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Der Berliner Prozess: Große Ideen für den Westbalkan, schwierige und langsame Implementierung

SWP-Aktuell 2022/A 80, 16.12.2022, 6 Seiten

doi:10.18449/2022A80

Forschungsgebiete

Der Westbalkan solle »so schnell wie möglich« in die EU, erklärte der Bundeskanzler auf dem Gipfel des Berliner Prozesses Anfang November 2022. Der Berliner Prozess besteht aus einer Reihe von Veranstaltungen und Treffen, die seit 2014 jährlich zwi­schen einzelnen EU-Mitgliedstaaten und den Ländern des Westbalkans stattfinden. Er unterscheidet sich von anderen EU-Initiativen dadurch, dass neben internatio­nalen Finanz- und EU-Institutionen einzelne EU-Staaten beteiligt sind, wie zum Bei­spiel Deutschland als Initiator des Formats, und setzt sich primär mit wirtschaft­lichen und Fragen der regionalen Kooperation auseinander. Wenngleich der Berliner Prozess schon viele Ideen wie den gemeinsamen regionalen Markt generiert hat, hakt es oft an der Implementierung der Vereinbarungen durch die Westbalkanstaaten. Deutschland und die EU sollten künftig nachdrücklicher auf der Umsetzung verabschiedeter Abkommen bestehen, denn der Berliner Prozess hat das Potential, die im Westbalkan nachlassende Glaubwürdigkeit der EU-Beitrittsperspektive wieder zu erhöhen.

Acht Jahre nach seinem Start kehrte der Berliner Prozess 2022 an den Ort zurück, wo er initiiert wurde. Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte damit Deutschlands Engagement für die Absicht der West­balkanstaaten, der EU beizutreten. Der Pro­zess wurde 2014 von Angela Merkels Regie­rung etabliert, um die regionale Integration im und mit dem Westbalkan zu vertiefen, nachdem die Juncker-Kommission angekün­digt hatte, dass es keine Erweiterung in den nächsten fünf Jahren geben werde. Das Statement der Kommission gründete sich zum einen auf die damals herrschende Auffassung, dass die EU vor einer neuen Erweiterung zunächst vertiefende Reformen durchführen müsse, zum anderen war es eine Reaktion auf die mangelnden Fort­schritte der Westbalkanstaaten bei den Anpassungsmaßnahmen, vor allem in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung. Das Hauptziel des Prozesses, die Kooperation zwischen den Staaten der Region und mit der EU zu stärken, ist wegen Russlands Angriffskrieg in der Ukraine noch wichtiger geworden. Die Frage der EU-Erweiterung Richtung Osten steht erneut oben auf der Agenda. Was konkret die Annäherung des Westbalkans an die EU betrifft, so müssen Deutschland und die EU die Mechanismen stärker nut­zen, die ihnen für die Implementierung der im Berliner Prozess verabschiedeten Ab­kommen zur Verfügung stehen. Nur so kann der Prozess relevant bleiben.

Wichtige Abkommen als Erträge des Berliner Prozesses

Der Berliner Prozess fokussiert sich primär auf Fragen der wirtschaftlichen und regio­nalen Kooperation. Organisatorisch besteht er aus einer Reihe von Treffen, bei denen Vertreter und Vertreterinnen einzelner EU-Länder, Repräsentantinnen und Repräsentanten von EU-Organen und internationaler Finanzinstitutionen mit Regierungen, aber auch den lokalen Zivilgesellschaften der Westbalkanländer zusammenkommen. Das Kooperationsformat erarbeitet Empfehlungen und Strategien für neue Abkommen und für die Implementierung von bereits beschlossenen Vereinbarungen. Es befasst sich auch mit der Frage, wie der Westbalkan auch ohne einen kurzfristig nicht realistischen EU-Beitritt integrative Fortschritte machen kann. Deshalb setzt es den Akzent auf wirtschaftliche Themen und auf regio­nale Zusammenarbeit, denn innerhalb der EU herrscht die Auffassung, dass ökono­mische Kooperation die Region stabilisieren und diese sich nur so dem EU-Binnenmarkt annähern kann. Investitionen in wirtschaftliche Projekte, wie zum Beispiel in nach­haltige Infrastruktur oder in die Energietransition, werden durch das »Western Balkans Investment Framework« (WBIF) bereitgestellt. Das WBIF ist ein Instrument der Geberkoordination. Es fasst die Mittel der EU, verschiedener Finanzinstitutionen, bilateraler Geber und der Regierungen des Westbalkans zusammen.

