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Indisch-pakistanische Beziehungen im Schatten der Seidenstraßeninitiative

Die Entkoppelung beider Staaten schreitet voran

SWP-Aktuell 2019/A 40, 19.07.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A40

Forschungsgebiete

Die seit Mai 2019 erneut amtierende Regierung des indischen Premierministers Narendra Modi und die im August 2018 angetretene Regierung seines pakistanischen Amtskollegen Imran Khan stehen für eine Neuausrichtung der politischen Systeme und der Außenpolitik ihrer Länder. Zugleich verändert die chinesische Seidenstraßen­initiative (Belt and Road Initiative – BRI) fundamental die außenpolitischen Konstellationen Indiens und Pakistans. Welche Szenarien ergeben sich daraus für ihr bilate­rales Verhältnis, für regionale Konflikte wie Kaschmir und für regionale Organisationen wie die South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC)?

Die indisch-pakistanischen Beziehungen werden seit 1947 vor allem vom Streit über die Zugehörigkeit Kaschmirs bestimmt. Der Konflikt hatte drei Kriege zur Folge. Um ihn beizulegen, wurden verschiedene internatio­nale Vermittlungsversuche unternommen, Resolutionen des Sicherheitsrats der Verein­ten Nationen (VN) verabschiedet und zahl­lose bilaterale Verhandlungen geführt.

Diverse nationale und internationale Entwicklungen, vor allem die BRI, haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich Kasch­mirs Bedeutung und damit das in­disch-pakistanische Verhältnis wandeln.

Nach Modis Amtsantritt 2014 sah es zu­nächst nach einer neuen Phase der Annähe­rung Indiens an Pakistan aus. Im Rahmen seiner »Neighbourhood First«-Politik lud Modi den damaligen pakistanischen Pre­mierminister Nawaz Sharif zu seiner Amts­einführung ein und überraschte mit einem kurzfristig anberaumten Besuch in Pakistan im Dezember 2015.

Die bilateralen Beziehungen: Entkoppelung statt Annäherung

In Reaktion auf die anhaltenden Terror­anschläge vollzog die indische Politik im Verlauf des Jahres 2016 einen »Bruch« mit Pakistan. Im Januar 2016 kam es wenige Tage nach Modis Besuch in Pakistan zu einem schweren Anschlag im indischen Pathankot. Indien reagierte im September 2016 auf einen Anschlag in Uri im Bun­desstaat Jammu und Kaschmir mit Kom­mandooperationen gegen terroristische Einrichtungen im pakistanischen Teil Kaschmirs.

Seitdem gibt es keine Anzeichen dafür, dass die indische Regierung jenseits regu­lärer diplomatischer Beziehungen an einer weitergehenden Annäherung an Pakistan interessiert ist. Verschiedene indische Minister haben deutlich gemacht, dass es keinen Dialog mit Pakistan geben wird, solange der Terror anhält.

Auf pakistanischer Seite war eine gegenläufige Bewegung zu beobachten. Die neue Regierung von Imran Khan warb für eine Annäherung an Indien und sprach sich für den Ausbau des beiderseitigen Handels aus. Dies war ein deutlicher Wandel, denn Pakistan hatte es jahrzehntelang abgelehnt, Handel mit Indien zu treiben, solange der Kaschmirkonflikt nicht gelöst sei. Khans Initiative ist umso bemerkenswerter, als er die Rückendeckung des Militärs genießt, das jahrelang die Annäherung an Indien sabo­tiert hatte, unter anderem mit dem Krieg in Kargil 1999. Als Pakistan 2018 einen Korri­dor für Sikh-Pilger in Kartarpur neu einrich­tete, wurde dies als Startpunkt für einen neuen Dialog mit Indien gesehen. Indien be­fürwortete zwar den Korridor, lehnte aber weitergehende Gespräche ab. Beim Gipfel­treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) im Juni 2019 hoffte Khan vergeblich auf ein Treffen mit Modi.

