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Konfliktbilder als Grundlage einer zukunftsfähigen Sicherheitsstrategie

Vorausschau, Transparenz und Partizipation für die Nationale Sicherheitsstrategie

SWP-Aktuell 2022/A 12, 11.02.2022, 7 Seiten

doi:10.18449/2022A12

Forschungsgebiete

Die Instrumentalisierung von Flucht und Migration, digitale Attacken auf Wahlen und Infrastrukturen, Hyperschallwaffen, vollautomatisierte bewaffnete Drohnen und gläserne Gefechtsfelder weltweit: Die Vorstellungen über die Formen künftiger Kon­flikte bestimmen schon heute darüber, wie Staaten ihre Sicherheitsvorsorge gestalten und ihre Sicherheitskräfte ausrüsten. Mutmaßlich greifen rein militärische Konzeptionen dabei angesichts des verstärkt hybriden Charakters von Auseinandersetzungen zu kurz. Daher sollten der angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie komplexe Konfliktbilder zugrunde gelegt werden, die unterschiedliche Aspekte nationaler wie auch internationaler Sicherheit umfassen. Weil solche Konfliktbilder langfristig bin­dende Beschaffungs- und Organisationsentscheidungen mitbestimmen, ist es notwendig, sich frühzeitig und strukturiert damit auseinanderzusetzen, wie sie ent­stehen. Kriterien für Konfliktbilder möglichst hoher Güte sind eine wissenschafts­basierte Vorausschau, parlamentarische und öffentliche Beteiligung sowie ressort­gemeinsame Strategieentwicklung.

In die Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie werden unweigerlich Vor­stellungen von den Erscheinungs- und Austragungsformen künftiger Konflikte einfließen. Diese Vorstellungen haben in­sofern Einfluss darauf, welche zivilen wie militärischen Instrumente, Kapazitäten und Wirkmittel beschafft oder wie Entscheidungsstrukturen und Vorsorgefähigkeiten organisiert werden. Glaubt man beispielsweise, dass zukünftige Konflikte vor allem online bzw. digital ausgetragen werden, wird man eher in Cyber-Fähigkeiten und Maßnahmen investieren, die die Resilienz der Zivilbevölkerung im physischen wie auch im virtuellen Raum stärken, als in die Entwicklung klassischer militärischer Platt­formen. Konfliktbilder fassen die unter­schiedlichen Vorstellungen davon zusammen, wie Auseinandersetzungen und Her­ausforderungen in der Zukunft aussehen.

Orientierung durch Konfliktbilder

Konfliktbilder basieren auf Annahmen über hypothetische Ereignisse und Entwicklungen in der Zukunft. Eine Vielzahl von Fak­toren fließt in sie ein, beispielsweise ak­tuelle Bedrohungsperzeptionen eines Lan­des, das Wissen um Ressourcen, Feind- und Selbstbilder, technische Entwicklungen. Auch fiktionale Werke nehmen Einfluss. Dazu gehören etwa Romane wie Tom Clan­cys Im Sturm, Peter W. Singers und August Coles Ghost Fleet und jüngst Elliot Ackermans und James G. Stavridis’ 2034 oder Filme bzw. Serien wie etwa Star Wars, Star Trek oder Iron Man. Sie spiegeln die Vielfalt hypo­thetischer Herausforderungen zurück in die gesellschaftliche und politische Aus­einandersetzung mit den vielen denkbaren Zukünften. Die Aneignung all dieser Ein­flüsse vollzieht sich nicht immer in einem bewussten Prozess, sondern oftmals unter­bewusst, weswegen zugrundeliegende An­nahmen zu Konfliktbildern gezielt hinter­fragt werden sollten. Konfliktbilder beschrei­ben und verdichten die heterogenen Vor­stellungen und bieten damit Orientierung für die gesellschaftliche Debatte, aber auch für politisches Handeln.

