Direkt zum Seiteninhalt springen

Die arktische Sicherheitspolitik der USA

Amerikanische Arktisstrategien, russische Hybris und chinesische Ambitionen

SWP-Aktuell 2023/A 26, 05.04.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A26

Forschungsgebiete

Im Unterschied zu seinen Vorgängern hat US-Präsident Joe Biden schon früh in seiner Amtszeit wichtige Entscheidungen getroffen, um eine bessere Koordination der ameri­kanischen Arktispolitik zu ermöglichen. Dazu zählt auch die nationale Arktis­strate­gie. Sie kam infolge des russischen Angriffskriegs später als geplant: Russland hat damit die wenigen, noch verbliebenen Hoffnungen auf Zusammenarbeit zerstört und die Arktis zu einem Thema der Sicherheitspolitik gemacht. Alaska steht als der nördlichste Bundesstaat naturgemäß im Mittelpunkt der US-Arktispolitik, die zu­nehmend auch chinesische Aktivitäten berücksichtigen muss. Zuletzt entdeckte die US-Küstenwache im September 2022 chinesische und russische Kriegsschiffe vor Alaska. Derzeit steht nur ein einziger US-Eisbrecher kontinuierlich für die Arktis zur Verfügung, der die Souveränität im Eismeer schützen und Seeräume mit Eisbedeckung überwachen kann. Der US-Bundesstaat lag auch auf der Route des chinesischen Spio­nageballons, der im Februar 2023 abgeschossen wurde. Gibt es nun nach Jahr­zehnten man­gelnder Aufmerksamkeit eine engagiertere Sicherheitspolitik der USA in der Arktis?

Alaska ist mit einer Ausdehnung von 1,7 Mil­lionen Quadratkilometern die flächen­mäßig größte Exklave der Welt. Seine Anbindung an das Zentrum ist für die Vereinigten Staaten nach wie vor ein aufwendiges Unternehmen – wenn auch in geringerem Maße als einst Russisch-Amerika für das Zarenreich. Seitdem die Vereinigten Staaten von Amerika 1867 den heutigen Bundesstaat Alaska für 7,2 Millionen Dollar vom zaristischen Russland erworben haben, sind sie ein Arktisanrainer. Allerdings liegt mit 15 Prozent der geringste Teil ihres Territo­riums jenseits des nördlichen Polarkreises (im Gegensatz zu Russland mit 45 Prozent).

Dies ist eine der Ursachen dafür, dass die meisten US-Amerikanerinnen und Amerika­ner keinen Bezug zur Arktis haben. In einer Umfrage vom letzten Quartal 2019 waren sie daher mehrheitlich »nicht ganz ein­verstanden« mit der Behauptung, dass die Vereinigten Staaten eine arktische Nation mit umfassenden und grundlegenden Inter­essen in der Region seien. Wenn US-Bürge­rinnen und Bürger befragt werden, welche Assoziationen sie mit der Arktis verbinden, werden keine nationalen Belange genannt, son­dern am häufigsten Kälte, Eis und Klima­wandel. Die meisten halten Abstand zu Alaska, das erst im Januar 1959 als 49. Bun­desstaat aufgenommen wurde und den Beinamen »Last Frontier« trägt. Auch sicher­heitspolitisch stand Alaska als nördlichster Bundesstaat buchstäblich am Rande. Emi­nente politische und wirtschaftliche Bedeu­tung hat die Ölförderung, seit im Jahr 1968 mit Prudhoe Bay Oil Field die größte Erdöl­lagerstätte in Nord­amerika entdeckt wurde. Die Ölproduktion liefert den Hauptteil der Einnahmen des Bundesstaats.

Die Unterstützer einer aktiven Arktis­politik waren daher lange auf sich allein gestellt. Seit 2009 versuchten sie erfolglos, den US-Kongress zur Bewilligung neuer Eis­brecher zu bewegen. Darum bemühte sich auch die republikanische Senatorin Lisa Murkowski aus Alaska, die den Staat seit 2002 vertritt. Vor allem ihr ist es zu ver­danken, dass 2015 mit dem Arctic Caucus der erste Ausschuss im Kongress etabliert wurde, der die Aufmerksamkeit auf die Politik im hohen Norden lenkt.

