Auch die Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik wurden von der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus in Mitleidenschaft gezogen. Dominierendes Thema in den ersten Wochen der Pandemie war die Schließung der Grenzen durch die Tschechische Republik. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wurde jäh unterbrochen, erst nach und nach konnten Lockerungen erreicht werden. Bald zeigte sich, dass die Corona-Krise auch ein bedeutendes Thema für die europapolitische Komponente des beiderseitigen Verhältnisses sein würde. In der Krise wurde auch sichtbar, dass die sicherheitspolitischen Verschiebungen der letzten Jahre und neue internationale Entwicklungen in das deutsch-tschechische Verhältnis hineinspielen. Beide Länder sollten daher ihre Kommunikationsinstrumente, insbesondere den Strategischen Dialog der Regierungen nutzen, überdies aber auch drängende Herausforderungen wie den Umbau zentraler Industrien gemeinsam reflektieren.
Die Corona-Pandemie hat auf allen Ebenen auf die deutsch-tschechische Zusammenarbeit eingewirkt. In den Wochen nach dem Ausbruch des Virus in Mitteleuropa stand ein im engeren Sinne bilaterales Thema im Vordergrund, nämlich die weitgehende Unterbindung der Personenfreizügigkeit. Die Krise schlägt sich aber zunehmend auch im europapolitischen Dialog beider Länder nieder. Überdies zeigt die Pandemie, dass die fortschreitende Erosion der globalen Ordnung und die sich abzeichnenden Großmachtkonflikte beide Staaten, aber auch ihre gegenseitigen Beziehungen intensiver als bislang betreffen. Nicht von ungefähr widmet die deutsche EU-Ratspräsidentschaft diesen Entwicklungen besondere Aufmerksamkeit. In Anbetracht dessen ist zu fragen, wie sich die Krise auf diesen drei Ebenen niederschlägt und wie beide Länder künftig Dialog und Zusammenarbeit ausrichten sollten.
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Die Corona-Krise brachte in den deutsch-tschechischen Beziehungen zunächst vor allem eine Einschränkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Tschechische Republik schloss ihre Grenzen ohne Koordination mit den Nachbarn. In den deutschen Grenzregionen kam es dadurch zu erheblichen Problemen, da geschätzt bis zu 40 000 Menschen von der tschechischen Seite nach Deutschland pendeln. Dort hängt das Funktionieren vieler Lebensbereiche, einschließlich des Gesundheitswesens und der Pflege, von diesen Berufspendlern ab. Die so entstandenen Engpässe wurden vor Ort und in den beiderseitigen Beziehungen schnell zu einem bedeutenden Thema. Von deutscher Seite wurden erhebliche diplomatische Aktivitäten entfaltet, um die wirtschaftlichen Folgen für die Grenzregionen zu mildern, eine Problematik, für die Prag anfangs wenig sensibilisiert war. Im Folgenden wurde das Grenzregime von den tschechischen Behörden schrittweise flexibilisiert.
Die Krise ließ auch strukturelle Hindernisse in der Zusammenarbeit hervortreten, die etwa aus der Asymmetrie der Entscheidungsfindung resultieren: In der Tschechischen Republik wurden sämtliche Maßnahmen zentral beschlossen, in Deutschland verteilten sich diese auf Berlin, Dresden und München. Die bestehenden deutsch-tschechischen Kommunikationsstrukturen erwiesen sich zunächst als nicht funktional für die speziellen Krisenerfordernisse. Der Strategische Dialog zwischen beiden Regierungen, die bayerisch-tschechische und die sächsisch-tschechische Arbeitsgruppe sind nützlich für die Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen Beamten. Es fehlen aber offensichtlich Mechanismen für eine schnelle Abstimmung.
Das Krisenmanagement verlief daher über ad hoc eingerichtete Plattformen. Schon ab Mitte März wurden regelmäßige Videokonferenzen auf Ministerebene zwischen der Tschechischen Republik, Österreich, Bayern und Sachsen abgehalten. Eine wichtige Funktion kam dabei dem Austausch der tschechischen Regierung mit den Vertretern der angrenzenden deutschen Bundesländer zu.
Trotz der anfänglich auf beiden Seiten vorherrschenden Verwirrung und Enttäuschung könnte die Krise aus heutiger Sicht dazu beigetragen haben, dass sich die Zusammenarbeit in Grenzfragen künftig verbessert. Ein greifbares Ergebnis des Krisendialogs ist die Einrichtung einer neuen Koordinierungsplattform, des sogenannten Abstimmungskreises. Dabei handelt es sich um ein operatives Gremium, das die bestehenden Institutionen besser vernetzen und im Bedarfsfall für eine schnelle Kommunikation bürgen soll. Der Plattform sollen die beiden Botschafter, die Koordinatoren des Strategischen Dialogs und die Ko-Vorsitzenden der bayerisch-tschechischen und der sächsisch-tschechischen Arbeitsgruppen angehören, also höchstens acht Personen. Das neue Gremium soll als erster Anlaufpunkt für grenzüberschreitende Fragen dienen. Die Einbindung von Vertretern aus Berlin, Prag, Dresden und München ist ein vielversprechender Schritt hin zu einer besseren Koordination.
