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Indonesiens G20-Präsidentschaft und der Krieg Russlands gegen die Ukraine

Jakarta zwischen allen Stühlen?

SWP-Aktuell 2022/A 47, 25.07.2022, 5 Seiten

doi:10.18449/2022A47

Forschungsgebiete

Das kürzlich abgehaltene Außenministertreffen der G20-Staaten in Indonesien stand, nicht zuletzt wegen des Verhaltens von Moskaus Vertreter Sergej Lawrow, ganz im Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Dies zeigte sich auch an der komplizierten Position, die das G20-Gastgeberland im Umgang mit der Krisensitua­tion einnimmt. Indonesien hat zwar im Rahmen der Generalversammlung der Verein­ten Nationen (UN) im März ein Ende der russischen Invasion gefordert, danach aber weder Sanktionen gegen Moskau mitgetragen noch Russland vom G20-Gipfel aus­geladen. Zuletzt besuchte Indonesiens Präsident Joko Widodo als erster asiatischer Regierungschef seit Beginn des Krieges sowohl Kiew als auch Moskau. Während sich Jakarta aus Sicht westlicher Kritiker damit zwischen alle Stühle setzt, ist diese Hal­tung im Inneren populär und entspricht zudem tradierten Prinzipien indonesischer Außenpolitik. Ein Kurswechsel Jakartas im Hinblick auf den G20-Gipfel im November ist daher unwahrscheinlich.

Für die G7 Staaten wäre aber gerade eine Richtungsänderung Indonesiens ein erstre­benswertes Signal im Konflikt mit Russland (und China). Indonesien ist von der Bevöl­kerung her der größte muslimische Staat und die drittgrößte Demokratie der Welt. Es ist Mitbegründer der blockfreien Bewegung und verfügt als regionales Schwergewicht in Südostasien durchaus über außenpolitischen Einfluss. Präsident Joko »Jokowi« Widodo widersetzte sich jedoch bislang allem westlichen Drängen, Wladimir Putin vom G20-Gipfel im November 2022 auf Bali auszuladen; zur Überraschung vieler lud er im April aber auch den ukrainischen Präsi­denten Selenskyj zu dem Treffen ein. Aus seiner Sicht agiert er damit im Einklang mit Indonesiens Tradition der Neutralität und Blockfreiheit und der verfassungsrechtlich verankerten Pflicht zum Einsatz für den Frieden. Jokowi reiste zudem jüngst sowohl nach Kiew als auch nach Moskau, um an­gesichts der humanitären Notlage in der Ukraine und der sich anbahnenden globa­len Ernährungskrise für ein Ende des Krie­ges zu werben und Indonesien als mög­lichen Vermittler zwischen beiden Parteien ins Gespräch zu bringen. Jokowi, der im Zuge dessen auch das vom Krieg zerstörte Irpin besuchte, bezeichnete seine Reise gar als Mission für den Frieden und übergab in Moskau nach eigenen Angaben eine Bot­schaft Selenskyjs an Putin. Ziel des indo­nesischen Staatspräsidenten war es, einen Dialog zwischen den Kriegsparteien herzu­stellen und Grundlagen für einen bal­digen Waffenstillstand zu schaffen. Im Land selbst wurde die Reise Jokowis äußerst positiv aufgenommen; einige prominente indonesische Persönlichkeiten forderten gar den Friedensnobelpreis für den Präsidenten.

Die indonesische Führung handelt aus unterschiedlichen Motiven heraus. Sie will sich vor dem G20-Gipfel im eigenen Land unter anderem als Friedensstifter und fähiger Vermittler profilieren. Einer der Hauptgründe für die diplomatischen Bemühungen sind aber die Sorgen Jakartas über teure Nahrungsmittelimporte und Preissteigerungen auf dem Energiemarkt. Höhere Lebensmittelpreise, insbesondere beim Speiseöl, die vorübergehend Rekordniveau erreichten, hatten Jokowis Zustimmungswerte in den vergangenen Monaten zwischenzeitlich auf ein Allzeittief fallen lassen. Infolge struktureller Reformen und einer Reihe von Marktinterventionen san­ken die Speiseölpreise im Land zwar wieder, doch die Markt­turbulenzen haben Indo­nesiens Vulnerabilität im Hinblick auf mög­liche weitere Auswirkungen der drohenden globalen Nahrungsmittelkrise offenbart.

