um Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.

Die GIEI in Mexiko wurde durch ein Abkommen ins Leben gerufen, das am 18. November 2014 geschlossen wurde zwischen der IACHR, dem mexikanischen Staat und Angehörigen der 43 Studierenden der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, die im September 2014 ver­schwunden und später getötet worden sind. Ziel der GIEI war, die Suche nach den Verschwundenen technisch zu unterstützen, zu der Unter­suchung zur Bestrafung der Verantwort­lichen beizutragen sowie die Familien der Studen­ten zu begleiten. Es bestanden mas­sive Zweifel an der Ermittlungs­tätigkeit der mexi­kanischen Behörden. Durch ihre Mit­wirkung an der Untersuchung konnte die GIEI die von der Staatsanwaltschaft vor­gelegte Darstellung der Ereignisse hinterfragen. Die von der IACHR eingesetzte GIEI musste sich den Zugang zu den Ermittlungs- und Gerichtsakten erstreiten, konnte sich an Durchsuchungen beteiligen, be­stehende Ermittlungslinien analysieren und die Ein­leitung neuer Ermittlungen empfehlen. Es gelang ihr in zwei Berichten, die Anwendung von Folter aufzudecken, und einen Plan für die umfassende Betreuung der An­gehörigen der Opfer auszuarbeiten.

Seit April 2016 zeigte sich die mexika­nische Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto allerdings nicht mehr inter­essiert an einer Fort­setzung der Arbeit der GIEI, die daraufhin ihre Tätigkeit einstellen musste. Die Nachfolgeregierung, im Amt seit Ende 2018, hat zwar eine Wahr­heits­kommission zu diesem Fall eingesetzt; diese beschäftigt sich aber nicht mit der Frage der Straflosigkeit der Täter. Zusätzlich hat eine Sonder­einheit für Untersuchungen und Rechtsstreitigkeiten für den Fall Ayotzinapa, angesiedelt bei der Generalstaatsanwaltschaft, ihre Arbeit aufgenommen. Die IACHR hat der mexikanischen Regierung am 3. Dezember 2019 die Wiederein­setzung der GIEI vorgeschlagen, um die Anträge von Opfer­angehörigen weiter verfolgen zu können.

Die IACHR hielt es für notwendig, einen Speziellen Follow-up-Mecha­nismus für den Fall Ayotzinapa (MESA) zu schaffen. Drei Jahre lang, von 2016 bis 2018, beobachtete der MESA die Einhaltung der Schutzmaßnahmen und der Empfehlungen der GIEI. Er gab zwei Berichte mit Empfehlungen an den mexika­nischen Staat heraus, in denen er auf die weiterhin bestehenden Hindernisse bei der Untersuchung hinweist. Diese betreffen vor allem die strafrechtliche Ver­folgung der Menschenrechtsverletzungen. Die Ermittlungen sollen durch moderne Un­ter­­suchungsmethoden unterstützt werden.

Bislang konnte in Mexiko die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht abgeschlos­sen werden. Den Abbruch der Tätig­keit der GIEI kann man durchaus auch dem nachlassenden Interesse der staatlichen Behör­den an einer Klärung des Falls zu­rechnen.

In Nicaragua wurde ein ähnlicher Mechanismus aktiviert: Auf der Basis eines Abkommens zwischen dem Gene­ral­sekre­tariat der OAS, der IACHR und der nicara­guanischen Regierung wurde am 2. Juli 2018 eine GIEI eingesetzt, die die gewalt­tätigen Ereignisse untersuchen sollte, die im Rahmen der Proteste gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega zwischen dem 18. April und dem 30. Mai 2018 statt­gefunden hatten. Doch der Expertengruppe gelang es weder, freien Zu­gang zu Gefängnissen zu erhal­ten, noch Einsicht in Anklage­schriften zu bekommen oder sich als Beob­achter an Gerichtsverfahren zu beteiligen. Der Bericht der GIEI verzeichnet als die vom nicaraguanischen Regime am häufigsten begangenen Ver­brechen gegen die Mensch­lichkeit: Mord, Inhaftierung und Verfolgung von Studierenden, Journalisten und Menschenrechtsverteidigern. Er stellt den gewaltsamen Tod von 325 Menschen wäh­rend der Krise 2018 fest, ferner die Aus­weisung von 80 Studenten aus der National­universität und die Entlassung von Hun­derten Ärzten.