Die bisher ambitionierteste Vereinbarung, die im Rahmen des Berliner Prozesses aus­gehandelt wurde, ist die Schaffung des Gemeinsamen Regionalen Markts (GRM, »Common Regional Market«). Der Beschluss dazu wurde auf dem Sofia-Gipfel im Novem­ber 2020 von allen sechs Westbalkanstaaten unterzeichnet. Der GRM sollte den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapi­tal und Personen (die »vier Freiheiten«) ge­währleisten, was auch Digital-, Investitions-, Innovations- und Industriepolitik einschließt. Der GRM wäre ein Sprungbrett für eine engere Integration der Region in den EU-Binnenmarkt bereits vor einem tatsäch­lichen EU-Beitritt. Die Einhaltung der »vier Freiheiten« ist Voraussetzung für die Auf­nahme in die EU und Teil des Acquis der Gemeinschaft, nämlich im Cluster 2 zum Bin­nen­markt, primär in den Kapiteln 1, 2, 3 und 4. Der GRM baut auf der Initiative zur Errichtung eines Regionalen Wirtschaftsraums (»Regional Economic Area«) auf, die schon auf den Triester Gipfel im Juli 2017 zurückgeht. Der Regionale Wirtschaftsraum hatte sich bereits auf die Gewährung der »vier Freiheiten« gestützt und sich vor allem auf vier Bereiche fokussiert: 1. digitale In­tegration (gemeinsames Roaming-Abkom­men, im Juli 2021 von allen sechs Staaten implementiert), 2. Mobilität (Reisefreiheit für Hochqualifizierte), 3. Handel (Förderung der weiteren Handelsintegration), und 4. Investitionen (Schaffung eines dynamischen regionalen Investitionsraums). Auch die Abkommen zur Reisefreiheit (der Personalausweis reicht aus), gegenseitigen Anerken­nung von Hochschuldiplomen und von Berufsqualifikationen im Medizin- und Architekturbereich, die am 3. November 2022 in Berlin unterschrieben wurden, bauen auf dieser Initiative auf und sind nun­mehr Bestandteil des GRM.

Eines der ersten und erfolgreichsten Abkommen, die im Rahmen des Berliner Prozesses vereinbart wurden, ist das Regional Youth Cooperation Office (RYCO). Das regionale Jugendwerk wurde im Juli 2016 auf dem Gipfel von Paris von den sechs Westbalkanstaaten ins Leben gerufen. RYCO hat das Ziel, zwischen den Jugend­lichen in der Region Versöhnung und Zu­sammenarbeit zu fördern. Das primäre Mittel dazu sind Mobilitäts- und Austausch­programme. Die Jugendlichen sollen auch an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Zum Angebot zählen darüber hinaus Projekte zur Vergangenheits­bewältigung und friedlichen Verstän­digung. RYCO hat Büros in allen Haupt­städten des westlichen Balkans.

All diese Abkommen sind von Bedeutung für die Region, denn sie haben das Poten­tial, nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern auch die Versöhnung zwischen den Gesellschaften der sechs Länder zu fördern. Wenn es um die Um­setzung der Abkommen geht, fehlt es aller­dings oft am Engagement der Westbalkanländer. Wegen der mangelnden Implementierung der Grundbausteine des regionalen Wirtschaftsraums, deren Scheitern zu einem Teil auf die gegenseitige Nichtanerkennung von Serbien und Kosovo sowie von Kosovo und Bosnien-Herzegowina zurückzuführen ist, starteten Serbien, Albanien und Nord­mazedonien 2019 das Alternativprojekt »Open Balkan« (OB) – damals unter dem Namen »Mini-Schengen«. Den drei Ländern war vor allem daran gelegen zu zeigen, dass die Prinzipien des regionalen Wirtschaftsraums auch ohne die Vermittlung der EU Realität werden können. Später wurden die Grundprinzipien der »vier Freiheiten« auch im GRM verankert, zu dem sich alle sechs Westbalkanstaaten bekannt haben. Aller­dings existieren die zwei Initiativen jetzt parallel zueinander und es ist unklar, was der Mehrwert der OB-Idee ist, nachdem der GRM verabschiedet wurde.

Der Fokus der diesjährigen zivil­gesellschaftlichen Veranstaltungen

Die Zivilgesellschaft war von Anfang an ein wichtiger Bestandteil des Berliner Prozesses. Von ihrer Beteiligung gingen thematische Empfehlungen für weitere Schritte in der regionalen Integration aus. Auch dieses Jahr debattierten zivilgesellschaftliche Repräsen­tanten der Westbalkanstaaten im Rahmen des Civil Society & Think Tank Forum mit deutschen und EU-Politikerinnen und ‑Poli­tikern sowie mit zivil­gesellschaftlichen Akteuren und Akteurinnen und Vertreterinnen und Vertretern von Medienorganisationen aus der EU und Deutschland.