Kriegsbilder sind als Teilmenge von Kon­fliktbildern zu verstehen und sind ihre extreme, vorwiegend militärische Form. Florian Reichenberger prägte dafür den Ausdruck »gedachte Kriege«, was ihren imaginären Charakter unterstreicht. Das Spektrum an Konfliktbildern reicht von ört­lich begrenzten Krisen bis zu weltumspan­nenden Kriegen. Sie umfassen letztlich alle Facetten sicherheitspolitischer Herausforderungen, beispielsweise inner- und zwischen­staatliche Konflikte wie auch solche mit und ohne physische Gewaltanwendung.

Ein wichtiger Bestandteil zeitgenössischer Konfliktbilder sind hybride Bedrohungen. Die aktuelle Krise an der polnisch-belarussischen Grenze ist nur das jüngste Beispiel von vielen, bei denen die Hoffnungen verzweifelter Menschen für politische Zwecke missbraucht werden. In unkonventionellen Konflikten werden Söldner oder »grüne Männchen« eingesetzt, digitale und analoge Mittel genutzt und physische wie psychische Schwachstellen angegriffen. Klimawandelinduzierte Krisen und Kon­flikte legen nahe, dass das Potential für Massenflucht und ‑migration in der Zu­kunft eher größer werden wird. Ebenso plausibel erscheint, dass interessierte Regie­rungen die Effekte schlechter werdender Lebens- und Umweltbedingungen weiterhin strategisch ausnutzen werden.

Relevanz für Entscheidungen und Strategiebildung

Überall dort, wo es um langfristige Projekte oder lange Nutzungszeiten geht, wird die praktische Relevanz von Konfliktbildern in besonderem Maße erkennbar. Deutlich wird dies vor allem im militärischen Bereich, in dem lange Beschaffungszeiten (Jahre bis Jahrzehnte) und eine extrem aus­gedehnte Nutzungsdauer (bis zu fünfzig Jahren und mehr) nicht ungewöhnlich sind. Speziell bei großen, langfristigen Rüstungsprojekten wie dem Future Combat Air Sys­tem (FCAS) können Veränderungen des Einsatzumfeldes – die nicht im Konfliktbild berücksichtigt waren, das der System­konzeption zugrunde lag – schwerwiegende Folgen für die Einsetzbarkeit haben. Sollte sich im konkreten Fall erweisen, dass etwa bemannte Systeme wie das FCAS im Luft­kampf gegen unbemannte Systeme (Droh­nen) chancenlos sind, wäre das eine finan­zielle und strategische Katastrophe.

Diese Lenkungswirkung macht Konfliktbilder zu einer wichtigen Grundlage für die Strategieentwicklung. Sie trägt aber auch dazu bei, dass diese Bilder politisch um­stritten sind. Wer im Gefüge der (auch um Ressourcen konkurrierenden) Institu­tionen der gesamtstaatlichen Sicherheits­architek­tur die Deutungshoheit über Kon­fliktbilder erlangen kann, vermag wesent­liche Rich­tungsentscheidungen über zukünftige In­vestitionen zu beeinflussen. Weil auf Vor­denkerinnen und Vordenker ebenso wie auf Entscheiderinnen und Ent­scheider vie­lerlei Faktoren einwirken – wie Medien, aber auch Lobbyinteressen oder Karriere­chancen –, ist eine möglichst breite Dis­kussion von Konfliktbildern not­wendig. Damit nachvollziehbare Beschaffungs­entscheidungen getroffen werden können, müssen Konfliktbilder, aber auch Interessen offengelegt werden.

Grafik

Quelle: Philipp Klüfers / Carlo Masala / Tim Tepel / Konstantinos Tsetsos: »Strategic Foresight – Die Zukunft antizipieren«, in: Sirius. Zeitschrift für Strategische Analysen, 1 (2017) 1, S. 53–67 (54).

Komplexe Konfliktbilder eignen sich als Bezugspunkt für die Entwicklung einer nach­haltigen Strategie, die aktuelle Heraus­forderungen aufnimmt, ohne der Gegen­wart verhaftet zu bleiben. Es muss zum einen darum gehen, möglichst gut auf mög­lichst viele denkbare Zukünfte vorbereitet zu sein, das heißt, für ein breites Spektrum vorstellbarer sicherheitspolitischer Anfor­derungen Robustheit und Vielseitigkeit zu erreichen. Zum anderen muss die Strategie auf methodisch erarbeiteten und wissenschaftlich fundierten Vorstellungen über die Zukunft (beispielsweise Szenarios) fußen. Hierzu bedarf es der Erkenntnisse der Zukunftsforschung.