Andere politische Repräsentanten Alaskas versuchten, die sicherheitspolitische Bedeutung ihres Staates hervorzuheben: »Alaska is America’s Arctic guardian«, er­klärte Gouverneur Sean Parnell (2009–14), und sein Nachfolger William Walker wies Präsident Barack Obama auf einem Flug nach Anchorage im September 2015 auf die größte Aufrüstung des russischen Militärs seit dem Kalten Krieg hin. Das Pentagon vertrat dagegen noch im Dezember 2016 die Auffassung, dass die Arktis ein Gebiet der Kooperation bleibe, selbst wenn es gewisse Reibungen mit Russland wegen der Seewege gebe – eine milde Beschreibung höchst kontroverser Auffassungen über die Nordostpassage.

Klimaveränderung, Konflikte über Seewege und Großmachtrivalität als Treiber des Wandels

Das klimabedingte Abschmelzen des Meer­eises, die damit einhergehende Öffnung arktischer Seewege und die sich verschärfende Großmachtrivalität haben die Wahr­nehmung des Nordpolargebiets verändert. Im Unterschied zu früheren Regierungen maß die Administration von Donald Trump der nordpolaren Region nun »relative Priori­tät« zu. Außenminister Mike Pompeo beför­derte sie im Mai 2019 zur geopolitisch be­deutsamen »Arena« im Kampf um Macht und Einfluss, in der ein »neues Zeitalter des strategischen Engagements« anbreche. Die­ser wortreichen und etwas voreiligen Über­höhung der Arktis folgten Strategiepapiere der Teilstreitkräfte, die viele Allgemein­plätze, aber wenig konkrete Maßnahmen enthalten.

Die im Juni 2019 veröffentlichte Arktis­strategie des Pentagon wich aber eklatant vom früheren kooperativen Ansatz ab und richtete gleich eingangs den Fokus auf »China und Russland als zentrale Herausforderung für langfristige Sicherheit und Wohlstand der USA«. Die Arktis sei, so heißt es in der Diktion des Kalten Krieges, »ein potentieller Vektor für einen Angriff auf das US-Heimatgebiet«. In den Mittelpunkt der Bedrohungsperzeption waren neben Russland nun auch die Streitkräfte Chinas geraten. In der US-Marine­strategie »Blue Arctic« werden »zunehmende Ein­sätze der chinesischen Marine in, unter und über arktischen Gewässern« erwartet. Wegen des im Vergleich zu anderen Staa­ten extrem hohen Tempos der militärischen Aufrüstung Chinas erhalten maritime Lage­bilder und die U-Boot-Kriegsführung wieder eine hohe Priorität.

Im September 2022 entdeckte ein Schiff der US-Küstenwache (U.S. Coast Guard, USCG) wieder einmal unerwartet russische und chinesische Kriegsschiffe – eines der sieben Schiffe war der neueste Lenkwaffen­zerstörer vom Typ 055 Nanchang –, die im Beringmeer innerhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone der USA navigierten. USCG-Vizeadmiral Kevin Lunday erklärte später, es sei wichtig gewesen, dass USCGC Kimball vor Ort war – was als Eingeständnis der mangelnden Anzahl von Schiffen gelten kann, die der US-Küstenwache zum Schutz amerikanischer Souveränität im Nordpolar­meer zur Verfügung stehen. Es gibt auf amerikanischer Seite beträchtliche Defizite bei der Aufklärung in der Arktis. Jenseits des 72. Breitengrads, so bekannte der ehe­malige Chef der USCG, Admiral Paul Zu­kunft, werde es »ziemlich dunkel«.

Schon im September 2015 hatten fünf chinesische Kriegsschiffe die Gewässer vor Alaska durchquert und seit 2021 kreuzen Pekings Seestreitkräfte immer wieder vor dem nördlichsten US-Bundesstaat – nun auch im Verbund mit Schiffen der russi­schen Marine. Die US-Küstenwache warnte daher mit Blick auf China und dessen Ver­halten im Südchinesischen Meer, dass die Volksrepublik auch in der Arktis bemüht sein könnte, die Freiheit der Schifffahrt einzuschränken.

Die Arktispolitik der Biden‑Administration

Präsident Biden war zu Beginn seiner Amts­zeit mit einer langen Reihe innen- und außenpolitischer Probleme konfrontiert. Manche befürchteten daher, dass die Arktis­politik wieder in einer Ecke im Außen­ministerium verstauben werde. Im Pentagon ist die Nordpolarregion einer von vielen unterfinanzierten Zuständigkeitsbereichen, der mit dem Indopazifik als Brennpunkt sino-amerikanischer Rivalität konkurriert. Anders als viele martialische Dokumente der Trump-Zeit signalisierte die US-Marine­strategie noch im Jahr 2020 Entspannung mit Blick auf die Arktis.