Der Fokus der diesjährigen Veranstaltun­gen lag eindeutig auf den Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Von den sechs Topics, die im Forum und den davor statt­findenden Vorbereitungsworkshops disku­tiert wurden, befassten sich vier entweder mit der Grünen Agenda (Klimawandel, Energietransition und Um­weltschutz) oder mit nachhaltigen Infrastrukturinvestitionen. Zwei weitere Schwerpunkte lagen auf dem Problem der Desinformation in der Region und auf den spezifischen Herausforderungen der EU-Integration in einer geopolitischen Lage, die sich durch die russische Invasion in der Ukraine verändert hat.

Der letztgenannte Punkt ist kaum überzubewerten. Denn der Krieg hat den Fokus des Prozesses eindeutig verändert: Für eine Region, der daran gelegen sein muss, sich un­abhängiger von russischen Energieträgern zu machen, ist die Grüne Agenda von im­menser Bedeutung. Das Potential des Bal­kans an erneuerbarer Energie könnte, wenn es richtig ausgeschöpft wird, sogar in Energie­exporten resultieren, was nicht nur die Region wirtschaftlich und nachhaltig voranbringen würde, sondern auch der EU zugutekäme, die diese Energie abkaufen könnte. Der Anteil regenerativer Energien an der Energieerzeugung ist in manchen Westbalkanländern wie Albanien oder Montenegro sogar höher als im EU-Durch­schnitt (29,9 %). Eine grüne Energietransi­tion würde auch die Abhängigkeit von russischem Gas reduzieren, die in Serbien, Nordmazedonien und Bosnien und Herze­gowina am größten ist, wo Russland fast 100 Prozent des Gases liefert. Des Weiteren würde eine Energiewende in der Region auch eine Verbesserung der Luftqualität in Europa nach sich ziehen. Indes ist eine grüne Transition im Balkan nicht möglich ohne interregionale Koope­ration und die Etablierung eines regionalen Energiemarkts. Und hierfür ist der Berliner Prozess nach wie vor ein wichtiger Hebel.

Nach Ansicht einiger zivilgesellschaft­licher Akteurinnen und Akteure des Civil Society & Think Tank Forums sollte die EU beim Thema nachhaltige Infra­struktur ex­terne Player wie China kritischer betrachten. Die zwischenstaatlichen Abkommen zwischen China und den Westbalkanländern entziehen sich durch Geheimhaltung der öffentlichen Kontrolle. So verhält es sich beispielsweise mit dem Kontrakt zwi­schen Montenegro und der China Road and Bridge Corporation« (CRBC) über den Bau eines 41 Kilometer langen Abschnitts der Auto­bahn Bar–Boljare. Die Verhandlungen darüber fanden hinter verschlossenen Türen statt. Außer dem Kreditvertrag, den die Regierung in Podgorica mit der Exim Bank of China schloss, wurden fast alle anderen autobahnbezogenen Dokumente geheim gehalten. Montenegro entschied auch, keine unabhängige Aufsichtsbehörde für das Projekt zu etablieren. Solche Inves­titions­vorhaben verletzen Rechtsstaatlichkeits­prinzipien, denn die Prozeduren ihrer Vergabe stimmen oft nicht mit denen der EU überein. Hinzu kommt, dass zwei Mach­barkeitsstudien das Autobahnprojekt als nicht wirtschaftlich bewertet hatten und Montenegro durch das Unternehmen in eine Schuldenkrise gestürzt worden ist. All dies zeigt, dass die EU solche Investitionen im Westbalkan strenger überwachen und stärker auf der Verankerung und Verbreitung rechtsstaatlicher Prinzipien in den Ländern der Region bestehen sollte.

Auch die Aktivitäten anderer externer Akteure wie Russland sollten nach Ansicht der Teilnehmenden am Forum genauer be­obachtet werden. Was die hybride Bedrohung angeht, die mit systematischer Des­information verbunden ist, sollte Russlands Rolle nicht unterschätzt werden. Das De­stabilisierungspotential, das zum Beispiel Fake News über den Krieg in der Ukraine haben können, hat sich deutlich bei den Protesten gezeigt, die im Frühjahr in Ser­bien und Bosnien-Herzegowina zur Unter­stützung Russlands stattfanden. Lösungen für dieses Problem wären zum Beispiel die Etablierung von Faktencheckabteilungen in den regionalen Medienorganisationen und das Mainstreaming von Medienkompeten­zen in den Schulen, nach dem Vorbild Finnlands.