Pragmatismus und Gemeinsames in der EU trotz Differenzen
Die Bewältigung der sozialökonomischen Folgen der Corona-Krise ist für die EU bald nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa zum Hauptthema geworden. Deutschland ist aufgrund seines politischen und wirtschaftlichen Potentials ein »systemisches Land« in der EU und in der Eurozone und hat sich daher entschlossen, trotz seines Status als Geberland neue Formen finanzieller Solidarität zu akzeptieren.
Die Tschechische Republik blickt aus einem anderen Winkel auf die Ausgestaltung neuer Hilfsmechanismen und des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR). Bei den Verhandlungen zum MFR reiht sich das Land bei den Freunden der Kohäsionspolitik ein, also bei den Nettoempfängern aus der EU-Regionalpolitik. Im Zusammenhang mit dem »Wiederaufbaufonds« hat der tschechische Regierungschef heftige Kritik geäußert. Für ihn sind die geplanten Kriterien für die Mittelvergabe nicht überzeugend und er fürchtet eine Umverteilung von ärmeren zu reicheren Mitgliedstaaten, vor allem im Süden der EU.
Daraus ergibt sich zunächst eine Konstellation, bei der Berlin und Prag recht unterschiedliche Interessen vertreten. Dennoch zeichnet sich keine Periode europapolitischer Verwerfungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik ab. Erstens agieren beide Länder weiterhin pragmatisch. Deutschland ist daran gelegen, bei allen finanzrelevanten Fragen eine Einigung zu erzielen, eine Haltung, die während der Ausübung der Ratspräsidentschaft eher noch fester ist. Die Tschechische Republik wiederum zeigt auch bei den finanzsensitiven Themen durchaus Gesprächsbereitschaft.
Auch in der Klimapolitik sind die Unterschiede überwindbar. Umweltminister Brabec stellte in einem Schreiben an die Kommission und die Mitgliedstaaten klar, dass die Tschechische Republik das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 unterstütze, obwohl der Premierminister zu Beginn der Krise eine Abkehr von ambitionierten CO2-Reduktionszielen gefordert hatte. Das entschlossene Auftreten des Regierungschefs sowohl in Finanzfragen als auch bei klimapolitischen Themen dürfte weniger Ausdruck einer Fundamentalopposition als Teil einer Verhandlungsstrategie und überdies von dem innenpolitischen Motiv geleitet sein, die europakritische Öffentlichkeit hinter sich zu bringen.
Außerdem bleiben auch in der Krise viele europapolitische Gemeinsamkeiten bestehen. Die abrupten Grenzschließungen haben beiden Ländern vor Augen geführt, wie wichtig die Sicherung der vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts ist. Wie für Deutschland ist auch für die Tschechische Republik eine starke Exportorientierung und damit eine erhöhte Verwundbarkeit durch globale Nachfragerückgänge kennzeichnend. Die Schlüsselindustrien beider Volkswirtschaften stehen unter einem akuten Anpassungsdruck, vor allem die Automobilbranche. Und nach wie vor sind Deutschland und die Tschechische Republik daran interessiert, den Zusammenhalt der EU nicht durch neue Spaltungen zu gefährden.
Sicherheitspolitik und Internationales
Im Bereich der Sicherheitspolitik setzt sich die Reihe der Gemeinsamkeiten fort. Beide, Prag und Berlin, fordern zum einen die Konsolidierung der Nato und unterstützen zum anderen aber auch die Aufwertung der EU zu einem geopolitischen Akteur. Die Tschechische Republik hat sich schon längst von ihrer Fokussierung auf die atlantische Dimension der Sicherheitspolitik verabschiedet und sich im Rahmen einer Art strategischen Wende auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU geöffnet. Unter anderem hat sie erstmals die Führung einer EU-Mission (EUTM in Mali) übernommen.
Auf tschechischer Seite besteht das Problem mangelnder Kohärenz in der Außen- und Sicherheitspolitik. Für den Regierungschef haben Fragen der EU-Innenpolitik Priorität – mit einer Tendenz zum Mikromanagement. Bei wichtigen außenpolitischen Themen gibt es Dissonanzen. Gegenüber China werden in gewisser Weise drei Ansätze verfolgt: ein freundschaftlicher durch den Staatspräsidenten und Teile der parlamentarischen Opposition; ein kritischer durch Vertreter des Parlaments, insbesondere des Senats, und vor allem der konservativen und »wertegebundenen« Opposition; und ein pragmatisch-lavierender durch das Außenministerium und die Regierung. Der Dialog mit Deutschland könnte dazu beitragen, die Positionen in der EU besser abzustimmen, um Sonderwege zu vermeiden.
