Das Handels- und Partnerschaftsabkommen zwischen EU und Vereinigtem Königreich besiegelt den harten Brexit. Nicolai von Ondarza sieht fünf Gründe, warum es dennoch eine gute Grundlage für eine schrittweise Verbesserung der arg gebeutelten Beziehungen ist.
Es war eine Einigung in fast letzter Minute: Das am 30. Dezember 2020 unterzeichnete »Handels- und Kooperationsabkommen« zwischen EU und Vereinigtem Königreich hat den No-Deal-Brexit nur einen Tag vor Ende der Übergangsphase verhindert. Viereinhalb Jahre nach dem Austrittsreferendum werden die Beziehungen zwischen der EU und ihrem ehemaligen Mitgliedstaat damit auf eine neue Basis gestellt. Es ist ein beachtliches Verdienst der Verhandlungsführer auf beiden Seiten, dass trotz der widrigen Bedingungen ein solch komplexes Vertragswerk zustande gekommen ist.
Und doch steht am Ende des Prozesses ein weitgehend harter Brexit, der dem britische Streben nach Souveränität geschuldet ist. Zwar läuft der Warenverkehr weiterhin zollfrei und ohne quantitative Beschränkungen, dennoch entstehen im Vergleich zur Binnenmarktmitgliedschaft viele neue nicht-tarifäre Handelsschranken. Die (Finanz-)Dienstleistungen sind weitgehend aus dem Vertrag ausgeklammert, mit wenigen Ausnahmen verabschieden sich die Briten aus europäischen Projekten wie Erasmus, und auch die Außen- und Sicherheitspolitik wurde von London ganz ausgenommen. Die EU kann für sich verbuchen, trotz des nun beschränkten Marktzugangs weitreichende Instrumente für die Sicherung fairer Wettbewerbsbedingungen (»Level Playing Field«) durchgesetzt zu haben. Hierzu gehört auch die Möglichkeit zur Wiedereinführung von Zöllen und anderen Handelsbeschränkungen, sollte es in Zukunft zu einer maßgeblichen Divergenz von Arbeitsrechts- oder Umweltstandards kommen. Und so haben beide Seiten ihre bemerkenswert defensiven Ziele erreicht: Boris Johnson bekommt seinen harten Brexit, die EU kann ihren Binnenmarkt und ihre Standards verteidigen.
Auf der Strecke geblieben ist die ursprüngliche Idee einer britisch-europäischen Partnerschaft. Dennoch ist ein weiteres Auseinanderdriften nicht programmiert. Vielmehr gibt es fünf Gründe, warum aus dem Handelsvertrag trotz des Rosenkriegs um den Brexit eine stabile langfristige Beziehung entstehen kann.
Erstens markiert der Handelsvertrag nicht das Ende der Verhandlungen zwischen London und Brüssel. Das Abkommen selbst sieht eine Überprüfung nach fünf Jahren vor – also ein knappes halbes Jahr nach den nächsten britischen Parlamentswahlen – in deren Zuge die Beziehungen auch wieder vertieft werden können. Darüber hinaus gibt es eine Klausel, die die Überprüfung des Nordirland-Protokolls im Jahr 2024, Übergangsfristen für die Energiekooperation und die Fischerei sowie noch 2021 Gespräche zu Datenaustausch und Finanzmarktdienstleistungen vorsieht. Ähnlich wie mit der Schweiz wird es also laufend Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien geben, wenn auch auf einem politisch weniger dramatischen Niveau als zuletzt. Gerade diese Entdramatisierung der Beziehungen bietet eine Chance auf Wiederherstellung von Vertrauen und Verbesserung der Kooperation.
Zweitens ist das Abkommen auf eine Erweiterung ausgelegt. Es begründet eine institutionalisierte Kooperation zwischen London und Brüssel mit einem EU-UK-Partnerschaftsrat und einer Reihe spezialisierter Fachausschüsse etwa zum Güterhandel, zur Energiekooperation oder zur britischen Beteiligung an EU-Programmen. Dabei ist es explizit als »Dachabkommen« angelegt, in dessen institutionellen Gesamtrahmen sich weitere »Zusatzabkommen« einfügen können.
