Die Verleihung der Unabhängigkeit an die Orthodoxe Kirche der Ukraine ist nicht nur ein kirchlicher, sondern ein zutiefst politischer Akt, der weitreichende Folgen für die Ukraine, Russland und deren Verhältnis zueinander haben wird. Eine Analyse von Susan Stewart.
Kurz gesagt, 10.01.2019 ForschungsgebieteSusan Stewart
Die Verleihung der Unabhängigkeit an die Orthodoxe Kirche der Ukraine ist nicht nur ein kirchlicher, sondern ein zutiefst politischer Akt, der weitreichende Folgen für die Ukraine, Russland und deren Verhältnis zueinander haben wird. Eine Analyse von Susan Stewart.
6. Januar in Istanbul: Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus I., Ehrenoberhaupt der orthodoxen Christen weltweit, überreicht dem Oberhaupt der zuvor neu gegründeten Orthodoxen Kirche der Ukraine in einer feierlichen Zeremonie ein Unabhängigkeitsdekret, das sogenannte Tomos, womit diese zur autonomen Kirche wird. Die Ukraine hat damit zum ersten Mal seit drei Jahrhunderten eine anerkannte orthodoxe Kirche, die von Moskau unabhängig ist. Zahlreiche Kirchenvertreter in der Ukraine hatten seit deren Unabhängigkeit 1991 für die Loslösung der Kirche von Moskau gekämpft. Erst 2018, maßgeblich angetrieben von Präsident Petro Poroschenko, wurde dieses Vorhaben von Erfolg gekrönt. Allerdings gibt es weiterhin ukrainische orthodoxe Gemeinden, die Moskau die Treue halten und sich der neuen Kirche nicht anschließen werden.
Die Bedeutung dieses Ereignisses reicht weit über die Kirche hinaus. Es hat gewichtige Folgen für Politik und Gesellschaft in der Ukraine und Russland sowie für die Beziehungen zwischen den beiden Staaten. So dürfte der Vorgang eine wichtige Rolle bei den kommenden Präsidentschaftswahlen in der Ukraine spielen, deren erste Runde am 31. März stattfindet. Präsident Poroschenko wirbt mit der Losung »Armee, Sprache, Glaube«. Die Anerkennung der Kirche ist ein wichtiger Meilenstein für ihn als Politiker und gibt seiner Kampagne Aufwind. Diesen braucht er insbesondere, weil er in den Umfragen bislang weit hinter der früheren Premierministerin Julia Tymoschenko rangiert. Nicht zuletzt die Tatsache, dass es Poroschenko war, der sich besonders für die die Verleihung des »Tomos« stark gemacht hatte, dürfte seine Popularität steigern und ihm die Unterstützung etlicher Kirchenvertreter sichern.
Ferner leistet das kirchliche Ereignis einen Beitrag zur ukrainischen Nationsbildung. In der ukrainischen Geschichte vor 1991 hatte es keine längeren Phasen der modernen Staatlichkeit gegeben. Durch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen der verschiedenen Landesteile sowie durch die politische Polarisierung über Themen wie Geschichte oder Sprache kann eine gemeinsame nationale Identität nur äußerst langsam entstehen. Die russische Aggression gegen die Ukraine seit 2014 hat diesen Prozess beschleunigt, da die Abgrenzung von Russland seitdem identitätsstiftend wirkt. Mit der Schaffung einer unabhängigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche gibt es nun ein sichtbares Zeichen der Nationsbildung. Gleichzeitig vertieft sie allerdings die Probleme, die schon bisher zwischen den beiden Teilen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche – dem nach Unabhängigkeit strebenden Kiewer und dem moskautreuen Flügel – existiert hatten. So werden etwa Fragen von Eigentumsverhältnissen aufgeworfen, zum Beispiel wegen der Übertritte mancher Gemeinden zur neuen Kirche. Die Gemeinden, die sich weiterhin Moskau unterstellen möchten, werden sowohl politisch als auch gesellschaftlich einen schwereren Stand haben als zuvor.
Die Entstehung der neuen Kirche erzeugt auch zusätzliche Spannungen in den russisch-ukrainischen Beziehungen. Aus Protest gegen die Entscheidung des Ökumenischen Patriarchen hat die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ihre Beziehungen mit Konstantinopel abgebrochen. Dies wird nicht ohne die Genehmigung der russischen politischen Führung geschehen sein und zeigt, wie tief diese durch die Entwicklung gekränkt wurde. Da die russische Führung weiterhin darauf setzt, die Ukraine in ihre Einflusssphäre einzubeziehen, ist die ukrainische Abgrenzung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für sie ein Dorn im Auge. Gerade in kulturellen Bereichen, die an die historische Nähe der beiden Völker erinnern, empfinden viele russische Akteure die zunehmende Entfremdung als schmerzhaft. In diesem Zusammenhang entstehende Rachegefühle könnten sich in russischem Handeln niederschlagen. So könnte auch das Timing des Angriffs auf drei ukrainischen Marineboote in der Straße von Kertsch am 25. November 2018 auf einen Zusammenhang mit den Ereignissen im kirchlichen Bereich hindeuten.
Auch auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Russland hat der neue Status der ukrainischen Kirche wichtige Auswirkungen. So hat die Tatsache, dass es der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) nicht gelungen ist, ihre Machtstellung in der Ukraine aufrechtzuerhalten, die bereits bestehende Machtasymmetrie zwischen Staat und Kirche zugunsten des Staates verstärkt. Die Schwächung der ROK in der Ukraine mindert auch den russischen Einfluss auf das Land, da die ROK bislang eine bedeutende Möglichkeit darstellte, der ukrainischen Gesellschaft politische und kulturelle Botschaften zu vermitteln. Und schließlich sendet die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche ein Signal an die Führungen und Bevölkerungen anderer postsowjetischer Staaten, dass Moskaus Einfluss tendenziell abnimmt.
Auch wenn die Entstehung der Orthodoxen Kirche der Ukraine mit Problemen behaftet ist, stellt sie einen wichtigen Beitrag zum Prozess der Nationsbildung sowie zur nationalen Souveränität des Landes dar. Wichtig wird sein, dass ukrainische Politiker mit dieser Entwicklung sensibel umgehen und sie im Sinne einer gesellschaftlichen Konsolidierung nutzen, anstatt sie ausschließlich für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.
Dieser Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.
Am 25. November 2018 haben russische Streitkräfte in der Straße von Kertsch ukrainische Marineschiffe beschossen und gekapert, ohne dass der Westen energisch reagiert hätte. Um Moskau davon abzubringen, die Destabilisierung der Ukraine weiterzutreiben, fordert Susan Stewart neue Sanktionen gegen Russland.