Im Dezember 2018 hat Ortega die Ausweisung der Mitglieder der GIEI verfügt, die am folgenden Tag das Ergebnis ihrer Ermitt­lungen vorlegen wollten. Damit ist auch der Spezielle Monitoring-Mechanismus für Nicaragua (MESENI) abgebrochen worden. Er bestand aus einem technischen Team, das angesichts andauernder Proteste eigent­lich »so lange bleiben sollte, wie es die Situation erfordert«. Die nicaraguanische Regierung monierte, der Bericht der GIEI sei dazu angetan, dass das Land auf der Grund­lage »falscher Informationen« mit inter­natio­nalen Sanktionen belegt würde.

Neue Formate von Sondermechanismen

Gegenwärtig sind in Lateinamerika weitere Sondermechanismen zur Förderung des Kampfes gegen Korruption und Straflosigkeit in der Diskussion, mit denen die jewei­ligen Regierungen einen Versuch unternehmen, die Strafverfolgung zu intensi­vieren. Im Juli 2019 wurde in Ecuador die Kom­mission internationaler Experten gegen Korruption in Ecuador (Comisión de Expertos Internacionales Contra la Corrup­ción en Ecuador, CEICCE) berufen. Indem er ein Dekret zur Schaffung der Kommission unterzeichnete, hat Präsident Lenín Moreno ein Wahlversprechen aus dem Jahr 2017 umgesetzt. Die Kommission hat für ihre Tätigkeit ein Statut aufgestellt, das die Re­gie­rung jedoch bislang nicht in Kraft gesetzt hat. Obwohl die Regierung nach eigenen An­gaben bereits eine Million US-Dollar als Betriebskapital der Kommission bereit­gestellt hat, scheinen sich die Verhand­lungen mit dem VN-System, hier vertreten durch das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), weiter hinzuziehen. Also wurde beschlossen, dass die Arbeitsaufnahme der CEICCE bis Mai 2020 aufgeschoben wird.

In El Salvador haben am 6. September 2019 der OAS-Generalsekretär Luis Almagro und El Salvadors Präsident Nayib Bukele die Ein­richtung der Internationalen Kommis­sion gegen Straflosigkeit in El Salvador (Comisión Internacional Con­tra la Impuni­dad en El Salvador, CICIES) vereinbart. Zunächst soll sie zwei Fälle untersuchen: Der erste steht in Verbindung mit der angeblichen Korruption im Zusammenhang mit dem Bau des als El Chaparral bekannten Wasserkraftwerks während der Amts­zeit des ehemaligen Präsidenten Mauricio Funes (2009–2014), der sich derzeit auf der Flucht vor der Justiz in Nicaragua aufhält. Der zweite Fall befasst sich mit der poten­ziellen Veruntreuung staatlicher Gelder während des Baus von SITRAMSS, einem öffentlichen Busdienst in der Hauptstadt San Salvador.

Auch mit der Kommission in El Salvador wird ein Wahlversprechen des seit Juni 2019 amtierenden Präsidenten Bukele ein­gelöst. Aus diesem Grund sah sich OAS-General­sekretär Luis Almagro genötigt zu erklären: »CICIES arbeitet nach dem Prinzip der absoluten Unabhängigkeit, wir sind kein politischer Akteur in El Sal­vador, und wir bekämpfen die Korruption nicht mit Worten, sondern mit technischen Fähig­keiten und professioneller Einstellung, die zu greifbaren Ergebnissen füh­ren.« Bis zum 20. Februar 2020 soll ein rechtlicher Rahmen für die Tätigkeit der CICIES aus­gearbeitet werden, den das Parlament billigen muss. In Anbetracht der sich ver­schärfenden Auseinandersetzung zwischen Exekutive und Legislative ist dies allerdings ungewiss.

Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Sondermechanismen

Trotz des Abbruchs der bisher operierenden Sondermechanismen ist dieser Tatbestand nicht notwendigerweise als Zeichen ihrer Unwirksamkeit zu interpretieren. Blickt man in die Statistik der erreichten Verurtei­lungen, wie sie etwa aus dem Abschluss­bericht der CICIG in Guatemala hervor­gehen, so ist die Bilanz beeindruckend: 400 Ver­urteilungen; hinzu kommen die Auf­deckung von 60 kriminellen Netzwerken, die Ermitt­lungen in über 100 Fällen sowie 34 Gesetzes­änderungen. Im Fall der MACCIH da­gegen waren die Strategien von Parlament und Gerichten, die eigene Immunität gegenüber den Initiativen der Mission zu sichern, erfolg­reich. Es gelang, eine größere Zahl mög­licher Verurteilungen hinauszuzögern und durch Gesetzesinitiativen für Immunität der Parlamentarier zu verwässern. Allein man muss bedenken: Die Ziele der Sonder­mechanismen beziehen sich genauso auf den struk­turellen Wandel in den Rechts- und Justizsystemen der jeweiligen Länder – und beide Systeme konnten sie durch ent­sprechende Gesetzesinitiativen und Stellung­nahmen voranbringen. Die mittelfristige Wirksamkeit der Sondermechanismen, insbesondere innerhalb der Staatsanwalt­schaften, wird sich indes erst in den kommenden Jahren prüfen lassen.

Als internationale Mechanismen, deren Mandate bei den VN, der OAS oder der IACHR angesiedelt sind, liegt das poli­tische Gewicht von Rechtsstaatsmissionen in der internationalen Sichtbarkeit und in der Kompetenz, die sie mobilisieren können. Zentral ist jeweils die Aushandlung des Mandats, damit die Unabhängigkeit der Sondermechanismen gewahrt bleibt und diese möglichst geringer politischer Ein­flussnahme im Land unterliegen. Dass diese Mechanismen auf eine gemeinsame Initia­tive nationaler Regierungen und internatio­naler Organisationen angewiesen sind, ist sowohl Vorteil als auch Nachteil: Vorteil, insofern ihnen der Zugang zu und die Ko­ope­ration mit den nationalen Strafverfolgungs­behörden eröffnet wird, mitunter sogar der Zugang zu Gerich­ten und durch eigene Gesetzesinitiativen zu Entscheidungs­prozessen; damit können sie Veränderungen in den natio­nalen Ermittlungsbehörden, Staats­anwaltschaften und Gerichten in Gang setzen. Nachteilig wirkt sich dies aus, wenn die angestrengten Ermittlun­gen bis in die Machtelite vordringen oder deren Inter­essen berührt werden. Dann schwinden die konsensualen Grundlagen des Handelns der Kommissionen schnell, es kommt zu Ab­wehr­reaktionen, die die Exis­tenz der Sonder­mechanismen selbst in Frage stellen. Das gilt umso mehr, wenn die Beru­fung der Kommissionen wahltaktischem Kalkül folgt wie in Ecuador und El Salvador. Blickt man auf diese beiden Länder, entsteht der Ein­druck, die neuen Regierungen wollen die politisch motivierte Strafverfolgung ihrer Amtsvorgän­ger international »bemänteln«.