In den vergangenen Jahren haben sowohl klima- als auch pandemiebedingte Ernteausfälle und Lieferkettenprobleme weltweit für Engpässe und Preissteigerungen bei Lebensmitteln gesorgt. Der russi­sche Angriffskrieg und die steigende Infla­tion haben diesen Trend nun exponentiell verschärft, was Indonesien, das als welt­größter Getreideimporteur etwa 25 Prozent seines Bedarfs mit Importen aus der Ukraine deckt, schwer zusetzt. Zusätzlich belastet der starke Anstieg der Energiepreise auf dem Weltmarkt den wegen der Gesundheitskrise ohnehin schon gebeutelten Staats­haushalt, denn Benzin und Diesel werden in Indonesien stark subventioniert.

Dass die Reise Jokowis nach Moskau diesbezüglich wenig konkrete Ergebnisse brachte, hat der innenpolitischen Popula­rität des Unterfangens keinen Abbruch ge­tan, zumal Putin zumindest seine Bereitschaft zur Versorgung »freundlicher Staa­ten« erklärte, was in Indonesien durchaus als Erfolg gewertet wurde.

Wahrnehmung des Krieges in Indonesien

Tatsächlich dominiert in weiten Teilen Süd­ostasiens – und so auch in der indonesischen Bevölkerung – überwiegend die rus­sische bzw. chinesische Lesart des Konflikts. Demnach sind die USA bzw. die Nato Ver­ursacher des Krieges und Russland wird zum Opfer des westlichen Imperialismus stilisiert. Auch lehnt die Mehrheit der Indo­nesier laut Umfragen Sanktionen gegen Russland ab. Hinter dieser Haltung ver­bergen sich zum einen generelle antiwest­liche Ressentiments, die in Indonesien im Gefolge des US-geführten »Krieges gegen den Terrorismus« entstanden sind. Denn dieser wird in weiten Teilen des Inselstaats als »Krieg gegen Muslime« gedeutet. Zudem fällt russische Propaganda auch auf einen äußerst fruchtbaren Boden, weil es medial kaum ein Korrektiv gibt. Nachrichten und politische Analysen rezipiert der Großteil der indo­nesischen Bevölkerung primär über soziale Netzwerke wie Facebook, TikTok, Twitter und Instagram. Hier dominiert, aktiv befeuert vor allem von russischer und chinesischer Seite, seit März 2022 ein dezi­diert antiwestlicher, prorussischer Diskurs.

Auch die traditionell einflussreichen mus­limischen zivilgesellschaftlichen Grup­pen, die Ende 2016 noch zu Demonstrationen gegen die als »anti-muslimisch« gebrand­markte russische Militärintervention in Syrien aufgerufen hatten, haben Russlands Invasion in der Ukraine bisher nicht ver­urteilt. Im Gegenteil, in entsprechenden Foren werden mit heroisierendem Impetus Videos von muslimischen Kämpfern aus Tschetschenien verbreitet, die auf russischer Seite am Krieg teilnehmen. In diese Kerbe schlug auch Putin, als er während Jokowis Besuch die Reise einer muslimischen Dele­gation Russlands nach Jakarta erwähnte.

Indonesiens Außenpolitik und der Krieg in der Ukraine: Zwischen Riffen segeln

Es war Moskau und nicht Kiew, wo Jokowi seine Hoffnung auf eine Wieder­herstellung der globalen Nahrungsmittelversorgung zum Ausdruck brachte. Dieses Herausstellen der russischen Schlüsselverantwortung für die Sicherheit der Lebensmittelliefer­ketten kann durchaus als Signal gewertet werden, dass die Regierung in Jakarta das von Putin propagierte russische Narrativ, der Westen trage die alleinige Schuld an der (Nahrungsmittel-)Krise, nicht teilt. Tat­sächlich hatte sich Indonesien bereits im März den beiden Resolutionen der UN-Generalversammlung angeschlossen, in denen eine Mehrheit der Staaten den rus­sischen Angriff auf die Ukraine verurteilt, den sofortigen Abzug der Invasionstruppen gefordert und die humanitäre Lage als dramatisch deklariert hatte. Bei der folgen­den Abstimmung zum Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat ent­hielt sich Jakarta jedoch mit der Begründung, keine negativen Präzedenzfälle schaf­fen zu wollen, die der Glaubwürdigkeit der Generalversammlung schaden könnten. Stattdessen unterstütze man den Vorschlag des UN-Generalsekretärs, eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen. Desgleichen schloss man sich nicht den west­lichen Sanktionen gegen Russland an.

