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Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau: Worauf geachtet werden müsste

Kurz gesagt, 28.10.2019 Forschungsgebiete

Politik braucht mehr Vorausschau-Kompetenz – doch wer kann diese bereitstellen? Entscheidend ist, dass Zukunftsszenarien unabhängig entstehen und politikrelevant sind, meint Lars Brozus.

In der Bundespolitik wächst die Frustration darüber, immer wieder mit Ereignissen auf internationaler Ebene konfrontiert zu werden, die strategische Interessen berühren, ohne strategisch durchdacht zu sein. Jüngstes Beispiel ist der Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien, der mit der militärischen Intervention der Türkei im Nachbarland einherging. Regierung und Parlament in Berlin befürchten eine erneute Destabilisierung Syriens, die sich auf die gesamte Region auswirken könnte.

Solche Ereignisse drohen sich zu häufen, weil die Erosion der regelbasierten internationalen Ordnung Staaten dazu anspornt, ohne Abstimmung mit anderen zu handeln. Vor diesem Hintergrund fordern Wissenschaftler und Politiker in Deutschland mehr strategische Vorausschau. Mit deren Hilfe sollen sich Bundesregierung und Bundestag besser auf denkbare künftige Herausforderungen vorbereiten, um im Falle ihres Eintretens strategischer, schneller und effektiver handeln zu können.

Wie strategische Vorausschau in der Politik verankern?

Dass Berlin mehr Vorausschau-Kompetenz benötigt, ist in der deutschen Wissenschaft und Politik weitgehend unstrittig. Unterschiedliche Vorstellungen gibt es jedoch darüber, welches Modell dabei zugrunde gelegt werden sollte. Die vorgeschlagenen Varianten reichen von einem strategischen Zentrum der Regierung, das ähnlich dem amerikanischen »National Security Council« die auswärtigen Interessen Deutschlands bündelt und gesamtstaatlich koordiniert, bis hin zu einem Parlamentsausschuss, der angelehnt an das finnische Vorbild des »Ausschusses für die Zukunft« gesellschafts- und staatspolitisch relevante Zukunftsfragen behandelt.

Beide Varianten lassen sich indes nur eingeschränkt auf die deutsche politisch-institutionelle Landschaft übertragen. Würde das »National Security Council«-Modell etabliert, ließe sich kaum vermeiden, dass die bislang mit der Wahrnehmung der auswärtigen Angelegenheiten Deutschlands betrauten Ressorts Kompetenzen, Macht und Ressourcen abgeben müssten. Entsprechend hartnäckig fällt der Widerstand gegen Vorschläge aus, die eine Zentralisierung fordern – nicht zuletzt, weil dadurch das Ressortprinzip verletzt würde, das die Eigenständigkeit der Ministerien festschreibt.

Ein Parlamentsausschuss wie der finnische »Ausschuss für die Zukunft«, der kein Ministerium unmittelbar spiegelt, steht dem Regierungshandeln zwar ferner; er bietet damit aber die Möglichkeit, sich unabhängiger von der Tagespolitik mit langfristigen Entwicklungen und Herausforderungen auseinanderzusetzen. Dennoch bildet er die vielfältigen Strömungen der Politik ab und wäre damit dem demokratischen Wettbewerb um Themensetzung und Profilierung ausgesetzt. Das mag im finnischen Fall aufgrund einer vergleichsweise stark ausgeprägten Konsensorientierung eine geringere Rolle spielen. Im deutschen politischen Umfeld, das deutlich kompetitiver ausfällt, ließe sich die parteipolitische Vereinnahmung von Zukunftsfragen wohl nur schwerlich vermeiden. Beobachten lässt sich dies bei der Expertenbenennung zu Sachverständigenanhörungen: Selten erfolgt diese ohne Berücksichtigung des politischen Proporzes.

Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau stellt eine dritte Variante dar, die diskutiert wird. Er könnte ein vom Bundestag mandatiertes Gremium sein, das von der Nähe zum politischen Prozess profitiert, ohne den Widrigkeiten parteipolitischer Abgrenzungskämpfe zu unterliegen.

Politisch relevant, aber nicht politisiert

Für dieses Modell spricht einiges. Ein unabhängiges Gremium könnte sich ungebundener mit heiklen Fragen befassen, als dies der Regierung möglich ist. Wolfgang Schäuble hat das politische Dilemma mit Blick auf den Mauerfall 1989 kürzlich in einem Interview auf den Punkt gebracht: Die damalige Bundesregierung konnte auf eine solche Entwicklung gar nicht vorbereitet sein. Denn wären Überlegungen über ein mögliches Ende der DDR bekannt geworden, hätte dies gravierende Auswirkungen auf die innerdeutschen Beziehungen und darüber hinaus haben können.

Dennoch sind Entscheidungsträger gut beraten, auf denkbare Entwicklungsszenarien zugreifen zu können. Würden strategische Überlegungen etwa über die Implikationen einer weitergehenden Erosion der EU, militärischer Auseinandersetzungen am Persischen Golf oder von staatlich veranlassten Cyberattacken auf die nationale Infrastruktur in einem unabhängigen Sachverständigenrat thematisiert, hätte die Regierung diese potenziellen Ereignisse im Blick und zugleich die Möglichkeit, sich glaubhaft davon zu distanzieren – in der Politik ist »Deniability« eine wichtige Option.

Ein dem Parlament verbundener Sachverständigenrat bietet einerseits hinreichend Distanz zur Regierung, um heikle strategische Überlegungen als vielleicht interessante, aber politisch irrelevante Gedankenexperimente hinstellen zu können. Andererseits ist der Bundestag dicht genug am operativen Geschäft, so dass solche Überlegungen mit größerer Aufmerksamkeit rechnen können, als dies den meisten außerhalb der Politik entstandenen Vorausschau-Produkten gelingt.

Ein weiteres Argument für eine gewisse Parlamentsnähe besteht darin, dass sich der Sachverstand des Bundestages für strategische Vorausschau nutzen ließe. Die thematisch arbeitenden Ausschüsse konsumieren und produzieren eine ganze Menge Wissen über strategisch relevante Politikfelder. Auch die Kompetenz der Parlamentariergruppen, die den Bundestag mit praktisch allen Ländern und Regionen weltweit vernetzen, ließe sich dafür nutzen, strategische Vorausschau zu bereichern.

Wie sollte ein solcher Sachverständigenrat zusammengesetzt sein, um seiner Aufgabe nachkommen zu können? An erster Stelle ist hier eine Vielfalt der Perspektiven anzustreben. Dabei geht es um fachspezifische Merkmale wie unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, die berücksichtigt werden sollten. Ebenso geht es um soziokulturelle Eigenschaften wie Alter, Gender, ethnischer, kultureller und sozialer Hintergrund. Und nicht zuletzt geht es auch um unterschiedliche kognitive wie auch emotionale Charakterzüge und politische Einstellungen, die bei der Besetzung eine Rolle spielen sollten. Diese Faktoren müssten angemessen berücksichtigt werden, um ein facettenreiches Bild von denkbaren künftigen Entwicklungen und ihren strategischen Implikationen entwerfen zu können.