Der internationale Faktor ist zudem be­deutsam, um für den Fall, dass die Arbeit der Kom­missionen behindert wird, die poli­tischen Kosten möglichst hoch zu halten. Das gelingt aber nur, wenn die Unterstützung aus der internationalen Gemeinschaft bestehen bleibt. Ein Beispiel: Als die USA ihr Engagement in der Unterstützergruppe für die CICIG reduzierten, war dies ihrer weiteren Arbeit abträglich. Die jeweiligen Mandate der Sondermechanismen werden mit den nationalen Regie­rungen ausge­handelt und bedürfen mit­unter auch der Zustimmung der Parlamente. Dadurch wird die Verlängerung des Mandats zu einer schwierigen politischen Operation, wenn Regierungen und Parlaments­mehrheiten durch Wahlen wechseln. Das Mandat der CICIG in Guatemala war recht weit gefasst, sie konnte frei entscheiden, welche Fälle sie untersuchen wollte, wohin­gegen ihr hon­du­ranisches Pendant MACCIH diesbezüglich nur ein eingeschränktes Man­dat besaß. Die CICIG wurde 2006 vom guatemaltekischen Staat eingeladen und erhielt fünfmal ein Verlängerungsmandat, bis das letzte im September 2019 ausgelaufen ist.

Wesentlich bei der Arbeit der CICIG war dar­über hinaus die Mobilisierung der Zivil­gesellschaft, die sich geradezu zu einem Partner der Kommission entwickelte und deren Arbeit unterstützte – selbst gegen die jeweilige Regierung. Diese breite gesell­schaftliche Verankerung, die über eine gene­relle Verurteilung von Kor­rup­tion hinausgehen muss, ist freilich abhängig von der Mobilisierungsfähigkeit der jewei­ligen Gesell­schaft. Nicht umsonst haben Son­dermecha­nismen wie die MACCIH so­genannte »obser­vatorios sociales« angeregt. Diese betreiben Wissensmanagement, beispielsweise indem Lernerfahrungen aufgezeich­net werden, begleiten die Sondermechanismen strate­gisch und bauen bei zivil­gesellschaftlichen Orga­nisationen Netz­werke auf. Auf diese Weise sollen die Wirkun­gen der Sonder­mechanismen auch sozial abgesichert und auf eine breite Basis gestellt werden.

Ein wei­teres Element für ein erfolgreiches Wirken der Kommissionen ist die Wahrung ihrer Unabhängigkeit. Gewährleistet wird diese durch das politische und finanzielle Engagement ihrer Unterstützer, letzteres in Form freiwilliger Beiträge ein­zelner Geber. Dass dabei durchaus erheb­liche Summen gestemmt werden müssen, hat die finanzielle Ausstattung der mittel­fristig angelegten Missionen CICIG mit ca. 15 Mil­lionen US-Dollar / Jahr und MACCIH mit 9 Millionen US-Dollar / Jahr gezeigt. Kritisch ist die Rolle gro­ßer Geber und deren politisches Gewicht, etwa im Fall der CICIG die Rolle der USA in Zentralamerika. Mit dem An­tritt der Regie­rung Trump ist diese Unter­stützung zurückgegangen. In Hon­duras konnten die USA eine Verlängerung des Mandats der MACCIH selbst bei einem politisch ge­schwächten Präsidenten wie Juan Orlando Hernández nicht bewirken.

Allerdings trifft das Instrument der Sonder­mechanismen auch auf Widerstand: Generelle Ablehnung artikuliert sich in Kreisen, die sie als Beschädigung der natio­nalen Souveränität und als Ausgeliefert­sein an internationale Organisationen betrachten. Obwohl das Muster »geteilter Souveränität« gerade die Aneignung des Handelns im nationalen Kontext erleichtern sollte, ist die Wahrnehmung der Kom­missionen als »Intervention in innere An­gelegenheiten« durch lokale Machtstrukturen immer mehr zu einem Hindernis gewor­den. Trotz nach­weisbarer Erfolge von CICIG und MACCIH, was den Aufbau natio­naler Kapazitäten durch Beratung und Beglei­tung anbetrifft, haben sich die Strukturen in den Behörden als sehr widerständig erwiesen, wenn es um externe Einflussnahme bei der Kor­ruptions­bekämpfung geht. Dies schließt nicht aus, dass spektakuläre Fälle bis in die höchsten Ränge des Staates hinein er­mittelt werden konnten – die Verurtei­lungen lassen indes noch immer auf sich warten. Fazit: Die Anklagebehörden konnten institutionell nachhaltig gestärkt werden, während das auf die Gerichtsinstanzen weni­ger zutrifft.

