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Multilateralismus

Varianten, Möglichkeiten, Grenzen, Erfolgsbedingungen

SWP-Aktuell 2020/A 11, 14.02.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A11

Multilateralismus erscheint angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der Weltpolitik und ihrer strukturellen Gegebenheiten (nationalstaatliche Souveränität, Machtdiffusion) als eine geradezu unerlässliche Form der internationalen Diplomatie. Dennoch ist er (scheinbar) umstritten: So steht er gegenwärtig unter Beschuss ins­besondere des Weißen Hauses und des State Departments, während sich andererseits sowohl Chinas Staatspräsident Xi Jinping als auch sein russischer Amtskollege Wla­dimir Putin als Befürworter und Verteidiger des Multilateralismus geben. Bei dem Streit geht es allerdings nicht um Multilateralismus als diplomatische Verfahrens­weise, sondern im Kern um die Frage, welche Prinzipien, Werte und Organisationen die internationale Ordnung bestimmen und damit die internationale Politik prägen sollen. Zugleich werden inhärente Schwierigkeiten und Grenzen des Multilateralismus oft unter-, seine Möglichkeiten überschätzt. Um Multilateralismus möglichst wirksam zu betreiben, bedarf es darum einer realistischen Bewertung seiner Voraus­setzungen und des klugen Umgangs mit den Eigenheiten multilateraler Politik.

»Multilateralismus« hat für die deutsche Außenpolitik axiomatische Bedeutung. Das gilt ähnlich auch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Ge­meinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union (Art. 21 EU‑Vertrag). Ganz in diesem Sinne hob das Auswärtige Amt im September 2019 (zu­sammen mit dem französischen Außen­ministerium) die »Allianz für den Multi­late­ralismus« aus der Taufe. Aber was ist ge­meint, wenn »der Einsatz für den Multi­late­ralismus« auf der Homepage des Aus­wärti­gen Amtes als eine der »Leitplanken der deutschen Außenpolitik« bezeichnet wird?

»Multilateralismus«: Eine Begriffsklärung

Auch außerhalb der EU bekennen sich Regierungschefs zum Multilateralismus, etwa Chinas Staatspräsident Xi Jinping, sein russischer Amtskollege Wladimir Putin oder der indische Staatspräsident Narendra Modi. Meinen sie alle dasselbe?

Zunächst bedeutet Multilateralismus schlicht das Zusammenwirken von drei oder mehr Staaten (oder anderen Akteuren) in der internationalen Politik. Diese Bedeu­tung des Begriffs ist unumstritten; ihr zu­folge steht »multilateraler« Außen- und Sicherheitspolitik bilaterales oder unilatera­les Handeln gegenüber. In dieser ersten Bedeutung ist Multilateralismus (»Multi­lateralismus I«) demnach eine rein formale Kategorie: Es geht bei multilateraler Politik um das »Wie«, nicht um die Inhalte und Ziele der Politik. Kurzum: Nach diesem Ver­ständnis ist Multilateralismus eine diplo­matische Vorgehensweise, um bestimmte, nicht näher definierte Ziele zu erreichen.

Die deutsche Außenpolitik hat ein anderes, anspruchsvolleres Verständnis von Multilateralismus (»Multilateralismus II«). Es verknüpft internationale Diplomatie von mehr als zwei Akteuren mit dem Handeln im Rahmen internationaler Organisationen, das ausgerichtet ist an denjenigen Prinzipien, Normen und Regelwerken, die diesen zugrunde liegen (etwa die Charta der Ver­einten Nationen). In diesem Verständnis steht multilaterale Außenpolitik also nicht nur für eine diplomatische Vorgehensweise, sondern für bestimmte Inhalte, Ziele und Methoden der Außenpolitik – und für eine ihr zugrundeliegende Werteordnung.

Multilateralismus bedeutet dann außenpolitisches Handeln im Rahmen eines Sys­tems von Ideen darüber, was Diplomatie anstreben und mit welchen Mitteln sie ihre Ziele verfolgen sollte. Gelegentlich ist da­bei auch vom »multilateralen System« die Rede, das es zu bewahren gelte (so beispiels­weise im Weißbuch des norwegischen Außenministeriums zum Multilateralismus). Gemeint ist damit die liberale, west­lich geprägte internationale Ordnung von 1945 in ihrer Neuauflage von 1990.