In Unterschied zu seinen Vorgängern traf Biden aber schon frühzeitig Entscheidungen, die eine bessere Koordination der Arktispolitik erlauben: Im September 2021 reaktivierte die Administration das Arctic Executive Steering Committee (AESC) unter Leitung von David Balton und verankerte es im Weißen Haus. Außerdem berief sie sechs Personen in die U.S. Arctic Research Commission (USARC) unter Vorsitz von Mike Sfraga, der von Biden auch zum Ko­ordinator für die Arktis im Botschafterrang nominiert wurde. Generalmajor a.D. Randy »Church« Kee ist seit 2021 Senior Advisor for Arctic Security Affairs und leitet das neue Ted Stevens Center for Arctic Security Studies in Anchorage. Im September 2022 wurde im Pentagon eine Arktisabteilung unter Leitung von Iris Ferguson etabliert. Ähnlich wie Pompeo betrachtet Ferguson die Arktis als »potentiellen Zugang zum Heimatland und als potentiellen Schauplatz für den Wettbewerb der Großmächte«.

Alaska und Russlands Angriffskrieg

Gleichermaßen skurril und aufschlussreich für den Zustand der amerikanisch-russi­schen Beziehungen ist die von einem Berater Putins geäußerte Idee, als Kompensation für Schäden, die durch Sanktionen und den Krieg selbst verursacht wurden, eine »Rück­gabe« Alaskas zu fordern. Aber zum einen ist die Verwechslung von Ursache und Wir­kung signifikant – Russland muss selbst für die Kosten seines Angriffskriegs auf­kommen. Zum anderen wurde Alaska 1867 nicht von den USA »beschlagnahmt«, wie der Vorwurf lautet. Der Verkauf Russisch-Amerikas war aus Sicht damaliger russischer Akteure eine sehr rationale Entscheidung und entsprach dem geringen Inter­esse, das der entlegenen Kolonie in der da­maligen Haupt­stadt Sankt Petersburg noch entgegengebracht wurde: Das russische Engagement im Nordpazifik hatte sich aus der Perspektive des imperialen Zentrums mehr und mehr zur Belastung entwickelt: Das »auf Expansion, Ausbeutung und Unter­werfung basierende Herrschaftsmodell des russischen Staates« (Robert Kindler) war an seine Grenzen gestoßen; das Imperium konnte seine arktische Kolonie weder ver­sorgen noch verteidigen.

Ein ähnliches Desinteresse hat Washington lange im Hinblick auf Alaska im All­gemeinen und auf arktische Einsatzmittel wie Eisbrecher im Besonderen gezeigt. Nun will es sich stärker in der Nordpolarregion engagieren, wozu auch Russlands Krieg bei­getragen hat.

Der Angriff auf die Ukraine hat für Mos­kau viele kontraproduktive Wirkungen ge­zeitigt, darunter eine Stärkung der EU und der Nato sowie eine Erweiterung der Allianz um Finnland und Schweden, zwei ehemals militärisch neutrale Arktisstaaten. In Washington zwang der Krieg Präsident Biden zu einer grundlegenden Revision sei­ner Politik: Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Biden eine stabile Beziehung mit Russland angestrebt, um den Fokus auf China als maßgeblichen Konkurrenten im strategischen Wettbewerb legen zu können. Zur Freude Putins nannte Biden bei ihrem Treffen in Genf im Juni 2021 Russ­land und die USA »zwei große Mächte« und revidierte damit Obamas frühere Herabwürdigung Russlands zu einer Regionalmacht (wobei zugleich die Großmachtrivalität als Leit­prinzip aufgegeben wurde). Die Arktis galt als eine Region, in der die beiden gewichtigen Akteure zusammenarbeiten könnten, trotz erheblicher Meinungsunterschiede in anderen Bereichen. Damit war die vage Hoffnung verbunden, dass sich Putin in seinem außenpolitischen Verhalten mäßi­gen werde, da er nun die ihm so wichtige Anerkennung als ebenbürtige Macht erhal­ten hatte – was sich als falsch erwies.