Drittens werden die wirtschaftlichen Beziehungen für beide Seiten trotz neuer Handelsbeschränkungen wichtig bleiben. Dafür sprechen die geographische Nähe, die enge Verflechtung vieler Wirtschaftszweige und die gegenseitige Bedeutung mit der EU als bei weitem wichtigster Handelspartner der Briten sowie Großbritannien als zweitgrößte Volkswirtschaft Europas. Hinzukommen die Level-Playing-Field-Bestimmungen des neuen Handelsvertrags, mit denen sich beide Partner verpflichten, geltende EU-Standards, soweit sie den Handel betreffen, aufrechtzuerhalten – und Anreize geschaffen wurden, bei neuen Standards Schritt zu halten.
Viertens wurde bei den gegenseitigen Drohungen mit dem No-Deal-Brexit auch deutlich, wo trotz schwieriger Trennung die gemeinsamen Interessen liegen. So räumt das Handels- und Partnerschaftsabkommen der Klimapolitik eine wichtige Stellung ein, in der das Vereinigte Königreich 2021 mit der Ausrichtung des nächsten Klimagipfels – gemeinsam mit Italien – eine zentrale Rolle einnimmt. Hier bietet sich auch eine trilaterale Zusammenarbeit mit der neuen US-Administration an. Stärker als erwartet fällt auch die fortgesetzte Beteiligung der Briten an EU-Programmen wie dem EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus sowie Teilen des Datenaustausches in der Innen- und Justizpolitik aus.
Fünftens ist Nordirland in der Kombination von Austritts- und Handelsvertrag endgültig zur gemeinsamen Aufgabe von Großbritannien und der EU geworden. Um die Grenze zum EU-Mitglied Republik Irland offen zu halten, gelten in Nordirland nunmehr weiterhin die Regeln des EU-Binnenmarkts; in der Irischen See ist zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs eine Handelsgrenze entstanden. Bei jeder Abweichung von EU-Standards wird die britische Regierung nunmehr nicht nur abwägen müssen, ob dies die Level-Playing-Field-Regeln bricht – und die EU somit Handelsschranken errichten könnte –, sondern auch, ob neue innerbritische Handelsschranken zu Nordirland entstehen. Die EU hat gleichsam auch im Interesse ihres Mitglieds Irlands die Verantwortung, gemeinsam mit der britischen Regierung dafür zu sorgen, dass diese komplexen Regelungen möglichst reibungslos funktionieren, um den Frieden in Nordirland nicht zu gefährden.
Der unter hohem Zeit- und politischem Druck entstandene Handelsvertrag legt damit vor allem eines – ein Fundament, auf dem die britisch-europäischen Beziehungen neu entstehen können. Der harte Brexit ist nun Tatsache, der Schritt von der EU-Mitgliedschaft zu einem Drittstaat mit reinem Handelsvertrag vollzogen. Es obliegt nun der politischen Ausgestaltung, wie dieses Fundament genutzt wird. Die EU und Deutschland sollten offen dafür sein, auf diesem Fundament eine stabile europäisch-britische Partnerschaft zu bauen.
Boris Johnson muss sich im Brexit-Streit bald entscheiden. Dabei erhöht der designierte US-Präsident Biden die politischen Kosten für einen No-Deal-Brexit. Ausschlaggebend werden dennoch die Machtkämpfe in den Reihen der Tories sein, meint Nicolai von Ondarza.
Die aktuellen parlamentarischen Machtkämpfe in London sowie schwere Verhandlungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich erinnern an das Brexit-Drama von 2019. Die EU sollte rote Linien ziehen und Geduld zeigen, meint Nicolai von Ondarza.
Wie eine Einigung trotz enger Fristen gelingen kann
doi:10.18449/2020A24
Neue politische Rahmenbedingungen verändern die Dynamik der Verhandlungen
doi:10.18449/2020A14
Nach dem Austritt der Briten aus der EU wird ab März über die künftige Beziehung Großbritanniens mit der EU verhandelt. Der Versuch, bis Ende 2020 ein Handelsabkommen zu schließen, ist sehr ambitioniert, aber kann als Rahmenabkommen gelingen, meinen Bettina Rudloff und Evita Schmieg.