»Multilateralismus II« bezieht sich demnach allgemein auf eine Außen- und Sicher­heitspolitik bzw. auf Formen internatio­naler Diplomatie, die sich darum bemühen, eine bestimmte, normativ fundierte inter­nationale Ordnung aufzubauen bzw. fort­zuschreiben und fortzuentwickeln. Dabei kann es sich um die gegenwärtig zerfallende liberale internationale Ordnung oder eine andere Ordnung auf der Grundlage einer anderen Ideologie handeln, die multilateral, also mit anderen zusammen, voran­getrieben wird.

Es ist diese Definition, die heute in der internationalen Politik vorzuherrschen scheint. In dieser Bedeutung transportiert der Begriff »Multilateralismus« Vorstellungen über die Werte, Ziele und die angemessenen Mittel der Außenpolitik, über eine als erstrebenswert erachtete internationale Ordnung und eine an ihr orientierte Ord­nungspolitik, die allerdings in der Regel nicht explizit gemacht werden. Es geht folg­lich bei Multilateralismus in diesem Sinne nicht mehr in erster Linie darum, mit ande­ren zusammen zu handeln, sondern um die Verwirklichung bestimmter Ziele und Inter­essen, die eng mit spezifischen Ordnungsvorstellungen verknüpft sind. Allerdings sagt diese Verwendung des Begriffs Multi­lateralismus a priori nichts darüber aus, welche Prinzipien, Werte, Normen, Regeln, Organisationen und Verfahrensweisen zum Tra­gen kommen (sollten). Wenn der Multi­lateralismus zum Prinzip erhoben bzw. (genauer formuliert) mit bestimmten Prin­zipien und Werten verknüpft wird, haben wir es mit mehreren, möglicherweise sehr unterschiedlichen Multilateralismen zu tun. Das gilt jedenfalls so lange, wie sich die Auf­fassungen wichtiger Akteure von den ideo­logischen und normativen Grundlagen der internationalen Ordnung voneinander un­terscheiden – wie das derzeit der Fall ist.

Dass es in der Weltpolitik heute keinen breit geteilten Konsens über die Prinzipien und Normen der internationalen Ordnung gibt, wird bei der dritten Lesart des Begriffs Multilateralismus (»Multilateralismus III«) ausgeblendet. Hier steht »Multilateralismus« für die »richtigen« Antworten auf die gegenwärtigen Probleme der Weltpolitik und somit für effektives Weltregieren. Die erste Sicherheitsstrategie der Europäischen Union von 2003 hat dieses Verständnis mit dem darin formulierten Leitbegriff des »ef­fektiven Multilateralismus« präzise auf den Punkt gebracht; nicht selten allerdings fin­det man diese Vorstellung auch schon mit dem Wort »Multilateralismus« verbunden.

Steht »Multilateralismus II« für – unterschiedliche und umstrittene – ordnungspolitische Vorstellungen zur Weltpolitik, ist »Multilateralismus III« Ausdruck des Prin­zips Hoffnung. Um diese Hoffnung zu er­füllen und das Potenzial eines effektiven Multi­lateralismus auszuschöpfen, müssten zwei Arten von Hürden überwunden wer­den. Die ersten betreffen unterschiedliche Vorstellungen von den konkreten Inhalten und den normativen Grundlagen multilateraler Diplomatie: Worum soll es jeweils gehen, welche Ziele sollen erreicht, welche Interessen und Werte zur Geltung gebracht werden – und welche Ordnungsvorstellun­gen werden damit explizit oder implizit befördert? Die zweite Art von Hürden auf dem Weg zu effektivem Multilateralismus betrifft die organisatorische Dimension der Politik. Selbst dort, wo es breite Übereinstimmung über die Prinzipien, Werte und Ziele gibt, sind damit zwar notwendige, aber noch keine hinreichenden Voraussetzungen für effektiven Multilateralismus gegeben. Die multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen des Pariser Abkommens zur Klimapolitik zeigt das: Sie beruht auf ge­meinsamen Prinzipien, Normen und Ver­fahren. Dennoch bietet die multilaterale Klimapolitik bislang noch keine Gewähr dafür, dass es gelingt, die Erwärmung der Erdatmosphäre im angestrebten Umfang zu verlangsamen. Hier werden spezifische Pro­bleme multilateralen Vorgehens und dessen Grenzen sichtbar.

