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Äthiopiens Chance auf Frieden sichern

Das Ende des Krieges im Norden sollte der Auftakt für grundlegende Reformen der Regierungsführung sein

SWP-Aktuell 2023/A 14, 01.03.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A14

Forschungsgebiete

Das Abkommen, das die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und die äthiopische Regierung am 2. November 2022 unterschrieben haben, bietet eine reale Chance, einen der blutigsten Kriege weltweit zu beenden. Die Umsetzung der Vereinbarung verläuft bisher gut. Durch den Friedensprozess ist jedoch die Frage nach einer stabi­len Machtverteilung innerhalb Äthiopiens und am Horn von Afrika ins Blickfeld gerückt. Die Regierung unter Premierminister Abiy Ahmed steht vor drei zentralen Herausforderungen. Erstens muss sie die TPLF integrieren und sich gleichzeitig aus der Partnerschaft mit Eritrea lösen. Zweitens muss sie das innenpolitische Verhältnis der wichtigsten politischen Akteure neu austarieren, um eskalierende Gewalt in den Bundesstaaten Amhara und Oromia zu stoppen. Schließlich muss sie die durch den Krieg gespaltene und verarmte Gesellschaft wieder zusammenbringen. Internationale Partner sollten Äthiopien mit konditionierten Finanzhilfen und Projekten zur Frie­densförderung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen.

Im Januar besuchten Bundesaußenminis­terin Annalena Baerbock und ihre französische Amtskollegin Catherine Colonna zu­sammen Addis Abeba. Ihre Botschaft: Euro­päische Partner sind bereit, ihre Zusammen­arbeit mit der äthiopischen Regierung wie­der zu intensivieren, wenn der Friedens­prozess in Tigray glaubwürdig gestaltet wird und es vor allem Schritte zur Aufarbeitung massiver Menschenrechts­verletzungen gibt.

Äthiopiens Bürgerkrieg ist Ausdruck eines Machtkampfs innerhalb der regierenden Elite des Landes. Premierminister Abiy hatte sich 2018 in einer internen Abstimmung in der Mehrparteienkoalition Ethio­pian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) überraschend gegen den Kan­didaten der TPLF durchgesetzt. Als Abiy 2019 aus der alten Koalition die neue Pros­perity Party (PP) formte, blieb die TPLF, die seit 27 Jahren die Koalitionsregierung be­herrscht hatte, außen vor. Die TPLF zog sich nach Tigray zurück, während Abiy ihren Einfluss innerhalb des Regierungs- und Sicherheitsapparats zurückdrängte und eine politische und wirtschaftliche Reform­agenda vorantrieb.

Der zentralistische Kurs von Abiys Regierung stand jedoch den Forderungen nach größerer ethnischer Selbst- und Mitbestimmung von Bevölkerungsgruppen aus dem ganzen Land entgegen, die nach der Zurück­setzung der TPLF ihre Zeit gekommen sahen. Der Machtwechsel 2018 war zustande ge­kommen, nachdem in den Bundesstaaten Amhara und Oromia jahrelang gegen die Dominanz Tigrays protestiert worden war. Am stärksten verschärften sich jedoch die Differenzen zwischen der Regierung und der TPLF: Anfang November 2020 eskalierten sie in einem bewaffneten Konflikt.

Karte

Der Krieg war nicht auf Tigray beschränkt; daher kann es auch der Friedensprozess nicht sein. In Äthiopiens bevölkerungsreichsten Regionen Oromia und Amhara haben ethnonationalistische Kräfte in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen, die teilweise gegen den Staat und auch gegeneinander kämpfen.

Abiys Machtbasis zerbröckelt als Folge dieser Verwerfungen, ohne dass sich ein alternatives Machtzentrum gebildet hätte. Auf dem Spiel steht dabei die Stabilität und letztendlich sogar die Einheit des äthiopischen Staates. Aus einer optimistischen Sicht bietet der Friedensprozess aber auch eine Gelegenheit, mehr Bevölkerungsgruppen einzubinden, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Machtverteilung zwischen dem Zentrum und ethnisch definierten Bundesstaaten, die Äthiopien seit Jahr­zehnten beschäftigt, neu auszuhandeln.