Als Folge des Angriffskriegs ist die Zusammenarbeit zwischen Russland und den USA in der Arktis nahezu vollständig zum Erliegen gekommen; Ausnahmen sind die weiter notwendige Kooperation zwischen der US-Küstenwache und dem russischen Grenzschutz auf beiden Seiten der Bering­straße und die Aufrechterhaltung vertrag­licher Verpflichtungen, die sich unter ande­rem aus dem Abkommen über den Such- und Rettungsdienst für die Luft- und See­fahrt ergeben.

Die neue Arktisstrategie der USA

Trotz der Spannungen mit Russland wird in der neuen nationalen Arktisstrategie vom Oktober 2022 die Vision einer friedlichen, stabilen und prosperierenden Arktis be­schworen, deren Geschicke kooperativ ge­lenkt werden. Ohne die Sicherheitsrisiken unterschätzen zu wollen, bleibt das Nord­polargebiet in der Tat eine Region, in der die Lage im Vergleich zu anderen Welt­regionen friedlich ist. In diesem Sinne fol­gen die USA einer Doppelstrategie: Einer­seits sind sie entschieden, aggressives Ver­halten Russlands oder Chinas einzuhegen, ande­rer­seits wollen sie Stabilität – auch und gerade in der Arktis – erhalten, um zu einem späteren Zeitpunkt zur Kooperation zurückkehren zu können. Der Angriffskrieg macht es Washington jedoch unmöglich, die Politik Moskaus in der Arktis vom Krieg in Europa zu trennen. Die Arktische Zone ist zudem ein Unterpfand der chinesisch-russischen Zweckfreundschaft, wie die Ge­sprächsthemen beim Besuch von Xi Jinping in Moskau gezeigt haben: China will Zugriff auf Energie und die Nördliche Seeroute.

Während die Interim-Version der nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom März 2021 die Arktis gar nicht erwähnte, ist die Region nun zu einer nationalen Priorität geworden. Das macht es leichter, entsprechende Planungsprozesse und deren Finan­zierung anzugehen – wenngleich die Arktis in dem Dokument, was die sicherheitspoli­tische Aufmerksamkeit angeht, erst an letz­ter Stelle hinter dem Indopazifik, Europa, Nahost und Afrika rangiert.

Als die vier tragenden Pfeiler der Arktis­strategie werden genannt: An erster Stelle Sicher­heit (1), danach Klimawandel und Umweltschutz (2), nachhaltige wirtschaft­liche Entwicklung (3) sowie internationale Kooperation und Governance (4). Mit Blick auf das erste strategische Ziel, das dem Pfeiler Sicherheit gilt, nämlich »unser Ver­ständnis des operativen Umfelds in der Arktis zu verbessern«, platziert sich die USA allerdings im hinteren Feld des strategischen Wettbewerbs mit Russland und selbst China, das nicht nur Forschung in der Arktis vorantreibt, sondern bald sogar über mehr Eisbrecher als die USA verfügen könnte. Und während das Strategiepapier weitläufig auf den Klimawandel eingeht, wird der größere arktische Raum jenseits Alaskas ignoriert und soll US-Präsenz zur Abschreckung, Aufklärung und für Notfall­einsätze nur »wo notwendig« gezeigt wer­den – eine aus Sicht vieler Arktisexperten kurzsichtige Programmatik. Auch die im Oktober 2022 publizierte Strategie der Küstenwache bleibt vage.

In Übereinstimmung mit der Sicherheitsstrategie wird in der Arktisstrategie konsta­tiert, dass Russlands Krieg in der Ukraine geopolitische Spannungen in der Arktis erhöht und neue Risiken unbeabsichtigter Konflikte geschaffen habe. Allerdings bleibt die Sicherheitsstrategie vorsichtig, was kon­krete Präsenz in der Arktis betrifft. Die US-Verteidigungsstrategie ist an diesem Punkt ebenfalls zurückhaltend und wahrt ihren Fokus auf den Indopazifik. In der Arktis­strategie wird allgemein postuliert: »Wir werden Bedrohungen des US-Heimatlands und unserer Alliierter abschrecken, indem wir die Fähigkeiten verbessern, die zur Ver­teidigung unserer Interessen in der Arktis erforderlich sind.« Als Mittel dazu werden Investitionen in Aufklärung (Maritime Domain Awareness) und Eisbrecher genannt. Eine Eskalation soll vermieden werden, da es in den nächsten Jahren möglich sein könnte, die Zusammenarbeit mit Russland unter bestimmten Bedingungen wieder­aufzunehmen.