Warum braucht es »multilaterale« Außenpolitik?

Wer für Multilateralismus argumentiert, verweist generell (also für alle drei Bedeu­tungen des Begriffs) auf drei unterstellte Sachverhalte: auf die Dimensionen der anstehenden Herausforderungen, auf die Realitäten der Machtverteilung in den inter­nationalen Beziehungen und auf die poten­ziell enormen Gestaltungschancen koope­rativer Strategien.

Dimensionen der anstehenden Herausforderungen: Etliche globale Herausforderungen, mit denen sich die internationale Politik gegenwärtig auseinanderzusetzen hat, haben möglicherweise existenzielle Bedeu­tung für die Zukunft der Menschheit – vom Klimawandel über die vielfältigen Zer­stö­run­gen in unserer Ökosphäre und die Chan­cen und Risiken neuer Technologien bis hin zur Gefahr eines Atomkrieges; zugleich sind sie nach Einschätzung der jeweiligen Expertengemeinschaften schwer zu bewälti­gen und stellen deshalb außerordentlich hohe Anforderungen an die Leistungsfähig­keit der internationalen Politik: Oft erschei­nen entscheidende Fortschritte nur mög­lich, wenn viele Akteure zusammenwirken (Staaten, aber auch nichtstaatliche Akteure wie internationale Organisationen, zivil­gesellschaftliche Akteure oder Unternehmen) – die Machtfülle selbst der größten Mächte (wie der USA oder der Volksrepu­blik China) reicht dafür allein nicht aus.

Diffuse Machtverteilung und das Prinzip der Souveränität: Die Realitäten der internationalen Politik werden nach wie vor be­stimmt durch die Abwesenheit von Hier­archie und eine breite Streuung von Macht. Dies liegt zum einen an allgemein akzep­tierten Prinzipien der gegenwärtigen Welt­ordnung, insbesondere den Prinzipien der Territorialität und der Souveränität von Nationalstaaten, zum anderen an der gro­ßen Zahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, die Einfluss auf den Gang der Weltpolitik haben. So nähert sich die Zahl der Mitglieder der Vereinten Nationen in­zwischen der Marke von 200 staatlichen Ein­heiten; hinzu kommt ein geradezu explosiv wachsendes Universum staatlicher wie nichtstaatlicher internationaler Orga­nisationen, zivilgesellschaftlicher Akteure und transnationaler Unternehmen. Nicht einmal die größten Staaten verfügen zur Bewältigung anstehender globaler Herausforderungen unter diesen Bedingungen über jene Macht­fülle im Weltmaßstab, wie sie der Nationalstaat innerhalb seiner terri­torialen Grenzen aufgrund der Autorität und Legitimität seiner Regierung ideal­typisch besitzt.

Gestaltungspotenziale des Multilateralismus: Allerdings wird – drittens – unterstellt, dass sich bei hinreichend breiter internatio­naler Zusammenarbeit Gestaltungsmöglich­keiten im Weltmaßstab entfalten ließen, die durchaus jenen der Innenpolitik des Nationalstaats analog wären: Darauf hebt auch der Begriff der »global governance« ab, der auf dieser Analogie beruht: Regieren ist, so die Annahme, auch jenseits des National­staates möglich und nötig, bis hin zum Weltregieren. Wissenschaft und Technik sowie die organisatorischen Ressourcen staatlicher und gesellschaftlicher Akteure können und sollen die erforderlichen Pro­blemlösungspotenziale liefern. Diese Poten­ziale basieren freilich vor allem auf den Problemlösungskapazitäten der beteiligten Natio­nalstaaten. In der Praxis erweist sich allerdings, dass das Gewaltmonopol des Staates und seine (idealtypisch) umfassenden Möglichkeiten, innerhalb der eigenen Grenzen politisch zu gestalten, häufig weit­aus weniger umfassend und durchschlagend sind, als dies unterstellt wird. Diese empirischen Defizite lassen sich zwar durch neue Formen des Zusammenwirkens staat­licher mit nichtstaatlichen Akteuren und internationalen Organisationen verringern. Insgesamt aber erscheint die Annahme, Multilateralismus verfüge über große Pro­blemlösungspotenziale, keineswegs als gesichert. Bestenfalls lässt sich sagen, dass der Multilateralismus die Gestaltungs­potenziale effektiven Weltregierens unter günstigen Voraussetzungen zumindest teilweise realisieren kann.