Der Frieden dient dem Macherhalt

Die »Vereinbarung über einen dauerhaften Frieden durch einen permanenten Waffen­stillstand«, welche die TPLF und die äthio­pische Regierung auf Vermittlung der Afri­kanischen Union (AU) im südafrikanischen Pretoria unterzeichneten, kam durchaus überraschend. Eine etwa fünfmonatige Feuerpause in der ersten Jahreshälfte 2022 hatte keine Verhandlungsfortschritte ge­bracht. Die seit Ende August wieder auf­geflammten Kämpfe waren von einer be­sonderen Härte und einem massiven Trup­peneinsatz gekennzeichnet. Berichte spre­chen von bis zu einer Million Kämpfern auf allen Seiten. In einer gemeinsamen Offen­sive eroberten eritreische Truppen und die Ethiopian National Defense Forces (ENDF) strategisch wichtige Städte in Tigray und standen kurz vor der Regionalhauptstadt Mekele. Die AU war aus Sicht der TPLF kein rundum glaubwürdiger Vermittler und ver­zögerte den Beginn von Friedensgesprächen.

Angesichts der militärischen Lage ist vor allem das Rational der äthiopischen Regie­rung erklärungsbedürftig. Ihr Gegner, die Tigray Defense Forces (TDF), hatte zwar bereits 2021 in Guerilla-Aktionen die äthio­pischen Streitkräfte aus Tigray vertrieben und war danach nach Amhara und Afar vorgerückt. Allerdings gelang es den TDF damals nicht, Addis Abeba oder die Ver­sorgungswege zwischen dem wirtschaft­lichen Zentrum des Landes und dem Hafen in Dschibuti zu erreichen. Im Herbst 2022 gingen ihnen überdies Nachschub und Munition aus.

Für beide Seiten war der Krieg mit enormen Kosten verbunden. Schätzungen gehen von 518.000 zivilen Todesopfern allein in Tigray bis Ende 2022 aus. Hinzuzuzählen sind zivile Opfer in Afar und Amhara sowie vermutlich Hunderttausende gefallene Kämpfer. Dies entspricht auch den Größen­ordnungen, die hochrangige Vertreter der EU, der USA und der AU nennen. Somit könnte rund ein Zehntel der Vorkriegs­bevölkerung Tigrays im Krieg ihr Leben ver­loren haben, vor allem wegen mangelnder medizinischer Versorgung und Unter­ernäh­rung. Die Regierung blockierte monatelang den Zugang für humanitäre Organisationen und schnitt die Bevölkerung Tigrays von Elektrizität, Telekommunikation und Bank­dienstleistungen ab.

Abiy stimmte dem Abkommen wahrscheinlich vor allem deshalb zu, weil es da­zu beiträgt, seine eigene Macht zu sichern. Eine vollständige militärische Eroberung Tigrays hätte vermutlich bedeutet, dass die Regierung ihre militärischen Kräfte auf Dauer in Tigray hätte konzentrieren müssen, um mögliche Guerilla-Aktionen zu unter­binden. Die hohen Militärausgaben belaste­ten ohnehin den Staatshaushalt Äthiopiens. Für Abiy wäre es schwieriger geworden, öffentliche Investitionen zu finanzieren, die das Wirtschaftswachstum der letzten Dekade in erster Linie angetrieben haben und Gelegenheit für Patronage boten.

Eine permanente Truppenkonzentration in Tigray hätte die Regierung auch daran gehindert, mehr Militär in die anderen Kon­fliktgebiete des Landes zu verlegen. Außer­dem hätte dieses Szenario Abiys Abhängig­keit von Eritrea weiter verstärkt, das einen erheblichen Teil seiner Streitkräfte gegen die TDF eingesetzt hat.

Schließlich hätte ein militärisches Ende des Krieges die Regierung weiterem inter­nationalen Druck ausgesetzt. Hatte sie zu Beginn des Krieges noch Unterstützung für ihren Kurs von Seiten der Trump-Adminis­tration und des Vorsitzenden der AU-Kom­mission Moussa Faki Mahamat, so änderte sich das später. Die USA setzten zum 1. Januar 2022 Handelsprivilegien unter dem African Growth and Opportunity Act (AGOA) aus, was insbesondere den äthio­pischen Textilsektor empfindlich traf. Im US-Kongress verstärkte sich die Forderung nach weiteren Sanktionen. In der Region setzte sich Kenia für eine friedliche Lösung des Krieges ein. Nachdem der AU-Sonder­gesandte Olusegun Obasanjo keine Fort­schritte erzielt hatte, erweiterte die AU das Mediationspanel um Uhuru Kenyatta, Kenias Ex-Präsidenten, und Phumzile Mlambo-Ngcuka, eine frühere Vizepräsidentin Südafrikas.

Das Abkommen wirkt – bislang

Der Kern des Abkommens besteht aus einem Deal: die TPLF verpflichtete sich zur kom­pletten Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der TDF ins zivile Leben bzw. in reguläre Sicherheitskräfte Tigrays und zur friedlichen Übergabe der Kontrolle an die Polizei und Streitkräfte der Zentralregie­rung. Im Gegenzug soll die TPLF von der äthiopischen Terrorliste gestrichen werden, die Versorgung der Bevölkerung in Tigray wiederhergestellt werden und sollen nicht-föderale Truppen abziehen.