Perspektiven der Rechtsstaatsförderung

Mit ihrer Ressortgemeinsamen Strategie zur Rechtsstaatsförderung vom Juli 2019 hat die Bundesregierung die Rolle des Rechts und der Justiz bei Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung an­erkannt. Damit hat sie die Vorgaben von Ziel 16 der VN-Agenda 2030 aufgenommen, das gleich­berechtigten Zugang zu Recht sowie den Aufbau effektiver, rechenschafts­pflichtiger und inklusiver Institutionen in den Vor­dergrund rückt. In der Ver­gangen­heit hat Deutschland das innovative Poten­tial der international gestützten Sonder­mechanismen (Rechtsstaatsmissionen und Expertenkommissionen) finanziell geför­dert, ferner durch die Entsendung von Fach­kräften und durch politische Begleitung.

Die bis­he­rigen Erfahrungen mit den Sondermechanismen unterstreichen die Bedeutung der jeweiligen kulturellen, poli­tischen und institutionellen Kontexte, die für eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele maßgeblich sind: Als erfolgskritisch hat sich zum einen die Unterstützung durch die Zivil­gesellschaft herausgestellt. Trotz der Ausrichtung auf staatliche Strukturen soll­ten ihr von Beginn an Beteiligungsmöglichkeiten ein­geräumt werden durch Ein­gaben, Mechanismen der Rechenschafts­pflicht sowie zum Zweck des Erwartungsmanagements. Zum anderen haben die Erfah­rungen der CICIG und der Expertengruppen (GIEIs) gezeigt, dass die Rolle der Medien für die Akzeptanz, aber auch die Durchsetzungs­fähigkeit international gestützter Missionen ausschlaggebend ist.

Für die Strategien deutscher Rechtsstaats­förderung stellen die Rechtsstaatsmissionen und Expertenkommissionen weiter­hin einen sinnvollen Baustein dar, auch wenn er sehr schwierig zu handhaben ist. Diese Mechanismen müssen in­tensiv durch die Diplo­ma­tie begleitet werden, auf der Grund­lage enger Zusammenarbeit ver­schie­dener Regierungen. Es gilt genau auszutarieren, wie tief die Mechanismen in natio­nale Ermitt­lungs- und Entscheidungsprozesse ein­grei­fen, um souveränitätsschonend verfahren zu können. Rein technische Rechtsstaats­reformen ver­nachlässigen Fragen der prak­tischen Macht­ausübung und bleiben daher erfolglos. Die Bundes­regierung sollte ihre Rechts­staats­program­me durch rigide Kon­text- und Inter­essen­analysen politisch einbetten und mit diplo­matischem Druck flankieren. Außer­dem sollte sie ihre loka­len Partner diversi­fi­zie­ren, um dem ein­seitigen Miss­brauch ihrer Programme vor­zubeugen. Mit schnellen Ergebnissen sollte man dennoch nicht rech­nen; nicht zuletzt sind die Wirkungsketten so lang, dass kein unmit­tel­barer Impact erwartet werden kann.

Wichtig ist, dass lokal vari­ierende Rechts­staatsbegriffe, schwache staatliche Strukturen und die enge Ver­flech­tung wirt­schaft­licher und politischer Interessen beachtet werden. Überdies müssen die Sonder­mechanismen mittelfristig und unabhängig angelegt sein, wenn sie hinreichende Durch­schlagskraft entwickeln sollen. Ohne Ein­passung in lokale Kontexte, Rechtstraditionen und institutionelle For­mate sowie genaue Beobachtung der jewei­ligen Macht­relationen wird es kaum mög­lich sein, erfolgreich vorzugehen gegen korrupte Seil­schaften und ihre Strategien, Strafverfolgung zu vermeiden, wie auch gegen die Verletzung von Menschenrechten.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364