Multilaterale Diplomatie: Vorzüge und Probleme

Die Stärken und Schwächen, die multilaterale Diplomatie beim Umgang mit globalen Herausforderungen aufweist, scheinen auf der Hand zu liegen. Ihre Stärke: Multilaterale Diplomatie bietet nicht nur bessere Chancen, komplexe Aufgaben zu bewältigen, sie vermag auch die erzielten Ergeb­nisse dadurch besser zu legitimieren und damit tendenziell nachhaltiger zu machen, dass sie aus gemeinsamen Bemühungen hervorgehen. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die Beteiligung als repräsentativ angesehen wird, also alle wichtigen Inter­essen und Positionen vertreten waren.

Es gilt also: »Gemeinsam sind wir stark«. Aber: Stärke kann sich als Beharrungs­vermögen zeigen, aber auch als Beweglichkeit, Anpassungs- und Durchsetzungsfähigkeit. Welche Form von Stärke gefragt ist, ergibt sich aus dem Kontext. Multilaterale Verhandlungen tendieren dazu, ihre Agenda auszuweiten, um die unterschiedlichen Ziele und Interessen der Beteiligten besser berücksichtigen zu können. Dies erschwert klare Prioritätensetzungen. Multilateralismus ist langwieriger und aufwändiger als bilaterale Vereinbarungen oder ein uni­laterales Oktroi. Die Ergebnisse multilateraler Vereinbarungen sind zwar in der Regel umfangreich und gewichtig, aber möglicher­weise wenig effektiv, weil sie durch Kom­promisse und von kleinsten gemeinsamen Nennern geprägt sind. Zwischen Legitimität und Effektivität besteht grundsätzlich ein umgekehrt proportionaler Zusammenhang, der in der Regel trade-offs erfordert: Mehr Legitimität muss möglicherweise erkauft werden mit Abstrichen bei der Effektivität, mehr Effektivität mit Abstrichen bei der Legitimität. Das gilt ähnlich auch für die zeitliche Dimension: Verhandlungsergebnisse, die eine breit angelegte multilaterale Beteiligung reflektieren, brauchen zwar länger, sie werden vermutlich aber auch länger Bestand haben und somit nachhaltiger sein. Umgekehrt lassen sich drängende Probleme, die rasches Handeln erfordern, besser durch einige wenige Akteure an­gehen, die bereit und in der Lage sind, vor­anzupreschen. Multilaterale Diplomatie ist unerlässlich, wenn grundlegende Fragen der internationalen Ordnungspolitik zu regeln sind. Bei akuten Krisen und in spe­zifischen Problemzusammenhängen dagegen fallen die Nachteile des Multilateralismus stärker ins Gewicht.

Noch schwerwiegender sind die bekannten grundlegenden Probleme, die der Logik kollektiven Handelns anhaften und die beim Multilateralismus zum Tragen kom­men. Dazu gehören Situationen von der Struktur des Gefangenen-Dilemmas, in dem sich die für alle Beteiligten beste Lösung nicht erreichen lässt, weil dafür die Ver­trauensbasis fehlt. Dazu gehört auch das Pro­blem der Trittbrettfahrer, dessen ab­geschwächte Variante die des halbherzigen Engagements ist: Weil andere sich bereits um das Problem kümmern, können die eigenen Anstrengungen wenn schon nicht eingestellt (dies wäre dann echtes Trittbrettfahren), so doch gedrosselt werden. Im schlimmsten Fall kann der Multilateralismus somit Illusionen nähren – etwa die Illusion, die Welt käme bei der militärischen Abrüstung voran, weil sich multi­nationale Verhandlungen mit ihr beschäftigen. Teilweise ist das bereits seit Jahrzehnten der Fall, wie bei der Genfer Abrüstungs­konferenz, die allerdings seit über zwanzig Jahren keine signifikanten Ergebnisse mehr vorzuweisen hat.

Die Umsetzung internationaler Verein­barungen bleibt generell den Beteiligten überlassen. Dies gilt natürlich auch für den Multilateralismus. In aller Regel ist es schwer, Verstöße gegen internationale Ver­einbarungen zu sanktionieren. Immerhin lassen sich Beobachtungs-, Überwachungs- und Überprüfungsmechanismen schaffen, die die Chancen auf erfolgreiche Umsetzung der Vereinbarungen verbessern kön­nen. Auch lässt sich internationale Hilfe bei den entsprechenden nationalen Imple­mentierungsmaßnahmen bereitstellen, wo derartige Möglichkeiten bestehen und nachgefragt werden.