Dieses ambivalente Verhalten der indonesischen Regierung ist zum einen strate­gischen Interessen, wie dem Zugang zu Nahrungs- und Düngemitteln und Technologie (sowie in geringerem Maße auch Rüstungsgütern) aus Russland geschuldet. Zwar verzichtet Indonesien bisher darauf, russisches Öl zu kaufen, doch profitiert die indonesische Wirtschaft durchaus von guten bilateralen Beziehungen mit Russ­land. So hat sich Jokowi zum Ziel gesetzt, höhere Wertschöpfung durch industrielles »Downstreaming« im eigenen Land zu kreieren, was bedeutet, dass der Inselstaat Roh­stoffe künftig nicht mehr nur exportieren, sondern selbst verarbeiten und dann teurer weiterverkaufen will. Russische In­ves­titionen und russisches Know-how, unter anderem im petrochemischen Sektor, sind dabei von großem Wert. Entsprechen­de Projekte sind derzeit bereits in Planung. Zusätzlich sucht Jokowi aktiv nach Investo­ren für den Bau seines Megaprojekts, der neuen Hauptstadt Nusantara. Während des jüngsten Treffens bot Putin unter anderem die Unterstützung der staatlichen Russian Railways bei dem Vorhaben an und stellte zudem eine Kooperation im Bereich der Produktion von Kernenergie in Aussicht.

Darüber hinaus ist Russland nach wie vor ein etablierter Dialogpartner in den verschiedenen internationalen Foren der ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), auch in jenen, die sich mit der Sicherheitspolitik in der Region befassen, wie zum Beispiel dem ASEAN Defence Minister’s Meeting-Plus (ADMM+).

Betrachtet man die von Indonesien viel­fach postulierten Werte und Prinzipien, mag die mangelnde Verurteilung Russlands durch Jakarta auf den ersten Blick verwundern. Zusätzlich zur verfassungsmäßig festgeschriebenen Pflicht zum Einsatz für den Frieden ist Indonesien Mitglied der ASEAN, deren Charta, welche Indonesien maßgeblich mitgestaltet hat, nicht nur fried­liche Konfliktlösung und die Nichteinmischung in die inneren Angelegen­heiten anderer Staaten festschreibt, sondern auch staatliche Souveränität und territo­riale Integrität als sakrosankt erachtet. Die­sen Bekenntnissen zum Trotz blieb sowohl die Rhetorik Jakartas als auch die der ASEAN äußerst verhalten. So benannten die ASEAN-Mitglieder in ihrer offiziellen ge­meinsamen Erklärung nicht einmal Russ­land als Aggressor und riefen lediglich all­gemein zur Beendigung der Kampfhandlungen auf. Allerdings entspricht das Ver­halten Indonesiens tradierten außen­poli­tischen Denkmustern der Neutralität, der Blockfreiheit und der strategischen Auto­nomie.

Paradigmatisch für diese außenpolitische Richtlinie ist das Bebas-dan-Aktif-Prinzip. Dieses postuliert eine unabhängige und aktive indonesische Außenpolitik. »Unab­hängig« bedeutet in diesem Kontext, dass Indone­sien seinen Part in der internatio­nalen Politik frei von der Einflussnahme externer Mächte und unter Aufrechterhal­tung seiner nationalen Souveränität ausübt. Seit der Unabhängigkeit von den Niederlanden im Jahr 1949 ist das Bebas-dan-Aktif-Prinzip fester Bestandteil des außenpolitischen Selbstverständnisses Indonesiens. Die zentrale Rolle des Inselstaats bei der Grün­dung der Bewegung der Blockfreien Staaten während des Kalten Krieges und das Be­streben, eine Äquidistanz zwischen kon­kurrierenden Großmächten zu wahren – heute insbesondere zwischen China und den USA–, sind eine Manifestation dieser Grund­einstel­lung.

Entsprechend verhält sich Jakarta bisher auch im Ukraine-Konflikt. Die Jokowi-Regie­rung hat bisher weder offen prowestliche noch prorussische Töne angeschlagen. Somit fügt sich der derzeitige Umgang der indonesischen Führung mit der Krise naht­los in die außenpolitischen Traditionslinien des Landes ein. Während diese Haltung innenpolitisch populär ist, wird sie von Kritikern in den USA und Europa, die sich einen klareren Kurs Jakartas wünschen, als »auf dem Zaun sitzen« bzw. »zwischen allen Stühlen sitzend« bezeichnet. Wie jedoch die indonesische Redewendung mendayung antara dua karang (zwischen zwei Riffen segeln) suggeriert, laufen nur diejenigen, die keinen klaren Kurs haben, Gefahr, auf ein Riff (verstanden als eine Großmacht) aufzulaufen und dabei die eigene nationale Souveränität zu verlieren.