Beiträge der Zukunftsforschung

Während Kriegsbilder eine Teilmenge von Konfliktbildern sind, sind Konfliktbilder wiederum eine Teilmenge von Zukunfts­bildern. Jede Form der Zukunftsanalyse haftet aufgrund ihrer Befassung mit (noch) nicht beobachtbaren Sachverhalten ein hohes Maß an Ungewissheit an. Ungeachtet dessen lassen sich auch für die Zukunfts­forschung wissenschaftliche Standards und Gütekriterien definieren. Deren Beachtung sichert ein Höchstmaß an Wissenschaftlichkeit, für die Kriterien wie Nachvollzieh­barkeit, methodische Angemessenheit und Integrität des Analyseprozesses gelten. Zu­kunfts- bzw. Konfliktbilder, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, ermög­lichen insofern fundierte (sicherheits-)poli­tische Entscheidungen über vorsorgende Investitionen oder Beschaffungen.

Grundsätzlich zu unterscheiden ist dabei zwischen: 1. der taktischen / situativen Früherkennung (Vorhersage [Forecast]) und 2. der strategischen / strukturellen (Vorausschau [Foresight]). Während Erstere ver­sucht, konkrete Ereignisse in der nahen Zukunft – also in wenigen Wochen und Monaten – vorherzusagen, konzentriert sich Letztere auf mittel- bis langfristige Entwicklungen von zehn bis dreißig und mehr Jahren.

Für die hier diskutierte vorsorgende Sicherheitspolitik ist vor allem die (stra­tegische) Vorausschau einschlägig. Es geht im Kern darum, Erkenntnisse über lang­fristige Entwicklungen zu gewinnen, die eine frühzeitige Anpassung der eigenen Planungen und Vorkehrungen an mögliche, plausible und wahrscheinliche Konflikte erlauben. Dabei gilt, dass die Befunde der Zukunftsforschung umso unsicherer wer­den, je weiter sie vorausblickt. Daher wer­den in diesem Kontext häufig Szenarien entwickelt, die unterschiedliche Verläufe künftiger Entwicklungen abbilden und somit einen größeren Zukunftsraum ab­decken können.

Strukturierte Konfliktbildgenese

Konfliktbilder sollten einerseits die nötige Tiefenschärfe aufweisen, um zur Grundlage langfristig wirksamer strategischer Fest­legungen werden zu können, und anderer­seits breite Akzeptanz in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft finden. Um beides zu gewährleisten, sollten sie in einem refle­xiven Prozess erarbeitet werden, der wis­senschaftliche Qualitätskriterien mit repräsentativer Beteiligung verbindet.

Die Konzipierung einer auf Konfliktbilder ausgerichteten strategischen Vorausschau umfasst mehrere Prozessschritte, beginnend mit der Erhebung von Daten, Einflussfaktoren und Kontextbedingungen, die für künftige Konfliktkonstellationen relevant sein könnten. Auf Basis der gesam­melten Informationen werden in einer Primäranalyse die wichtigsten Faktoren und Bedingungen identifiziert und zu Szenarien ausgearbeitet, die sie in unterschiedlichen Varianten (z. B. starke / schwache Polarisie­rung oder hohes / geringes Wachstum) zu­einander in Beziehung setzen. Narrative Beschreibungen dieser Kombinationen können die erarbeiteten Szenarien zu aus­sagekräftigen Konfliktbildern verdichten. Die Beteiligung von Fachleuten wie auch von Laien an der Wissensakkumulation und Analyse stellt sicher, dass vielfältige Perspektiven und unterschiedliche An­nahmen über denkbare Zukunftsentwicklungen berücksichtigt werden (Citizen Science).