Voraussetzungen eines effektiven Multilateralismus

Effektiver Multilateralismus ist also voraus­setzungsreich. Die wichtigsten Erfolgsbedin­gungen liegen auf Seiten der Beteiligten und ihrer Einstellung: Gibt es – erstens – ein echtes Interesse der beteiligten Parteien an nachhaltigen Ergebnissen, oder dient ihre Mitwirkung an den multilateralen Ver­handlungen taktischen Zielen? Ist – zwei­tens – darüber hinaus Kompromissbereitschaft vorhanden, sind die geltend gemach­ten Forderungen und Erwartungen also verhandelbar? Gibt es – drittens – die Bereitschaft, auf der Grundlage »diffuser Reziprozität« (Robert O. Keohane) zu agie­ren, also Solidarität in der Erwartung zu praktizieren, dass die Vorteile des gemeinsamen Handelns auf Dauer stärker ins Gewicht fallen als punktuelle, kurzfristige Nachteile? Weitere Voraussetzungen betref­fen die (innenpolitische) Legitimität der Unterhändler und ihre Fähigkeit, bindende Festlegungen für den von ihnen vertretenen Akteur zu treffen, sowie die organisatorischen Vorkehrungen für eine erfolgreiche Umsetzung eingegangener Verpflichtungen. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, besteht die Gefahr, dass multilaterale Diplomatie nichts Positives bewirken kann und unter Umständen sogar schadet. Zu den Risiken zählen Vereinbarungen, die sich als nicht belastbar erweisen (ein Bei­spiel waren die VN-Schutzzonen im ehe­maligen Jugoslawien) oder die irrelevant sind, weil sie die eigentlichen Probleme außer Acht lassen (wie etwa das Münchner Abkommen von 1938, das nichts dazu bei­trug, Hitlers Kriegsvorbereitungen zu stop­pen). Derartige Vereinbarungen laufen Gefahr, die Wahrnehmung, das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Multilateralismus zu beschädigen und dazu beizutragen, dass die zugrundeliegende inter­natio­nale Ordnung erodiert oder schleichend umgedeutet wird. Im schlimmsten Falle können multilaterale Verhandlungen tak­tisch als Nebelkerzen missbraucht werden, um unilaterale Machtpolitik zu kaschieren.

Grundsätzlich lassen sich die Nachteile des Multilateralismus durch angemessene Vorgehensweisen abschwächen und viel­leicht sogar aufheben, solange die Beteilig­ten konstruktiv eingestellt und kompromissbereit sind. Wichtig ist dabei kluge und effektive politische Führung, entweder durch einen Akteur alleine oder durch eine Kerngruppe im Rahmen der Verhandlungen. Zu deren Führungsaufgaben gehört es, die Agenda ausgerichtet auf effektive Ergeb­nisse zu strukturieren und voranzubringen, für die Einhaltung von Fristen und mög­lichst zügige Fortschritte zu sorgen und Blockaden in den Verhandlungen aufzubrechen. In diesem Zusammenhang wird erkennbar, dass eine konsequent multilateral ausgerichtete Außenpolitik durchaus auch unilaterales Agieren und vor allem intensive bilaterale Diplomatie einbeziehen muss, um effektiven Multilateralismus zu ermöglichen. Dass die Qualität bilateraler Beziehungen erhebliche Bedeutung für die Effektivität multilateraler Diplomatie hat, demonstriert etwa – im Positiven wie in den Defiziten – die Rolle des deutsch-französischen Tandems in der Geschichte und Entwicklung der europäischen Integra­tion. Generell ist schwer vorstellbar, wie ohne intensive bilaterale Diplomatie erfolg­reich Koalitionen geschmiedet oder Krisen in Verhandlungsprozessen überwunden werden sollten. Bilateralismus ist allerdings dann in der Tat problematisch für multi­laterale Diplomatie, wenn er nicht als Kom­ponente von Multilateralismus auftritt, sondern als dessen Alternative.