Wichtige Akzente setzt die Administra­tion in Sachen Klimawandel, indem sie die Resilienz indigener Völker zu stärken und klimaschädliche Emissionen zu reduzieren beabsichtigt. Entsprechend will sie den Energiesektor Alaskas diversifizieren und eine Energiewende einleiten. Zugleich wird aber anerkannt, dass die Wirtschaft im nördlichsten Bundesstaat von der Förderung fossiler Energieträger abhängig bleibt.

Im Kontext internationaler Kooperation und Governance soll der Arktische Rat als multilaterales Forum erhalten werden. Die Administration zeigt sich jedoch offen für neue bilaterale und multilaterale Partner­schaften, um wissenschaftliche Zusammen­arbeit voranzubringen und andere US-Inter­essen in der Arktis zu fördern.

Überraschend kurz geht die Arktisstrategie auf Forschung zum besseren Verständnis des Klimawandels in der Arktis ein, und die Frage, wie viel die USA für Forschung ausgeben, bleibt selbst für John Farrell, Direktor der USARC, ein Rätsel (Schätzungen reichen von 400 Millionen bis zu über einer Milliarde US-Dollar). Die MOSAiC-Expedi­tion (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate) unter Lei­tung des deutschen Alfred-Wegener-Insti­tuts war 2019/20 die größte und längste internationale Forschungsmission (und war auf russische Eisbrecher angewiesen). Russ­land wird voraussichtlich ab 2023 auf einer navigierbaren Plattform mit einem For­schungsteam von bis zu 34 Personen auto­nom durch das Nordpolarmeer driften und damit eine bis zu zweijährige Präsenz in der Zentralarktis etablieren. Das Engagement der USA bleibt im Vergleich dazu minimalistisch. Aber Präsenz bedeutet Einfluss – in der Arktis gilt dies noch mehr als in anderen Regionen, in denen die Umwelt­bedingungen weniger anspruchsvoll sind.

Heather Conley, US-Arktisexpertin und Präsidentin des German Marshall Fund, kri­tisiert, dass die neue Arktispolitik wichtige geostrategische Veränderungen ignoriere. Die Arktis werde nur im Kontext der Anrainerschaft Alaskas als innenpolitische Thematik behandelt, bei der es um die Förderung natürlicher Ressourcen im nördlichsten Bundesstaat und die Politik gegenüber der indigenen Bevölkerung gehe, und nicht als internationale Angelegenheit. Am deutlichs­ten wird der defizitäre Ansatz beim Blick auf den blamablen Mangel an Eisbrechern.

Ein einziger Eisbrecher für die Arktis

Ein Ausdruck der distanzierten Haltung zur Arktis ist der fatale Umstand, dass die US-Küstenwache (USCG) nur über zwei Eis­brecher verfügt, obwohl der Mangel lange absehbar war und schon 2009 im Senat de­battiert worden ist. Der schwere Eisbrecher USCGC Polar Star wird meist in der Antarktis zur Unterstützung der McMurdo-Station eingesetzt und hat längst seine Betriebsdauer überschritten (als Ersatzteillager fungiert die 2010 stillgelegte Polar Sea). Der mittelschwere Eisbrecher USCGC Healy ist seit 1999 meist in der Arktis im Dienst und war dreimal, zuletzt 2022, am Nordpol.

Nur Eisbrecher können ständige Präsenz in der Arktis gewährleisten. Aufgabe der USCG-Eisbrecher ist es, wissenschaftliche Forschung in den Polarregionen durch­zuführen und zu unterstützen; die Souve­ränität und die nationalen Interessen der USA durch Präsenz in US-Hoheitsgewässern zu wahren und zu schützen; den Seeverkehr zu überwachen und andere Verpflichtungen einer Küstenwache (wie Such- und Ret­tungseinsätze, Strafverfolgung und Schutz der Meeresressourcen) wahrzunehmen.

