Zwanzig Jahre nach dem Friedensschluss tritt Bosnien und Herzegowina noch immer auf der Stelle. Um den angekündigten Reformen Fahrt zu verleihen, sollte die EU dem Land jetzt den Status eines Beitrittskandidaten gewähren, meinen Dušan Reljić und Alida Vračić.
Kurz gesagt, 26.11.2015 ForschungsgebieteDušan Reljić
Zwanzig Jahre nach dem Friedensschluss tritt Bosnien und Herzegowina politisch und wirtschaftlich noch immer auf der Stelle. Um den angekündigten Reformen Fahrt zu verleihen, sollte die EU dem Land jetzt den Status eines Beitrittskandidaten gewähren, meinen Dušan Reljić und Alida Vračić.
Bosnien und Herzegowina und Kosovo sind die einzigen Teile des Westbalkans, die von der EU noch nicht den Status eines Beitrittskandidaten erhalten haben. Im Jahr 2003 hatte die EU die Perspektive der Mitgliedschaft für die gesamte Region eröffnet, und zwar unter der Bedingung, dass die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen sukzessive durchgeführt werden.
In Bosnien und Herzegowina sind seitdem viele Probleme ungelöst geblieben: So ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten weder gelungen, zu einem vertrauensvollen Zusammenleben der drei größten ethnischen Gruppen – der Bosniaken, Serben und Kroaten – zurückzukehren, noch ist der wirtschaftliche Wiederaufbau maßgeblich befördert worden. Ein wesentlicher Grund für die Stagnation ist das im Jahre 1995 in Dayton geschaffene politische System, das weltweit zu den kompliziertesten gehört. Das in der Verfassung festgelegte System der Machtteilung zwischen den drei Ethnien führt in der Praxis dazu, dass vielschichtige und damit brüchige und passive Koalitionen regieren. Genauso unübersichtlich und schwerfällig ist der enorme Behördenapparat. Allein die Anzahl der Minister auf verschiedenen Verwaltungsebenen – angefangen von den zehn Kantonen bis zum Gesamtstaat – wird auf fast 150 geschätzt, ferner gibt es, bei etwa vier Millionen Einwohnern, über 600 Mitglieder der vielen Parlamente.
Externe Akteure haben zudem nach wie vor einen gewichtigen Einfluss auf die innenpolitische Dynamik, so dass Eigenverantwortung, insbesondere bei der politischen Elite, wenig ausgeprägt ist. Alle Prozesse, angefangen bei der Annahme neuer Gesetze über die Einführung neuer Institutionen oder die Durchsetzung von Reformen bis hin zur Einsetzung oder Absetzung von Amtsträgern werden von der »internationalen Gemeinschaft«, verkörpert von der Person des Hohen Repräsentanten des UN-Generalsekretärs, angestoßen, durchgeführt oder zumindest streng beaufsichtigt. Auf die Innenpolitik üben auch die Nachbarn Serbien und Kroatien, die mit zu den Unterzeichnern des Daytoner Abkommens zählen, über direkte Beziehungen zwischen den politischen Eliten, wirtschaftlich sowie über die Massenmedien einen gewichtigen Einfluss aus. Zudem verfolgen die USA und die EU, Russland, die Türkei, der Iran, die Golfstaaten und nicht zuletzt verschiedene islamistische Bewegungen ihre eigenen Ziele in dem Land, indem sie ihre jeweilige Klientel in der politischen Elite unterstützen. Deren innenpolitische Kompromissbereitschaft nimmt in der Regel in dem Maße ab, wie sie sich des »Schutzes« externe Partner sicher sind. Diese Vielzahl zum Teil gegenläufiger Einflussfaktoren ist ein weiterer Hemmschuh für die Reformfähigkeit Bosnien und Herzegowinas.
In diesem Wirrwarr der Einflüsse verfügt die EU allerdings über Vorteile gegenüber anderen Akteuren. Denn zum einen hat die UNO der Union die faktische Verantwortung für die Durchsetzung des Daytoner Friedensabkommen übertragen. Zum anderen ist die Mitgliedschaft in der EU, trotz aller Rückschläge, die das Ansehen der EU in den letzten Jahren erlitten hat, in diesem Land ein nach wie vor erstrebenswertes Ziel. Über 80 Prozent der Bevölkerung wünschen den Beitritt zur Union. Zugleich fürchten viele, dass das Land ohne Anschluss an die europäische Integration bleibt: Etwa 40 Prozent halten das Versprechen der EU, auch ihr Land aufzunehmen, für nicht mehr glaubwürdig. Die Bereitschaft in der Bevölkerung, auf Bedingungen der EU einzugehen, ist dennoch – oder gerade deshalb – groß.