Ergänzend zum deskriptiv-analytischen Vorgehen schließt sich eine Diskussion an, in der es darum geht, sich unterschiedliche Präferenzen für mehr oder weniger wün­schenswerte Konfliktbilder zu vergegenwärtigen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Eine parlamentarische Kom­ponente wie auch direkte Bürgerbeteili­gung, beispielsweise analog zum 2021 aktiven Bürgerrat »Deutschlands Rolle in der Welt«, sichern dabei ein möglichst hohes Maß an gesellschaftlicher Repräsentativität. Auf der Basis dieser mehrdimen­sionalen und multiperspektivischen Ana­lyse und Bewertung können abschließend Prioritäten für strategisches Planen und sicherheitspolitisches Handeln festgelegt und auf ihre Umsetzungsmöglichkeiten hin geprüft werden.

Ebenso wichtig wie die strukturierte Erarbeitung von Konfliktbildern ist die kon­tinuierliche Evaluierung dieser Bilder. Sie kann durch ein fortgesetztes Monitoring der Entwicklung von Einflussfaktoren und Kontextbedingungen in der sich real ent­faltenden Zukunft erfolgen. Entsprechend den Prüfungsergebnissen können die Sze­narien kontinuierlich angepasst und wei­terentwickelt werden. So lässt sich gewähr­leisten, dass Konfliktbilder nicht den Bezug zur empirischen Realität verlieren und zu Trugbildern werden.

Debatte statt Geheimhaltung

Kohärenz in der Vorbereitung auf künftige sicherheitspolitische Herausforderungen basiert auf klaren Konfliktbildern, aus denen sich Prioritäten für eine bedarfs­gerechte Strategiebildung auf nationaler Ebene ableiten lassen. Im Weißbuch 2016 ist die Förderung der deutschen Strategiefähigkeit unterstrichen worden. Der Fokus im Weißbuch liegt jedoch auf der Früh­erkennung relativ kurzfristiger Krisen und damit auf konkreten Prognosen.

Freilich gibt es auch Dokumente, die im Sinne der strategischen Vorausschau län­gere Zeiträume umspannen, jene etwa, die im Planungsamt der Bundeswehr für das Bundesministerium der Verteidigung erstellt werden. Die zuständige Behörde im Ministerium hält sich allerdings bedeckt, die Papiere sind eingestuft und für die All­gemeinheit schwer oder gar nicht einzusehen. Die Geheimhaltung von Dokumenten, die sich mit politisch heiklen, aber denk­baren Zukunftsentwicklungen befassen, ist zwar nachvollziehbar, kann die Akteure jedoch in die Defensive zwingen. Sickern dabei entwickelte Vorstellungen unfreiwillig durch, wie 2017 bei Überlegungen zum Zerfall des Westens, wird der Öffentlichkeit die Tragweite der Beschäftigung mit hypo­thetischen Zukünften ebenso schlagartig wie unvorbereitet bewusst. Die Auseinan­dersetzung mit der Öffentlichkeit sollte daher nicht gescheut, sondern aktiv gesucht werden. Denn möglichst breite Akzeptanz von Konfliktbildern entsteht im Zuge eines offenen Austauschs von Argumenten und Positionen. Werden insbesondere weitreichende Entscheidungen, etwa zur Beschaffung militärischer Güter, stattdessen in­transparent getroffen, lädt dies zu an sich vermeidbarem Misstrauen und Kritik gera­dezu ein.

Hilfreich ist der Blick über die Grenzen: Sowohl in den USA als auch in Großbritannien und Frankreich herrscht große Trans­parenz beim Umgang mit Konfliktbildern. Die grundlegenden, auf die Zukunft gerich­teten sicherheitspolitischen Überlegungen werden viel selbstverständlicher öffent­lichen Debatten ausgesetzt. Das kann zwar durchaus kontroverse Auseinandersetzungen darüber mit sich bringen, welche Fol­gerungen für konkrete sicherheitspolitische Maßnahmen daraus abzuleiten sind. Diese sind aber nicht nur notwendig, um Wirt­schaft und Gesellschaft mitzunehmen, sondern gelten geradezu als Verpflichtung für eine verantwortungsbewusste Politik.