Die »Allianz für den Multilateralismus«

Mit der »Allianz für den Multilateralismus« initiierte die deutsche Außenpolitik – in­zwischen in enger Zusammenarbeit mit Frank­reich – ein »informelles Bündnis«, das dem Multilateralismus neue Impulse geben will: Funktionierende Segmente der gegenwärtigen internationalen Ordnung sollen erhal­ten, fragile Bereiche erneuert und gestärkt und bislang unzureichend verregelte Teile multilateral geordnet werden. Bei einem Treffen der Allianz am Rande der VN-Generalversammlung im September 2019 signalisierten rund fünfzig Staaten Interesse an einer Mitwirkung.

Die Initiative baut auf Stärken der deutschen Diplomatie. Sie gewann als Mitveranstalter des Treffens in New York Frankreich und sodann weitere fünf Staaten (Kanada, Mexiko, Chile, Ghana und Singapur), was Deutschlands Geschick beim Schmieden von Koalitionen demonstrierte. Allerdings verweist die Zusammensetzung der Gruppe darauf – der Freedom House Index von 2019, der den Grad an Demokratie und Frei­heit in einem Land in einer Skala von 1 (am freies­ten) bis 7 (am wenigsten frei) an­gibt, stuft Mexiko und Singapur als »partly free«, Kanada, Chile und Ghana dagegen als »free« ein –, dass in diesem informellen Bündnis unterschiedliche ideo­logische und ord­nungspolitische Vorstellungen zusammenkommen. Bei diesem »Multilateralismus II« handelt es sich also nicht unbedingt um prinzipiellen Multilateralismus im Sinne der deutschen und europäischen Außen­politik. Vielmehr geht es um pragmatische Vereinbarungen zu spezifischen Sachbereichen. Das ist zwar verständlich, aber nicht unproblematisch: Die Allianz konzentriert sich auf Appelle in Bereichen, bei denen Vereinbarungen rela­tiv leicht zu erreichen sind – dies aufgrund der Unverbindlichkeit der Aufforderungen (wie beim Appell für humanitäre Hilfeleistung) oder der Interessenlagen der Beteiligten (wie bei dem angestrebten Regelwerk für letale autonome Waffensysteme der Zukunft, an dem sich diejenigen Staaten nicht beteiligen, die an derartigen Systemen vordringlich arbei­ten). Ihr Fokus liegt damit auf Nebenschauplätzen der internationalen Politik, die ent­weder (scheinbar) diesseits der grundlegenden ordnungspolitischen Differenzen liegen, von ihnen also nicht berührt werden, oder diese Differenzen (und ihre Protagonisten) ausklammern. Die Gefährdung der multi­lateralen Ordnung manifestiert sich aber gerade in ihren Kernbereichen, etwa der internationalen Handelsordnung, der Nicht­verbreitungsordnung oder der Menschenrechtsordnung und dem Völkerrecht. Ver­einbarungen zu untergeordneten Fragen können im günstigsten Falle den Bestand der internationalen Ordnung sichern helfen. Möglicherweise treiben sie aber auch die Ero­sion ihrer ordnungspolitischen Grund­lagen weiter voran, wenn etwa auf Ver­knüpfungen mit grundlegenden Elementen der alten, liberalen internationalen Ordnung verzichtet oder gar auf andere, revisionis­tische Prinzipien Bezug genommen wird.

So trifft es sicherlich zu, dass der Klimawandel die Außen- und Sicherheitspolitik mit ganz neuen Herausforderungen kon­frontiert, wie eine der sechs Initiativen der Allianz für den Multilateralismus feststellt. Aber wel­che Auswirkungen hätte die an­gestrebte Befassung der Vereinten Nationen mit die­sen Zusammenhängen auf das Pariser Klimaabkommen? Welchen Mehrwert ge­genüber den entsprechenden Bemühungen im Rah­men der VN-Klimapolitik hätte das anvisierte Monitoring der Vereinten Natio­nen? Die Gefahr besteht, dass die Wirksam­keit der Klimapolitik durch ihre Verknüpfung mit der Sicherheitspolitik eher beein­trächtigt als gefördert wird.