Der erste neue schwere Eisbrecher soll 2026 oder 2027 an die Küstenwache aus­geliefert wer­den. Das Neubauprogramm umfasst drei schwere (Polar Security Cutter, PSC) und drei mittelschwere Schiffe (Arctic Security Cutters, ASC), wovon jedoch nur die beiden ersten PSC voll finanziert sind. Die Kosten für das PSC-Programm belaufen sich auf 2,7 Milliarden US-Dollar. Eine Eis­brecher-Flotte mit drei Schiffen würde die USA in einigen Jahren nach Russland (40), Kanada (9), Finnland (8) und Schweden (4) auf einen Rang vor China (2) setzen. Bei Anrechnung der Gesamtzahl eisgängiger Forschungs- und Patrouillenboote ergeben sich für Russland 57, Kanada 18, Finnland 10 und Dänemark 7 Schiffe. Hier liegen die USA mitsamt drei Schiffen der National Science Foundation (NSF) gleichauf mit Schweden (5), vor Norwegen (2) und China (2) sowie Deutschland (1).

Während sich die Nato im euroatlan­tischen Raum überwiegend auf Fähigkeiten der USA stützt, sind diese im arktischen Raum auf Eisbrecher der europäischen Verbündeten angewiesen. Dies spiegelt sich in der Arktisstrategie wider, in der das Ziel ausgerufen wird, die »Unity of Effort« mit Alliierten und Partnern zu maximieren. Tatsächlich aber bilden diese Anstrengungen für die USA die Grundlage für ein Minimum an arktischer Präsenz.

Als nationale Behörde hat die NSF für die US-Arktisforschung drei Forschungsschiffe mit eisbrechender Fähigkeit, die im Einsatz jeweils von Healy unterstützt werden. Auf­grund der wachsenden Bedeutung der Arktis und damit konkurrierender Aufgaben in der Antarktis wird die Frage diskutiert, ob kurzfristig Eisbrecher angemietet oder gekauft und langfristig mehr Schiffe ein­geplant werden sollen; USCG-Admiral Karl Schultz nannte das Ziel einer Flotte von neun Eisbrechern (sechs PSC und drei ASC). Noch ist unklar, ob die Biden-Administra­tion diesem Vorschlag folgen wird.

Im Dezember 2022 gab der Senat seine Zustimmung für ein Sammelausgaben­gesetz. Es enthält einen Betrag von etwa 500 Millionen US-Dollar für 130 Ein­zel­maßnahmen, die Alaska zugutekommen. Während Senatorin Murkowski über die Verabschiedung zufrieden war, stimmte ihr Amtskollege Dan Sullivan gegen das Aus­gabengesetz, unter anderem, weil der An­kauf eines weiteren Eisbrechers namens Aiviq nicht enthalten war.

Die Arktis bietet nicht mehr Schutz

Washingtons jahrzehntelange, vergleichsweise entspannte Haltung zur Arktis ist darauf zurückzuführen, dass die USA auf­grund ihrer geographischen Lage einen natürlichen Vorteil gegenüber Ländern wie China oder Russland besitzen, die ihre Grenzen mit zahlreichen Nachbarstaaten teilen. Atlantik und Pazifik geben den USA eine Sicherheit, die nur ein ebenbürtiger Konkurrent auf der atlantischen oder pazi­fischen Gegenküste bedrohen kann. Ark­ti­sche Sicherheitsfragen spielten für die USA daher nach dem Ende des Kalten Krieges selten eine Rolle. In einem Bericht der US-Marine von 2014 wurde bei den bis 2030 anzupeilenden Strategiezielen für die Nord­polarzone die militärische Sicherheit nicht einmal erwähnt. In der Sicherheitsstrategie von 2017 war die Region nur einmal bei­läufig und in der Verteidigungsstrategie 2018 überhaupt nicht erwähnt worden.

Zunehmende russische Aktivitäten mach­ten es jedoch erforderlich, dass die 6. Flotte der US-Marine als Demonstration der Stärke im Oktober 2018 erstmals seit 1991 wieder Präsenz im hohen Norden zeigte. Die Nato-Übung Trident Juncture war das größte Manöver seit dem Kalten Krieg: 50.000 Soldatinnen und Soldaten, 65 Schiffe und 250 Flugzeuge nahmen daran teil, darunter der Flugzeugträger USS Harry S. Truman, der dafür von seiner Route zum Arabischen Golf abwich. Die US-Streitkräfte demonstrierten damit ihr dynamisches Einsatzkonzept, das aus der Not zu wenig verfüg­barer Schiffe eine Tugend machen soll. Ebenfalls mit Blick auf Russland wurde im August 2018 die 2. Flotte reaktiviert, deren Aufmerksamkeit während des Kalten Krieges den sowjetischen Seestreitkräften im Nordatlantik galt. Abermals operierte die 6. Flotte im Mai 2020 mit vier Zerstörern der Arleigh Burke-Klasse und einer britischen Fregatte nach Übungen in der Norwegensee auch in der Barentssee. Seitdem ist die US-Marine gemäß ihrer neuen Arktisstrategie »Blue Arctic« kontinuierlich im hohen Nor­den präsent, um ihre Fähigkeit zu Einsätzen unter den neuen Bedingungen eines rapide schmelzenden Meereises und zunehmend nutzbarer Seewege zu verbessern.