Das wichtigste Ziel des Abkommens wurde sehr schnell erreicht: ein Ende der Kampf­handlungen zwischen den TDF und den ENDF. Beide Streitkräfte zogen sich von den Frontlinien zurück. Für die meisten Menschen im Norden Äthiopiens verbesserte sich die Situation. 90 Prozent der Bevöl­kerung Tigrays sind auf Unterstützung bei der Nahrungsmittel­versorgung angewiesen. Ein Großteil von ihnen hat jetzt wieder Zu­gang zu Hilfslieferungen. Viele Städte wur­den im Dezember wieder an das Elektrizi­tätsnetz angeschlossen. Banken öffneten wieder, Telekommunikations- und Internet­verbindungen wurden wiederhergestellt. Ethiopian Airlines nahm wieder Direktflüge zwischen Mekele und Addis Abeba auf. Doch die Qualität der Infrastruktur ist oft noch schwach, und einige Gebiete sind weiterhin kaum für humanitäre Organisationen zugänglich, insbesondere solche ab­seits großer Straßen und an der Grenze zu Eritrea. 2,3 Millionen Kinder gehen allein in Tigray nicht zur Schule, mehr als die Hälfte davon seit mehr als zwei Jahren. Der Wiederaufbau wird noch lange dauern.

Enge Partnerschaft mit Eritrea

Ein Knackpunkt des Friedensprozesses bleibt der Umgang mit jenen bewaffneten Akteuren, die bei den Friedensverhandlungen nicht dabei waren, primär Eritrea und Gruppen aus Amhara.

Für Abiy war Eritreas Präsident Isaias Afwerki ein wichtiger Verbündeter in sei­nem Machtkampf gegen die TPLF. Isaias hegt seit dem Grenzkrieg um den Ort Badme im Norden Tigrays (1998–2000) eine tiefe Feindschaft gegenüber der TPLF. Obwohl die äthiopische Regierung das Territorium, das von einer internationalen Grenzkommis­sion Eritrea zugesprochen wurde, nach dem Krieg besetzt hielt, wurde Eritrea inter­national zunehmend isoliert. Als bekannt wurde, dass die Regierung in Asmara die somalische Al‑Shabaab unterstützte, ver­hängte der UN-Sicherheitsrat auf Betreiben Äthiopiens 2009 Sanktionen und ein Waf­fen­embargo gegen Eritrea. Die mutmaß­liche Bedrohung durch die TPLF, Äthiopiens damalige Regierungspartei, diente Isaias zur Begründung für die Einführung eines unbefristeten Wehr- und Arbeitsdiensts, zu dem eritreische Männer und Frauen gleichermaßen herangezogen werden.

Das Abkommen zwischen Eritrea und Äthiopien vom Juli 2018, das Abiy ein Jahr später den Friedensnobelpreis eintrug, hatte in der Grenzregion zwar wenig nachhaltige Fortschritte gebracht. Gleichwohl stärkte es die Sicherheits- und Geheimdienstkooperation beider Regierungen und führte zur Auf­hebung der UN-Sanktionen. Als sich das Ver­hältnis zwischen TPLF und Abiy verschlech­terte, wurde aus dem Friedensabkommen ein Kriegspakt. Monate vor Kriegsbeginn verlegte Abiy Militär nach Tigray. Eritrea organi­sierte ein Training für 60.000 Truppen des Bundesstaats Amhara (gemäß der födera­listischen Verfassung haben äthiopische Bundesstaaten eigene Sicherheitskräfte).

Isaias sieht den Friedensprozess zwischen der TPLF und der äthiopischen Regierung dementsprechend mit großer Skepsis. Auch wenn im Januar eritreische Truppen­bewegungen aus einigen Städten Tigrays als Rückzug vermeldet wurden, sind eritreische Militäreinheiten wohl weiterhin in einigen Gebieten Tigrays präsent, zusätzlich zu Spezialkräften anderer äthiopischer Bundes­staaten, vor allem aus Amhara. Die eritrei­schen und amharischen Truppen werden für Angriffe auf die Zivilbevölkerung verant­wortlich gemacht, die auch sexuelle Gewalt, Entführungen und Plünderungen einschlie­ßen. Dabei soll es allein zwischen Anfang Novem­ber und Ende Dezember 2022 meh­rere Tausend Todesopfer gegeben haben.