Der Sinneswandel in Pakistan ist auf ver­schiedene Faktoren zurückzuführen. In der schlechten wirtschaftlichen Lage sieht auch die Armee ein Sicherheitsrisiko. Die Zah­lungs­bilanzkrise machte ein neues Abkom­men mit dem Internationalen Währungs­fonds (IWF) notwendig. Der IWF bestand darauf, dass die Regierung in Islamabad die Forderungen der Financial Action Task Force (FATF) umsetzt, entschiedener und härter gegen Terrorfinanzierung vorzugehen.

Regionale Konflikte: Die gewandelte Bedeutung Kaschmirs

Die Entkoppelung der indisch-pakista­nischen Beziehungen ist vermutlich auch mit Veränderungen in Bezug auf die Kasch­mirfrage verknüpft. Ein zentraler Auslöser ist der China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), das größte Einzelprojekt im Rah­men der BRI. Der CPEC verläuft durch den pakistanischen Teil Kaschmirs, den formal Indien beansprucht, seitdem der ehemalige Für­stenstaat im Oktober 1947 der Indischen Union beigetreten ist.

Offiziell sieht Pakistan ganz Kaschmir als »umstrittenes Gebiet« im Sinne der Reso­lutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (VN). Über dessen endgültige Zu­gehörigkeit soll in einem Referendum ent­schieden werden, das ursprünglich Indien vorgeschlagen hatte. Die VN-Resolutionen haben inzwischen aber aus mehreren Gründen an Bedeutung verloren. Erstens ist China seit Anfang der 1960er Jahre Kon­flikt­partei, da es spätestens seit dem Grenz­krieg mit Indien 1962 Teile Kaschmirs besetzt hält und Pakistan ihm 1963 vertrag­lich weitere Gebiete Kaschmirs zusprach. Zweitens verständigten sich Indien und Pakistan nach dem Krieg von 1971 im Frie­densvertrag von Shimla (1972) darauf, offene Probleme ausschließlich bilateral zu verhandeln. Das hat Pakistan aber in der Folge nicht davon abgehalten, die Kaschmirfrage zu internationalisieren, beispielsweise durch die Provokation regionaler Krisen wie 1999, die Unterstützung mili­tanter Gruppen in Kaschmir oder die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen indischer Sicherheitskräfte.

Bei einem geschätzten Investitionsvolumen von 50 bis 60 Milliarden US-Dollar für den CPEC setzt China ganz offenkundig dar­auf, den Status quo in Kaschmir beizube­halten: die Teilung in einen indischen und einen pakistanischen Teil und in die von China kontrollierten Gebiete. Dieser Status-quo-Ansatz widerspricht aber sowohl der in­dischen wie der pakistanischen Position.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der CPEC ein deutlich größeres Pro­blem für die pakistanische Kaschmirpolitik darstellt als für die indische, gilt doch China in Pakistan als »Allwetterfreund« und ist Beijing für die Regierung in Islamabad einer der wenigen offiziellen strategischen Partner. Allerdings ist die chinesische Poli­tik insofern konsistent, als China in früheren indisch-pakistanischen Krisen immer wieder bilaterale Gespräche vorgeschlagen hatte. Damit hat es de facto die indische Position unterstützt, nicht aber die pakistanische.

Daneben sieht sich Pakistan von der in­ternationalen Gemeinschaft massiv unter Druck gesetzt, nach den Vorgaben der Finan­cial Action Task Force (FATF) gegen die Finanz­ströme terroristischer Gruppen und ihrer Netzwerke im eigenen Land vorzuge­hen. Die Unterstützung militanter Gruppen war indes ein zentrales Instrument der pa­kis­tanischen Kaschmirpolitik, die maßgeb­lich von den Streitkräften bestimmt wurde.