Wie weiter mit dem G20-Gipfel?

Aus Sicht Jakartas ist die Abhaltung des G20-Außenministertreffens auf Bali unter Anwesenheit aller Beteiligten, inklusive Russlands, ein erster Erfolg der indonesischen G20-Präsidentschaft. Präsident Jokowi hat damit ein wichtiges Ziel erreicht: Indo­nesiens Rolle in der internationalen Politik zu stärken, ohne die eigene Neutralität aufzugeben. Ein denkbares Scheitern des G20-Meetings durch ein Fernbleiben der G7-Staaten ist zumindest vorläufig abgewendet. Nunmehr liegt das primäre Augenmerk Jakartas auf einer erfolgreichen Durchführung des G20-Gipfels im November. Dies­bezüglich hat die indonesische Regierung bereits erklärt, das Treffen nicht zu einem »Ukraine-Konflikt-Gipfel« machen zu wol­len; man gedenke, an der ursprünglichen Agenda festzuhalten. Diese steht unter dem Motto »Recover Together, Recover Stronger« und soll sich primär dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau nach der Covid-19-Pandemie widmen. Mit Blick auf die hierbei genannten Hauptthemen »Globale Gesundheitsarchitektur«, »Digitale Transformation« und »Nachhaltige Energie-Transition« versucht Indonesien vor allem von den G7-Staaten und China Zusagen für Investitionen, Finanzhilfen und Techno­logietransfer zu erhalten. Indonesien sieht seine Rolle in der G20 immer auch als Anwalt der Entwicklungs- und Schwellen­länder, die sowohl von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie als auch von den Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine auf die Lebenshaltungs­kosten besonders hart getroffen worden sind.

Indonesien selbst ist eines der Länder in der Region Südostasien, die von Covid-19 am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Insbesondere während der Delta-Welle haben hohe Ansteckungs- und Todesraten und lange Lockdowns zu schwe­ren wirtschaftlichen Einbrüchen geführt. In der Folge nahmen Armut und Mangel­ernährung landesweit zu. Und auch die ökonomischen Kollateralschäden des Krieges in der Ukraine sind für Indonesien bereits beträchtlich. Die gestiegenen Ener­gie- und Nahrungsmittelpreise und die Abschwächung der weltweiten Nachfrage treffen eine Volkswirtschaft, die ohnehin mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise und strukturellen Problemen, unter anderem mit einem starken regio­nalen Entwicklungsgefälle, einer maroden Infrastruktur, einer wachsenden Staats­verschuldung und der Abwertung der Rupiah, zu kämpfen hat.

Als Präsident, für den die wirtschaftliche Weiterentwicklung Indonesiens oberste Priorität besitzt, ist Jokowi sehr daran ge­legen, ebendiese Agenda auf dem G20-Gipfel weitgehend unabhängig von den Entwicklungen in der Ukraine weiter zu verfolgen. Die Erwartung Jakartas ist es denn auch, dass alle G20-Mitglieder kon­struktiv an einer globalen Strategie für einen Post-Covid-Wiederaufschwung mit­arbeiten. Unter anderem durch seine Reise nach Kiew und Moskau hat Jokowi gezeigt, dass seine Regierung bereit ist, dafür diplo­matisch aktiv zu werden. Der westlichen Er­wartung, eine russlandkritischere Haltung einzunehmen – wenn nicht durch eine Änderung der offiziellen G20-Agenda, dann zumindest durch entsprechende Aktivitäten am Rande des Gipfels – dürfte sich die Jokowi-Regierung aus den genannten Eigen­interessen heraus weiter verweigern.

Allerdings hat das G20-Außenminister­treffen ebenfalls gezeigt, dass Jakarta sich Diskussionen über die globalen wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine nicht verschließen kann und will. Dieser Umstand könnte von deutscher bzw. euro­päischer Seite dazu genutzt werden, die Debatte über die ökonomischen Kollateralschäden der Invasion – und auch jener der Sanktionen gegen Russland – mit Fragen der künftigen europäischen Sicherheits­ordnung, des Konfliktmanagements in der Ukraine und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu verknüpfen. Darüber hinaus­gehend ist jedoch damit zu rechnen, dass Indonesien aus eigener Sicht weiter »zwi­schen den Riffen segeln« und somit im Auge externer Betrachter weiter zwischen allen Stühlen sitzen wird.

Dr. Felix Heiduk ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien.

Tom Wilms ist Praktikant in der Forschungsgruppe Asien.

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