In Deutschland sollten Dokumente zu Konfliktbildern weniger restriktiv ein­gestuft werden, um einen breiteren stra­tegischen Dialog zu ermöglichen. Entscheidend ist die Transparenz bei der Erarbeitung; Folgerungen und Entscheidungen der Exekutive können weiterhin schutzbedürftig sein. Gleichzeitig ist es erforderlich, die auf nationaler Ebene erarbeiteten Konflikt­bilder und Strategien regelmäßig mit Part­nern und Verbündeten abzugleichen. Per­spektivisch könnte eine gemeinsam durch­geführte Vorausschau in die Entwicklung geteilter Konfliktbilder münden. Dadurch würde nicht nur Vertrauen gestärkt, son­dern auch der Anreiz für die kollektive Ent­wicklung und Beschaffung von sicherheits­politischer Ausrüstung erhöht werden.

Ressortübergreifende Kooperation

Die Bundesregierung hat in den 2017 erschienenen Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« die Absicht betont, ihre Werkzeuge für gemein­same Analyse, Planung und Willensbildung weiterzuentwickeln. Die strategische Bedeu­tung ressortübergreifender Zusammen­arbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik erkennt die Regierung dabei an. Im Fokus stand allerdings die Außenpolitik. Es muss jedoch auch darum gehen, einen ressortgemeinsamen Bezug zur Bedrohungslage in, um und für Deutschland herzustellen und die Konzeption sicherheitspolitischer Strategien wie auch die Entwicklung mili­tärischer Fähigkeiten daran auszurichten.

Strategische Vorausschau betreiben in der Bundesregierung bereits viele Akteure. Auf Ressortebene sind neben Auswärtigem Amt (AA), dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent­wicklung (BMZ) und dem Bundesministe­rium der Verteidigung (BMVg) auch das Bundesministerium für Umwelt (BMU), das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWi), das Bundesministe­rium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zu nennen. Sehr wahrscheinlich wird auch im Bun­desministerium des Innern (BMI) in die Zukunft geblickt, doch lässt sich das Minis­terium nicht in die Karten schauen. Je nach Zu­ständigkeitsbereich des Ressorts unter­scheiden sich die inhaltlichen Schwerpunkte und damit auch die Sichtweisen, die den jeweiligen Vorausschau-Fragestellungen zugrunde liegen.

In der Sicherheitspolitik mangelt es an einer synthetisierenden Betrachtung der Einzelbefunde, die übergreifende Schlüsse für den Umgang mit multidimensionalen Herausforderungen erlauben würde. Zwar gibt es Beratungs- und Austauschprozesse, in denen Experten und Expertinnen aus einem Bereich jene eines anderen unterstützen oder an ihren Ergebnissen teil­haben lassen. So tagt regelmäßig ein Res­sortkreis Strategische Vorausschau, der vom Kanzleramt geleitet wird. Dieser dient jedoch in erster Linie dazu, die teilnehmen­den Ressorts über die Vorausschauprozesse der jeweils anderen zu informieren. Die gemeinsame Ausarbeitung von Zukunftsszenarien oder gar Konfliktbildern gehört bislang nicht zu seinen Aufgaben. Dass die ressortgemeinsame Analyse unter­entwickelt ist, monierte bereits der Bundes­rechnungshof für den Politikbereich »Huma­nitäre Hilfe und Übergangshilfe«. Die Emp­fehlung an die in diesem Fall betroffenen Ministerien BMZ und AA lautet, eine res­sortgemeinsame Analyse zur Grundlage abgestimmter Planung zu machen.

Ausblick: Vorausschau und Vorsorge

Die vielen unerwarteten Krisen und Kon­flikte im 21. Jahrhundert haben die Bedeu­tung von (strategischer) Vorausschau und einer angemessen vorsorgenden Politik verdeutlicht. Zuletzt hat die Pandemie offenbart, wie unzureichend nationale wie internationale Akteure auf durchaus abseh­bare Herausforderungen vorbereitet waren. Auch die Anpassungsleistungen, die der Klimawandel erforderlich macht, sind hin­länglich bekannt. In Wirtschaft und Gesell­schaft ist der Unmut über die unzuläng­lichen Vorkehrungen für diese wie auch weitere »angekündigte Überraschungen« verbreitet. In der Folge wurden öffentliche Forderungen nach mehr und besserer staat­licher Vorsorge laut. Diese Forderungen finden politischen Widerhall, wie sich in der verstärkten Resilienz-Orientierung der EU zeigt. Unter den G7-Mitgliedstaaten wird ebenfalls über Wege zum Ausbau des Wohl­fahrts- und Versorgungsstaates zum Vor­sorgestaat diskutiert, wie das Abschluss­kommuniqué des letzten G7-Gipfels andeu­tet, der 2021 in Cornwall stattfand.