Der frühere Präsident Musharraf hatte 2016 öffentlich eingeräumt, dass der Ge­heimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) und Jaish-e-Mohammed (JeM) ausgebildet hatte. Die Armeeführung nutzte diese Grup­pen jahrzehntelang, um ihre außen­politischen Interessen gegenüber Afghanistan und Indien durchzusetzen. Die JeM hatte im Februar 2019 noch die Verant­wortung für einen Anschlag im indischen Kaschmir übernommen. Obwohl die genannten Gruppen in Pakistan verboten sind, konnten deren Nachfolgeorganisa­tionen und ihre Anführer weitgehend ungehindert operieren.

Angesichts der drohenden Sanktionen durch die FATF, die Pakistans internatio­nale Kreditwürdigkeit beeinträchtigen würden, hat die Regierung seit Anfang 2019 eine Reihe von Maßnahmen gegen ver­botene Organisationen getroffen. China, ebenfalls Mitglied in der FATF, bil­ligte nach jahrelanger Blockade im Mai 2019, dass Masood Azhar, der Führer der JeM, in die Terrorliste der VN aufgenommen wurde. Damit signalisierte Beijing, dass es die pakistanische Politik hinsichtlich militanter Gruppen nicht länger mittragen werde.

Indien steht in der Kaschmirfrage hin­gegen vor anderen Herausforderungen. Selbst wenn die Unterstützung militanter Gruppen durch Pakistan nachlassen sollte: Im indischen Kaschmir ist seit 2016 eine lokale Radikalisierung zu beobachten. Auch pan-islamistische Gruppen wie al‑Qaida und der »Islamische Staat« versuchen diese für ihre Agenda auszunutzen. Die Zentralregierung in Neu-Delhi setzte die Landesregierung im Dezember 2018 ab. Damit ist derzeit kein politischer Dialog möglich, in deren Rahmen eine gewählte Landesregierung die moderaten Teile der Protestbewegung von den militanten Gruppen trennen könnte.

Im Streit über die Zugehörigkeit Kaschmirs hatte Indien in früheren Verhand­lungen mit Pakistan signalisiert, dass auch der Status quo eine Lösung sein könnte: die dauerhafte Teilung des Gebiets. Doch seitdem Premierminister Modi 2014 sein Amt übernommen und CPEC 2015 offiziell begonnen hat, scheint sich auch die in­dische Position zu wandeln.

China hat wiederholt großes Interesse geäußert, dass Indien Teil der BRI wird. So schlug der chinesische Botschafter in Indien 2017 vor, den Namen des CPEC zu ändern und einen Korridor durch Kaschmir nach Indien zu legen, sollte Indien der BRI bei­treten. Indien hat bislang jedoch alle chinesischen Angebote ausgeschlagen. Aus Sicht Neu-Delhis verletzt CPEC die nationale Souveränität Indiens, da er durch den pa­kis­tanischen Teil Kaschmirs verläuft, den Indien beansprucht. Anders als seine Vor­gänger sprach Modi zudem wiederholt die Menschenrechtslage in Gilgit-Baltistan an, dem pakistanischen Teil Kaschmirs. Modi bekräftigte damit indirekt Indiens traditionelle Position, dass ganz Kaschmir Teil der Indischen Union ist. Angesichts der strate­gischen Bedeutung Gilgit-Baltistans für den CPEC könnte Kaschmir für Indien künftig weniger ein bilaterales Problem mit Pakis­tan sein, sondern ein Bestandteil der Aus­einandersetzungen mit China.

CPEC könnte manchen außenpolitischen Entscheidungsträgern in Neu-Delhi auch als willkommener Anlass dienen, eine Teil­nahme an der BRI aus Gründen der natio­nalen Souveränität abzulehnen. Wirtschaftlich wäre ein Mitwirken an der BRI für In­dien durchaus attraktiv, um damit weitere chinesische Investitionen in den Aufbau der Infrastruktur zu gewinnen. Politisch wäre eine Teilnahme Indiens jedoch nur als Juniorpartner Chinas möglich, was für Neu-Delhi angesichts der von Indien be­anspruchten Gleichrangigkeit beider Staa­ten inakzeptabel wäre.