Die verstärkte Präsenz ist das Ergebnis einer veränderten Lage und Bedrohungswahrnehmung: »Die Arktis bildet nicht länger eine Festungsmauer und die Ozeane keine schützenden Wassergräben«, erklärte der Kommandeur von NORAD (North American Aerospace Defense), General Terrence O’Shaugnessy, im März 2020 vor dem Kon­gress. Die Arktisstrategie der US‑Luftwaffe verortet die Arktis nun im Schnittpunkt zweier für die US-Streitkräfte wichtiger Räume, nämlich Nordamerika (US Northern Command) und Indopazifik (US Indo-Pacific Command). Daher sollen gemäß der ersten Arktisstrategie der US-Luftwaffe dort die meisten Kampfflugzeuge der neuesten Generation stationiert werden. Joint Base Elmendorf-Richardson und Eiel­son Air Force Base in Alaska beherbergen dementsprechend mit 54 Flugzeugen vom Typ F-35 die weltweit größte Zahl dieser Kampfflugzeuge.

Als nördlichster Stützpunkt außerhalb der USA befindet sich auf der Thule Air Base im Norden Grönlands eine der größten Satellitenbodenstationen zur Weltraumüberwachung und Raketenfrühwarnung. Denn Raketen aus China oder Russland erreichen Ziele in den USA am schnellsten, wenn sie das Nordpolarmeer überfliegen. Russische U-Boote als Trägersysteme für bal­listische Raketen sind zudem unter der Eis­decke relativ sicher vor Entdeckung. Auch deshalb trainieren US-Unterseeboote seit den 1960er Jahren in der Übung ICEX (Ice Exercise) die U-Boot-Jagd im Arktischen Ozean. Im März 2018 hielt die US-Marine nach zehnjähriger Pause wieder ein Manö­ver zusammen mit der britischen Marine ab: Als Höhepunkt der Übung durchbrachen die U-Boote USS Connecticut, USS Hart­ford und HMS Trenchant die Oberfläche des Eises und lieferten spektakuläre Bilder. Drei Jahre später gelang es erstmals drei russi­schen Atom-U-Booten, in einem ähnlich fotogenen Abstand von wenigen hundert Metern durch das anderthalb Meter dicke Eis aufzusteigen – ein Spiegelbild des geo­politischen Wettbewerbs im Eismeer.

Die Bedeutung der Arktis für die USA ist gewachsen. Die Nordpolarregion hat aber erst durch die neue Sicherheits- und Arktis­strategie 2022 den Rang einer nationalen Priorität erlangt. Da­durch werden sich künf­tig bürokratische Hürden über­winden lassen, die bislang Mittelzuwendungen er­schwert haben. Nun herrscht großer Nach­holbedarf.

Ein Beispiel ist die anstehende Erneuerung der Radaranlagen. Das North Warning System ist Teil der seit 1957 bestehenden nordamerikanischen Luftraumüberwachung NORAD, die auch für die Raketenfrühwarnung zuständig ist. Beide sind angesichts der Entwicklung hyperschallschneller Marschflugkörper veraltet (dagegen ist die Entdeckung von Spionageballons wie im Februar 2023 nur eine Frage der Einstellung technischer Parameter). Neben der Auf­teilung der Kosten zwischen den USA und Kanada ist die Frage der Zusammenarbeit in der Raketenabwehr kontrovers. Technisch werden umfassende Lagebilder (All Domain Awareness) und ein mehrdimensionales System angestrebt, aber inwiefern Kanada auch Zugang zu satellitengestützten Daten erhalten soll, ist einer von vielen Punkten, die im Hinblick auf die NORAD-Moderni­sierung noch ungeklärt sind.