Unerwartete Krisen und Konflikte treten auch im sicherheitspolitischen Kontext auf. Das zeigt sich am gegenwärtigen russischen Säbelrasseln gegenüber der Ukraine ebenso wie an neuartigen hybriden Bedrohungen wie der gezielten Verbreitung von Falsch­informationen durch Social Media. Um der sicherheitspolitischen Dimension künftiger Konflikte Rechnung zu tragen, sollten die Abgeordneten des Bundestages, aber auch die Mitglieder der Bundesregierung immer wieder die öffentliche Auseinandersetzung mit Konfliktbildern fördern und einfordern. Schließlich sind komplexe Konfliktbilder, die sich auf metho­disch erarbeitete und kontinuierlich überprüfte Szenarien stüt­zen, ein wichtiger Beitrag zur Findung von Entscheidungen über die Streitkräfte­entwicklung und den Zivil- bzw. Katastrophenschutz.

Das geeignete Forum für die politische Debatte über Konfliktbilder und darüber, wie mit denkbaren Bedrohungen umgegangen werden soll, ist zunächst der Bundestag und sind seine Ausschüsse. Hier fehlt bis­lang aber ein Anlass, der die Beschäftigung mit künftigen Herausforderungen aus sicherheitspolitischer Sicht regelmäßig auf der Tagesordnung verankert. Die vom Ver­teidigungsministerium vorgeschlagene Sicherheitswoche könnte hierfür ein wie­der­kehrendes Format bilden. Anknüpfungs­punkt für die Debatte könnte ein überparteilich erarbeiteter und öffentlich zugäng­licher nationaler Risikobericht sein, wie ihn Nikolaus von Bomhard vorgeschlagen hat.

Wichtig wäre, dass in so einer Sicherheits- oder auch Strategiewoche Raum ist für Debatten über unterschiedliche Vor­stellungen dazu, welche Zukunftsentwick­lung von Staat und Gesellschaft in ihrer europäischen und internationalen Umwelt wünschenswert sind. Dazu ließen sich bür­gergesellschaftliche Beiträge und Stel­lung­nahmen einbeziehen. Denn über Regie­rung, Adminis­tration und Parlament hin­aus geht es um Gesellschaftsbeteiligung.

Bleibt die Frage, wer für die Zusammenführung von Konfliktbildern und natio­naler Strategie zuständig sein soll. Wird einem Ressort die Leitung für das Erarbeiten einer gesamtstaatlichen Strategie über­tragen, hat dies mit Blick auf Prozess und Ergebnis quasi reflexhaft Akzeptanzeinbu­ßen bei den anderen Ministerien zur Folge. Eine dadurch angestoßene »kompetitive Strategiebildung« durch letztere wäre indes sowohl nach innen wie nach außen irri­tierend. Natürlich muss jedes Ressort die Möglichkeit haben, sich mittels konzeptioneller Dokumente der eigenen politischen Aufgabenstellung zu vergewissern und dies nach außen darzustellen. Ressortgemeinsame Strategiebildung umfasst jedoch mehr als die Addition solcher Dokumente. Inso­fern bedarf sie eines klar definierten Zen­trums, dem die strategiepolitische Kohärenz-Kompetenz zukommt. Größere Pro­zesszufriedenheit und Ergebnisakzeptanz lassen sich durch die Einbindung aller relevanten Akteure unter dem Dach dieses strategischen Zentrums erreichen. Nicht zuletzt entstünden dadurch gute Ausgangsbedingungen für die Arbeit an einer zu­kunfts­weisenden Nationalen Sicherheitsstrategie.

Paula Köhler ist Forschungsassistenz in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Florian Schöne ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Lars Brozus ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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