Was tun? Klare Signale und Ziele setzen und auf Reformen pochen

Die größte Schwäche des Berliner Prozesses ist, dass momentan wirtschaftliche Ent­wick­lung und regionale Kooperation nicht kon­kret mit der EU-Integra­tion des Westbalkans einhergehen. Dieser Mangel wurde kürzlich auch von anderen Experten be­nannt. Die Kritik, der Berliner Prozess sei ein Ersatz für die EU-Integration der Region, wird aber schon seit vielen Jahren laut. Des­halb braucht es eine explizite Verbindung zwischen dem Prozess und einem zukünf­tigen Beitritt der Westbalkanländer zur EU. Wenn ökonomische Entwicklung entkoppelt von Fragen der Rechtsstaatlichkeit stattfindet, gefährdet das die Intentionen des Berliner Prozesses selbst, denn Ent­scheidungen zur Förderung von Projekten im Bereich Energie, Verkehr oder Nachhaltigkeit sind in diesem Kooperationsformat ausdrücklich mit Fortschritten bei Reformen verknüpft, die im Einklang mit dem Acquis stehen. Der Berliner Prozess kann daher als ein Instrument des schritt­weisen Beitritts genutzt werden, besonders wenn es um die Integration der Region in den Euro­päischen Wirtschaftsraum geht. Dieses Ziel setzt allerdings voraus, dass sich die West­balkanstaaten zu Reformen verpflichten. Projektionen des EPIK-Instituts in Kosovo zufolge würden die sechs Länder, wenn sie im derzeitigen Reformtempo verharren, in der Adoption aller Kapitel des Acquis zwi­schen 45 (im Falle Montenegros) und 80 (im Falle Bosnien-Herzegowinas) Jahren brau­chen, bis sie bereit für den Beitritt wären. Wenn die Anpassungsbemühungen inten­siviert würden, benötigten die Länder nach denselben Projektionen »nur« zwischen 11 und 20 Jahren (je nach Land).

Die Grüne Agenda könnte als Sprungbrett für die wirtschaftliche Annäherung der Westbalkanländer an die EU dienen. Bedingung dafür ist ein regionales Konzept für die Energietransition und für Infrastrukturinvestitionen. Hier kann Deutschland eine Vorreiterrolle einnehmen. Die Bundesregierung hat ihre Bereitschaft dazu schon in der Deklaration zur Energiesicher­heit und grünen Transition im Westbalkan deutlich gemacht, die auf dem letzten Gipfel des Berliner Prozesses verabschiedet wurde. Deutschland wird durch die Kredit­anstalt für Wiederaufbau bis zu einer hal­ben Milliarde Euro zur Überwindung der aktuellen Energiekrise im Westbalkan auf­wenden und die langfristige Energiewende dort mit bis zu einer Milliarde Euro fördern. Diese Leistungen gehen Hand in Hand mit dem »Energiepaket« von 500 Millionen Euro, das die EU-Kommission als Soforthilfe bereitstellen will. Des Weiteren hat Deutsch­land seit 2021 eine Klimapartnerschaft mit Serbien. Im Anschluss an den Ministergipfel vom 3. November 2022 hat die Bundesregie­rung sogar angekündigt, eine Klimapartnerschaft mit dem gesamten Westbalkan eta­blie­ren zu wollen, was ein positives Signal ist. Um die Energiewende zu unterstützen, sollte die EU die West­balkanländer auch in Plattformen für den Kauf von Energie­trägern mitaufnehmen. Das wäre ein Zei­chen, dass der Westbalkan nicht als externe Region betrachtet wird, sondern aus Sicht der EU Teil der Prozesse und Problem­lösungen ist.

Darüber hinaus sollte die EU die Open-Balkan-Initiative kritischer ins Visier neh­men. Anders als der GRM ist OB kein inklu­sives Projekt: Er grenzt andere Länder, wie Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Monte­negro, aus, die ihre Skepsis gegenüber der Initiative auch schon öfter zum Ausdruck gebracht haben. Die Gründe, warum nur Albanien, Serbien und Nordmazedonien bei OB mitmachen, sind vielfältig. Zum einen haben diese drei Länder untereinander keine offenen bilateralen Streitfragen, wie zum Beispiel die wechselseitige Nicht­anerkennung zwischen Kosovo und Serbien und Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Zum anderen gibt es in Montenegro, Kosovo und in der Föderation in Bosnien-Herzego­wina Angst vor einer wirtschaftlichen und politischen Dominanz Serbiens in der Region, falls die erklärten Ziele des OB im­plementiert werden. Manche kritische Stim­men würden den OB sogar als »großserbi­sches Projekt« bezeichnen. Obwohl solche Insinuierungen die Lage etwas überspitzen, tut das OB-Projekt mit seiner losen Orga­nisation und der Nichteinhaltung von EU-Stan­dards nicht viel, um diese Ängste zu mildern.