Darüber hinaus wird seit zwei Jahrzehnten erwogen, einen neuen Tiefwasserhafen zu bauen, der Küstenwache und Marine in Alaska eine dauerhafte Präsenz ermöglicht. Der am Beringmeer gelegene Küstenort Nome wurde 2020 dafür ausgewählt. Der­zeit ist die US-Küstenwache in der Beringstraße nur wenig präsent, obwohl sich der Schiffsverkehr in der Meerenge von jährlich 130 Transits 2009 auf 347 Durchfahrten 2021 mehr als verdoppelt hat. Die 1997 de­aktivierte Militärbasis auf der Aleuten-Insel Adak würde sich ebenfalls zur See­raum­überwachung eignen, jedoch scheut die Marine bislang die Kosten für deren Reakti­vierung. Stattdessen werden alliierte Basen bevor­zugt, um Aktivitäten Chinas und Russlands zu kontrollieren, wie Evenes in Norwegen und Keflavik in Island.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat bei den zuvor in der Nordflotte stationierten russischen Truppen zu großen Ver­lusten geführt – die gesamten Land­streitkräfte auf der Kola-Halbinsel seien auf ein Fünftel reduziert, meldet die norwegische Aufklärung. Zwar wird die materielle Auf­rüstung russischer Streitkräfte fort­gesetzt, aber die konkrete Einsatzfähigkeit und die Verfügbarkeit qualifizierten Perso­nals sind angesichts der peinlichen Defizite und der hohen Verluste an Menschen und Material im Krieg gegen die Ukraine frag­würdig geworden. Daher meinen manche Experten, dass der Krieg den USA eine Ge­legenheit verschaffe, den russischen Vor­sprung in der Arktis beispielsweise in der Drohnentechnologie aufzuholen. Allerdings können Drohnen nicht die russische Über­legenheit an Eisbrechern und umwelt­spezifischen Einsatzmitteln in der Arktis aus­gleichen.

Amerikas arktischer Moment

Die USA und Russland haben noch 2018 einvernehmlich den Schiffsverkehr in der Beringstraße und im Beringmeer geregelt. Danach häuften sich Vorfälle, bei denen russische Kampfflugzeuge im Luftraum über Alaska abgefangen wurden. Russische Kriegsschiffe drangen während einer Übung im August 2020 in die Ausschließliche Wirt­schaftszone der USA ein und bedrohten Fischerboote. In der Folge wies Alaskas Gouverneur Mike Dunleavy Präsident Biden darauf hin, dass der Schutz der US-Gewässer dringlich sei. Chinesisch-russische Manöver vor Alaska 2022 und der angeblich fehl­geleitete chinesische Spionageballon haben 2023 die Sensibilität für die Sicherheit im nördlichsten Bundestaat noch einmal er­höht.

Kommt nach der jahrzehntelangen man­gelnden Aufmerksamkeit nun »America’s Arctic Moment«? Die US-Arktisexpertin Heather Conley hat 2020 in einer Studie unter diesem Titel eine Liste der Anstrengungen veröffentlicht, die eine neue Regie­rung zu unternehmen hätte, wenn sie die Chance auf Erneuerung nutzen wollte. Einiges hat die Biden-Administration um­gesetzt. Unter anderem hat sie die Verteidigungs­ausgaben für die Arktis erhöht.

Beim Blick in die US-Strategiepapiere verfestigt sich aber der Eindruck, dass der proaktive Umgang mit Fragen harter Sicher­heit in der Arktis nach wie vor zu unspezifisch ist und angesichts bedrohlicher Ent­wicklungen andernorts – wie im Indopazifik – als zu wenig dringlich erachtet wird. Washington erbringt weiter eine verläss­liche Sicherheitsleistung, um Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit in der Arktis zu erhalten und Defizite auch durch die Kooperation mit Alliierten auszugleichen. Präsenz im subarktischen hohen Norden bleibt eine gemeinsame Aufgabe der Ver­bündeten – darunter zum Schutz der Nato-Nordflanke künftig auch der Deutschen Marine; in der Zentralarktis bleibt sie ein Versprechen der Zukunft, wenn die USA über bessere Auf­klärung, arktistaugliche Einsatzmittel und mehr als zwei Eisbrecher verfügen. Immerhin ist ein Anfang gemacht für ein stärkeres Engagement der USA in der Arktis.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018