Zudem birgt die lose Struktur der Allianz und ihre variable Geometrie eine weitere Gefahr: Grundlegende ordnungspolitische Prinzipien und Normen der bestehenden internationalen Ordnung könnten schlei­chend entwertet bzw. umdefiniert werden. Insbesondere die chinesische Diplomatie ist bestrebt, ihre Sicht auf die internationale Ordnung in die multilaterale Politik ein­zuführen und diese dadurch umzugestal­ten – etwa indem sie das Prinzip der Nicht­einmischung gegenüber dem der universal gültigen Menschenrechte stärkt oder Demo­kratie in der internationalen Politik an den Mitwirkungsrechten der Staaten (und damit der jeweiligen Regierenden) bemisst, nicht aber an jenen der Menschen in den Staaten.

Strategisch sollte eine im Sinne der deut­schen und europäischen Prinzipien und Prämissen konsequent multilateral aus­gerichtete Außenpolitik Lösungen im kon­kreten Problemzusammenhang nur dort anstreben, wo dies keine erkennbaren Nachteile oder Risiken für die Fortentwicklung der internationalen Ordnung impli­ziert. Der Aufruf der Allianz zugunsten humanitärer Hilfsorganisationen und ihrer Programme zur Linderung akuter Not etwa fordert Staaten auf, Wissen über humanitäres Völkerrecht und internationale huma­nitäre Grundsätze zu verbreiten, Hilfsorganisationen zu unterstützen, die über Zu­gang zu Notleidenden verhandeln, und einen »besseren« Schutz für Helfer zu ge­währleisten. Welchen Mehrwert dieser Appell erbringen soll, ist aber zweifelhaft: Gutwillige Staaten werden diese Forderungen ohnehin beachten, die anderen werden sie entweder gar nicht beachten oder ihre Verpflichtungen nach eigenem Gutdünken erfüllen. Zugleich trägt der Appell aber dazu bei, den Fokus der Menschenrechts­politik auf »humanitäre Katastrophen« zu verschieben – und damit weg von den innenpolitischen Rahmenbedingungen, die für die Menschenrechte in den Staaten gelten, zum Nachteil der weltweiten Beach­tung dieser Rechte. Ähnliches lässt sich auch vom Einsatz der Allianz für Frauenrechte sagen, der sich auf das Beispiel der stärkeren Förderung von Mädchen in den Bildungssystemen in Afrika konzentriert: Hier werden bereits existierende Initiativen der UNESCO und der G7 aufgegriffen – war­um? Sollten die in diesem Rahmen statt­findenden Aktivitäten unzulänglich sein, müsste die Allianz darlegen, wie sie glaubt, die Bemühungen effektiver machen zu können. Ansonsten ist eher zu befürchten, dass bestehende Anstrengungen verwässert werden.

Strategien und Taktiken für einen effektiven Multilateralismus

Aktivität um der Aktivität willen birgt also Risiken; weniger kann mehr sein. Anderer­seits sollte das Ambitionsniveau der Allianz angehoben werden, auch wenn damit die Risiken des Scheiterns wachsen. Um in Kern­bereichen Fortschritte zu erzielen, braucht es Koalitionen mit Partnern (das können neben Staaten und internationalen Organi­sationen auch substaatliche oder gesellschaftliche Akteure sein). Und diese Partner sollten nicht nur in den konkreten Fragen fähig und bereit zu Kompromissen sein, son­dern auch grundlegende ordnungspolitische Überzeugungen teilen. Bei Vereinbarungen in nachrangigen Bereichen ist darauf zu achten, dass sie auch indirekt keine nega­tiven Auswirkungen auf die Kernbereiche der internationalen Ordnung haben.

Taktisch sollte sich die deutsche und euro­päische Außenpolitik energisch darum bemühen, die multilateralen Prozesse mög­lichst effizient zu gestalten. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem Output (den formalen Ergebnissen der Prozesse), dem Outcome (ihrer Umsetzung) und schließlich dem Impact (den tatsächlichen Auswirkungen auf den Problemzusammenhang). Es kommt in multilateralen Kontexten sehr dar­auf an, die Verhandlungsprozesse immer wieder zu dynamisieren und voranzubrin­gen. Dies erfordert Führungsleistungen, die Deutschland nicht unbedingt alleine erbrin­gen muss. Doch werden diese Führungs­leistungen – im Sinne etwa einer Fokussierung der Agenda, eines straffen Zeitmanage­ments, des Auslotens von Kompromiss­möglichkeiten und einer effektiven Umset­zung erzielter Vereinbarungen – nicht ohne intensive bilaterale Diplomatie, gelegentlich auch einseitige Schritte auskommen.