Erste Schritte zur Reform der Daytoner Verfassung
Obwohl auch die meisten politischen Entscheidungsträger aller Couleur den Beitritt zur EU bis heute als einzige zukunftsweisende Option für ihren Staat betrachten, ist das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU, das Sarajewo am 16. Juni 2008 unterschrieben hatte, erst am 6. Juni 2015 in Kraft getreten. Hauptgrund für diese Verzögerung waren die fortwährenden Auseinandersetzungen über die Erfüllung der von der EU gestellten Bedingungen: So war verlangt worden, dass die dezentralen Strukturen des Polizeisystems gestrafft werden. Vor allem die Führung der bosnischen Serben aber weigerte sich, dies zu akzeptieren, da sie die Autonomie ihrer Teilentität bedroht sah; die Forderung wurde schließlich fallengelassen.
Ebenso hatte die EU seit 2010 darauf beharrt, dass Bosnien und Herzegowina vor dem Inkrafttreten des Abkommens die Verfassung in Einklang mit dem Urteil des Europäischen Menschenrechtgerichtshofes (ECHR) im Falle Sejdić/Finci bringt. Dabei ging es um die Abschaffung jener Verfassungsbestimmungen, die Bürger, die nicht den drei größten Volksgruppen angehören, bei der Bewerbung um höchste Ämter im Staate benachteiligen. Den Teilentitäten gelang es jedoch nicht, sich über die Umsetzung des Urteils zu einigen, weshalb die Erfüllung der Forderung 2014 auf deutsch-britische Initiative hin vorläufig verschoben wurde.
Im Gegenzug verlangten die beiden Außenminister, Frank-Walter Steinmeier und Philip Hammond, von den Entscheidungsträgern im Lande, dass sie sich schriftlich zu institutionellen Reformen verpflichten. Und tatsächlich verabschiedete das dreiköpfige staatliche Präsidium daraufhin eine gemeinsame Erklärung über den Europäischen Weg des Landes sowie eine Reformagenda. Ziel dabei soll es sein, die Funktionalität der staatlichen Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit zu stärken sowie die sozioökonomische Entwicklung zu fördern. Obwohl noch kaum präzisiert und ohne genauen Zeitplan, wurde damit doch im Ansatz die Reform des Daytoner Verfassungssystems in Angriff genommen. Die Verantwortung liegt diesmal vor allem bei den einheimischen Eliten, die ihren Widerwillen gegen zukunftsweisende Veränderungen nicht mehr damit rechtfertigen können, dass die Konzepte von außen aufgezwungen seien. Mit diesem Rückenwind beschloss das Präsidium am 8. Oktober 2015, bis Jahresende den Status eines EU-Beitrittskandidaten für sein Land zu beantragen.
Die EU sollte diesem Ersuchen Bosnien und Herzegowinas entgegenkommen. Alle Erfahrungen zeigen, dass die EU Reformen am ehesten gegenüber Beitrittskandidaten vor Aufnahme von Verhandlungen sowie im Zuge von Beitrittsverhandlungen fördern kann. Immerhin soll die Aufnahme in die EU, so das westliche Mantra seit vielen Jahren, das Land und den westlichen Balkan insgesamt vor zukünftigen politischen Konflikten und Europa vor neuen Erschütterungen wie während der jugoslawischen Nachfolgekriege 1991-2001 bewahren. Eine Absage an diesen strategischen Fahrplan liefe den Sicherheitsinteressen der EU zuwider, könnte die Stabilität in Südosteuropa untergraben und Bosnien und Herzegowina irreparablen Schaden zufügen.
Der Text ist auch bei EurActiv.de und Zeit Online erschienen.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2013/S 09, 24.04.2013, 106 Seiten, S. 11–19
Think tank Populari Policy Brief. April 2012, 17 pages.