Regionale Kooperation: Das Ausklingen von SAARC

Das offensichtlichste »Opfer« der BRI und der gewandelten indisch-pakistanischen Beziehungen ist die regionale Kooperation im Rahmen der SAARC. Die 2006 von den SAARC-Mitgliedern vereinbarte South Asian Free Trade Area (SAFTA) brachte bislang keinen nennenswerten Anstieg des intra-regionalen Handels. 2015 lag er bei ledig­lich knapp über sechs Prozent des gesam­ten Handels der Region. Durch die chine­sischen BRI-Investitionen wird eher der bilaterale Handel der einzelnen Staaten mit China gefördert, weniger der intraregionale Warenaustausch. Das Volumen des direk­ten Handels zwischen Indien und Pakistan ist aufgrund ihrer bilateralen Probleme ohne­hin nur gering.

Indien scheint, als Teil seiner Strategie der Entkoppelung von Pakistan, ebenfalls sein Interesse an SAARC verringert zu haben. Nach dem Anschlag in Uri im Sep­tember 2016 boykottierte Neu-Delhi den SAARC-Gipfel in Islamabad. Zugleich for­cierte die indische Regierung eine Wiederbelebung der 1997 gegründeten Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Tech­nical and Economic Cooperation (BIMSTEC). Im Rahmen des Gipfels der BRICS-Staaten (Bra­silien, Russland, Indien, China, Süd­afrika) in Goa im Oktober 2016 organisierte Indien kurzfristig auch ein Programm mit den BIMSTEC-Staaten, zu denen auch SAARC-Mitglieder gehören.

Seit dieser Zeit hat es eine Reihe von Aktivitäten und Initiativen in der BIMSTEC gegeben. Zu seiner zweiten Amtseinführung 2019 lud Modi Staats- und Regierungschefs der BIMSTEC ein. Damit unterstrich er einmal mehr das Interesse Indiens, mit­tels seiner »Act East«-Politik die Beziehun­gen mit Ost- und Südostasien zu intensi­vieren. In einer solchen Konstellation wür­de Pakistan für Indien keine Rolle mehr spielen.

Ausblick

Die Seidenstraßeninitiative hat Bewegung in die indisch-pakistanischen Beziehungen und den Kaschmirkonflikt gebracht. Dabei ist es für Pakistan, auch bedingt durch den wach­senden Druck der internationalen Gemeinschaft in Form des IWF oder der FATF, deutlich schwieriger geworden, seine bisherige Kaschmirpolitik unter diesen Bedingungen fortzusetzen.

Für Indien ist China und die BRI schon seit langem eine deutlich größere strategische Herausforderung, die nun auch zuneh­mend die Kaschmirfrage überlagert. Pakis­tan bleibt zwar angesichts der Angriffe terroristischer Gruppen ein sicherheits­politisches Problem, doch ist über reguläre diplomatische Beziehungen hinaus in Indien kein Interesse an einem neuen Dia­logformat erkennbar, um bilaterale Fragen wie Kaschmir, Terrorismus oder Handel zu erörtern. Kaschmir bleibt ungeachtet dessen ein Krisenherd, solange die Regierung in Neu-Delhi keine Strategie erkennen lässt, wie sie der lokalen Unzufriedenheit in Kaschmir politisch begegnen will.

Für die deutsche und europäische Politik bedeutet dies, dass sie sich künftig viel­leicht weniger mit regionalen Konflikten wie Kaschmir oder regionalen Organisationen wie SAARC befassen muss. Dagegen werden innenpolitische Fragen wie Men­schenrechte, die Rolle von Minderheiten, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Arbeitsbedingungen für westliche Nicht­regierungsorganisationen und ihre zivil­gesellschaftlichen Partnerorganisationen zu einer größeren Herausforderung für Deutschlands und Europas Umgang mit Indien und Pakistan.

Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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