Die grundlegenden normativen und politischen Orientierungen der deutschen und europäischen Außenpolitik, aber auch eine realistische Einschätzung der Machtverhältnisse legen nahe, dass deutsche und europäische Führung in multilateralen Kon­texten wesentlich auf Überzeugungsarbeit basieren muss. Das ist weniger problematisch, als dies zunächst angesichts der gegen­wärtigen Trends der Weltpolitik erscheinen mag: Die Machtverschiebungen in Richtung autoritärer oder neo-totalitärer politischer Systeme verstellen nämlich häufig den Blick auf die Prozesse der Machtdiffusion, die den Einfluss solcher Systeme faktisch begrenzen. Insofern sind Deutschland und die Europäische Union machtpolitisch in einer gar nicht so schlechten Lage. Zweifel sind allerdings angebracht, ob die Macht­potenziale der deutschen und der euro­päischen Außenpolitik angemessen mobili­siert und genutzt werden. Die wichtigsten Ur­sachen für dieses Defizit liegen in den innenpolitischen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der Außenpolitik: Bislang konnten die europäischen Gesellschaften nicht davon überzeugt werden, der Außen- und Sicherheitspolitik den Stellenwert einzuräumen, der ihr zukommen müsste.

Um diese Lücke wenigstens ein Stück weit zu schließen, bräuchte es kluge Macht­analysen sowie Strategien, die darauf ab­zielen, die eigene Machtbasis zu stärken. Gegenwärtig und in der Zukunft sind für Machtrelationen vor allem zwei Faktoren besonders bedeutsam: die enormen Zer­störungspotentiale der zivilisatorischen Entwicklung und Abhängigkeiten, die in aller Regel zugleich wechselseitig und asymmetrisch sind. Der erste Faktor legt nahe, dass militärische und wirtschaftliche Abschreckung in Zukunft eine weitaus grö­ßere Rolle spielen wird, als dies in den letz­ten dreißig Jahren der Fall war. Mit Blick auf den zweiten Faktor wird es um Möglich­keiten gehen, asymmetrische Interdepen­denz politisch zu instrumentalisieren. Die in diesem Zusammenhang entwickelte Metapher der »weaponized interdependence« ist allerdings ebenso irreführend wie bezeichnend: Analog zur Argumentation der Waffenlobby klammert die in ihr zum Ausdruck kommende Sichtweise die Rück­wirkungen auf andere und schließlich auch auf denjenigen aus, der die Waffe einsetzt. Dabei gesteht die Metapher ja sogar zu, dass es um Inter-Dependenz geht, also um wech­selseitige Abhängigkeiten und damit zu­mindest potenziell auch um negative Aus­wirkungen auf den Akteur.

Dennoch sind die aus asymmetrischer Interdependenz erwachsenden Machtpoten­ziale ernst zu nehmen. Die Möglichkeiten, auf andere Akteure Einfluss zu nehmen, beruhen dabei aber nicht auf der Abhängigkeit per se, sondern auf der Verwundbarkeit gegenüber der Drohung, Austausch­prozesse zu unterbrechen, oder deren tat­sächlicher Unterbrechung (bzw. auf der Bestechlichkeit des Adressaten, also seiner Empfänglichkeit für Belohnungen und Anreize, wenn diese mit dem Ziel ins Spiel gebracht werden, Einfluss auf Interdependenzbeziehungen zu nehmen). Eine kluge Außenpolitik des prinzipiellen Multilateralismus braucht deshalb fundierte Analysen der eigenen Verwundbarkeiten wie auch jener der Partner und Gegenspieler. Nötig sind zudem politische Maßnahmen und Pro­gramme, die die eigenen Verwundbarkeiten reduzieren und diejenigen anderer ins Visier nehmen. Zu Ersterem gehört auch, die Be­völkerung über Chancen und Risiken, über Nutzen und Kosten des Multilateralismus aufzuklären. Über die Frage, welcher Multi­lateralismus betrieben wird, entscheidet sich zugleich auch, wie die Politik in Deutsch­land und Europa künftig aussehen wird.

Prof. i. R. Dr. Hanns W. Maull ist als Senior Distinguished Fellow Gastwissenschaftler bei der Institutsleitung.

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ISSN 1611-6364