Anzunehmen, dass die OB-Initiative den Berliner Prozess ergänzen wird, ist etwas kurzsichtig. Jedes Projekt, welches andere Länder exkludiert, während es inklusivere Alternativen wie den GRM gibt, sollte von der EU mit wenig Enthusiasmus aufgenom­men werden. Der GRM kann auch als ein Friedensprojekt angesehen werden, denn um ihn vollständig implementieren zu kön­nen, müssen die Westbalkanstaaten ihre ungelösten bilateralen Fragen klären. Dies betrifft besonders Kosovo und Serbien und Kosovo und Bosnien-Herzegowina, teils auch Montenegro. Die Voraussetzung für einen funktionierenden regionalen Markt ist, dass alle Län­der in der Region als gleich­gestellte Partner und ohne antagonisierende Rhetorik mitmachen. Sollte von Seiten der EU das OB-Projekt statt des GRM ge­fördert werden, ließe das für Serbien wenig Anreiz, sich an einer inklusiveren Initiative zu beteiligen, in der auch Kosovo mitwirkt. Dies könnte in der Nichtimplementierung des GRM resultieren. Der Grund, warum viele der Anstöße und Beschlüsse aus dem Berliner Pro­zess nicht umgesetzt wurden, ist, dass die offenen bilateralen Fragen und das Miss­trauen in die Politik Serbiens keine tech­nischen und politischen Voraussetzungen für die Implementierung bieten. Zum Teil war dies auch der Grund, warum das OB-Projekt ins Leben gerufen wurde: Manche Regierungen der Westbalkanstaaten woll­ten Resultate bei der regionalen Integration sehen, ohne die großen politischen Fragen, wie gegenseitige Anerkennung, zuvor lösen zu müssen.

Fazit

Der Berliner Prozess sollte als Mittel genutzt werden, um die Glaubwürdigkeit der EU-Bei­trittsperspektive des Westbalkans zu erhöhen. Die ambitionierten Ziele des For­mats sollten in den Dienst einer zukünftigen EU-Mitglied­schaft der Region gestellt werden, als explizites Instrument eines schrittweisen Beitritts in den Europäischen Wirtschaftsraum. Wenn die Westbalkanstaaten in ihrem Bemühen um eine Ener­gie­transition und um eine Etablierung des GRM unterstützt werden und man sich der Zivilgesellschaft in der Region noch inten­siver zuwendet, kann der Ber­liner Prozess in Zukunft an Relevanz gewinnen. Zentral ist aber die Erkenntnis, die schon auf dem letzten EU-Westbalkangipfel in Tirana am 6. Dezember 2022 artikuliert wurde: dass die Abkommen aus dem Prozess tatsächlich umgesetzt werden müssen und dieser nicht von anderen EU-Initiativen, wie dem Kosovo-Serbien-Normalisierungsprozess, entkoppelt werden darf. Für die Akteure des Berliner Prozesses heißt das, dass sie ein kontinuierliches Monitoring betreiben und die von den Westbalkanstaaten übernommenen Verpflichtungen strenger evaluieren müssen – im äußersten Fall mit der Folge, dass gewisse Mittel und Unterstützungs­leistungen zurückgehalten werden, wenn es nicht zur Implementierung kommt. Darüber strategisch zu kommunizieren ist unabdingbar, etwas womit sich die EU gegenüber der Region seit Jahren schwertut. Wichtige wirtschaftliche Errungenschaften, besonders die materiell sichtbaren wie der Ausbau von Infrastruktur, sollten neben dem EU‑Stempel, den sie bekommen, von einer klaren Kommunikationsstrategie begleitet werden. Das wäre auch ein guter Ansatz, um der erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit und Visibilität Chinas im West­balkan etwas entgegenzusetzen. Es würde noch mal verdeutlichen, wie wichtig die EU als Partner für die Region ist.

Dr. Marina Vulović ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Geostrategische Konkurrenz für die EU im west­lichen Balkan«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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