Beide Länder laufen im Gefolge der Pandemie Gefahr, sicherheits- und verteidigungspolitische Fragen hintanzusetzen. Jenseits der Zusammenarbeit in der Nato und in der GSVP bieten sich Themen an, die die Tschechische Republik und Deutschland gemeinsam bearbeiten könnten, zum Beispiel Rüstungskontrolle oder der Dialog mit Russland in der OSZE.
Berlin und Prag sind einig in ihrem Streben nach technologischer und industrieller Resilienz und nach handels- und investitionspolitischer Reziprozität – ohne einem Decoupling von China das Wort zu reden und ohne Leitwerte völlig auszublenden.
Kooperationspotentiale ausschöpfen
Die deutsch-tschechischen Beziehungen können auch in der Corona-Krise ein Baustein des Zusammenhalts der Europäischen Union sein. Die deutsch-tschechische Kooperation in der EU ist ungeachtet abweichender Akzentsetzungen vor allem in drei Bereichen wirksam. Erstens sind beide Länder daran interessiert, einem krisenbedingten Auseinanderdriften der EU entgegenzuwirken. Trotz vorübergehender (Finanzfragen) oder stabilerer (Verteilquoten für Asylsuchende) Differenzen verfolgen beide Staaten nämlich letztlich eine pragmatisch-evolutionäre Europapolitik. Zweitens wollen beide Länder ihre stark auf Fertigung und Export basierenden Volkswirtschaften reformieren und wettbewerbsfähig halten. Drittens möchten Berlin und Prag der Erosion multilateraler Strukturen und der transatlantischen Gemeinschaft entgegenwirken. Diese Potentiale an Gemeinsamkeiten lassen sich bilateral, EU-weit, aber auch zum Zweck einer besseren Verständigung Deutschlands mit der Visegrád-Gruppe ausschöpfen.
Den Strategischen Dialog nutzen. Der Strategische Dialog zwischen den Regierungen beider Länder ist sowohl ein Rahmen für die bilaterale Kooperation als auch für gemeinsame europapolitische Reflexion. Im Strategischen Dialog wird es in Anbetracht der Corona-Krise auch darum gehen müssen, Schwerpunkte und Profil der Arbeitsgruppen zu überprüfen. Dabei wird auch darauf zu achten sein, wie sich angesichts der Strukturen des Strategischen Dialogs, regionaler Initiativen (sächsisch-tschechische und bayerisch-tschechische Arbeitsgruppe für grenzüberschreitende Zusammenarbeit) sowie des neu gegründeten bilateralen »Abstimmungskreises« Kohärenz sichern und Überinstitutionalisierung vermeiden lässt.
Sich um Nahtstellen kümmern. Die Grenzschließungen und die Einschränkungen der Personenfreizügigkeit haben auf beiden Seiten der Grenze zu beachtlichen Kosten geführt. Der neue Abstimmungskreis zeigt, dass beide Länder willens sind, das wichtige Thema der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu bearbeiten. Mit Blick auf künftige Pandemiewellen wäre zu überlegen, ob dieses Gremium nicht um Vertreter der Innenministerien und der Gesundheitsbehörden ergänzt werden sollte.
Nicht provinziell bleiben. Beide Länder spüren die Auswirkungen des Abbaus der bisherigen internationalen Ordnungsgefüge. Sie sollten daher intensiver über die Folgen von Großmachtrivalität und regionalen Instabilitäten diskutieren. Der Umgang mit China, der beide Länder sowohl sicherheits- als auch europa- und wirtschaftspolitisch beschäftigt, sollte zu einem zentralen Thema des bilateralen Dialogs werden. Wo schon Gespräche angeknüpft worden sind, sollten diese in möglichst ressortübergreifendem Format fortgesetzt werden. In der Sicherheitspolitik ziehen beide Länder an einem Strang, indem sie eine transatlantische Ausrichtung mit der Tendenz zu einer ambitionierten EU-Außenpolitik verknüpfen. Nach den US-Präsidentschaftswahlen könnte abermals eine gemeinsame Reise hoher Beamter oder politischer Vertreter nach Washington erwogen werden.
Den Umbau der Wirtschaft gemeinsam gestalten. Mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen die deutsche und tschechische Industrie stehen, sollten Berlin und Prag die Risiken und Chancen aktueller Entwicklungen wie der Digitalisierung gemeinsam in den Blick nehmen. Dafür könnte von den zuständigen Ministerien eine deutsch-tschechische Wirtschaftskonferenz initiiert werden.
Dr. Jakub Eberle ist Leiter des Zentrums für Europäische Integration, Institut für Internationale Beziehungen, Prag.
Dr. Vladimír Handl ist Dozent am Lehrstuhl für Deutsche und Österreichische Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität, Prag
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A60