Dabei hatten sich die Oberkommandierenden der beiden Konfliktparteien in Nairobi geeinigt, dass alle Nicht-ENDF-Trup­pen gleichzeitig mit der Entwaffnung der TDF abziehen sollten. Zur Überwachung der Einhaltung des Abkommens setzte die AU einen Monitoring- und Verifikationsmecha­nismus unter Führung von Generalmajor Stephan Radina aus Kenia ein. Dieser nahm Ende Dezember seine Arbeit auf und be­stätigte am 10. Januar 2023, dass die TDF einen Groß­teil ihrer schweren Waffen an die ENDF abgegeben hatte, darunter Panzer und Artillerie. Einen Abzug der Nicht-ENDF-Truppen aus Tigray vermeldete das AU-Team bisher indes nicht.

Innenpolitische Spannungen

Das Waffenstillstandsabkommen bietet Anhaltspunkte für den weiteren Friedensprozess, es enthält aber keine umfassende Rege­lung längerfristiger Konflikte. Abiys Herausforderung ist es, im Rahmen des Frie­densprozesses Zugeständnisse an die TPLF zu machen, ohne dabei seine sonstigen innen­politischen Allianzen zu sehr zu belasten.

Zuerst ist da die zukünftige Rolle der TPLF in der äthiopischen Politik. Das Ab­kommen sieht vor, dass nach der Entlistung der TPLF als Terrororganisation eine inklu­sive Interimsverwaltung für Tigray gebildet werden soll. Es gilt als wahrscheinlich, dass die TPLF bei den noch nicht terminierten Wahlen für das Regionalparlament und für die Repräsentation Tigrays im äthiopischen Parlament eine breite Mehrheit erreichen wird. Die Frage ist, ob sich die TPLF in Abiys Regierung einbinden lassen, auf eine Oppo­sitionsrolle zurückziehen wird oder dauer­haft auf eine reine Regionalpartei reduzieren lassen will. Denn gleichzeitig muss sich die TPLF auch um einen offeneren und in­klusiven Regierungsstil in Tigray selbst be­mühen, den dortige Oppositionsparteien bereits einfordern.

Skepsis gegenüber dem Friedensprozess mit der TPLF begegnet Abiy aus Amhara. Amharen waren selbst Opfer von Massenverbrechen der TDF, bei denen es auch zu sexueller Gewalt und Plünderungen ziviler Infrastruktur gekommen ist. Amharische Führer haben sich daher für eine Aufarbeitung der Übergriffe der TDF eingesetzt und werden einer möglichen Einbindung der TPLF reserviert gegenüberstehen.

Einen Balanceakt wird Abiy darüber hin­aus im Hinblick auf Gebiete in West- und Süd-Tigray vollführen müssen, die amhari­sche Einheiten zusammen mit den ENDF zu Anfang des Krieges besetzten (siehe Karte). Dabei vertrieben sie einen Großteil der tigrinischen Bevölkerung im Zuge einer Kampagne, die ein umfassender Bericht von Human Rights Watch und Amnesty Inter­national als ethnische Säuberung bezeichnete. Die amharische Seite verweist darauf, dass die TPLF die Gebiete Anfang der 1990er Jahre dem Bundesstaat Tigray zugeschlagen und ihrerseits amharische Bewohner ver­trieben hatte. Das Waffenstillstandsabkom­men sieht lediglich vor, dass die Zugehörigkeit dieser Gebiete im Rahmen der Verfas­sung geregelt werden soll. Die äthiopische Regierung dürfte be­strebt sein, einen end­gültigen Beschluss über den Status der umstrittenen Gebiete so lange wie möglich hinauszuzögern, um sich nicht zwischen dem Friedenspartner TPLF und Verbündeten aus Amhara entscheiden zu müssen.

Schließlich versucht die Regierung be­reits seit Mitte 2022, den Einfluss irregu­lärer amharischer Milizen, der Fano, ein­zudämmen, mit denen sie während des Krieges zusammengearbeitet hatte. Diesen werden massive Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Mit einer Größe von zwischenzeitlich mehreren Zehntausend gefährden die Fano das Gewaltmonopol der Regierung. Sie sind auch in Oromia aktiv.

Eskalation in Oromia

Potentiell die größte Sprengkraft für Abiy und die Stabilität Äthiopiens haben mittler­weile nicht mehr der Konflikt in Tigray, sondern Konflikte in Oromia und Spannungen zwischen Oromos und Amharen. Der Friedensprozess mit der TPLF könnte dabei sowohl positive als auch negative Wirkungen auf den Umgang der Regierung mit die­sen Konflikten haben. Die Wurzel ist letzt­lich die gleiche, nämlich die Machtverteilung zwischen Regionen und Zentrum.

Obwohl sie mit rund einem Drittel der Bevöl­kerung die größte ethnische Gruppe des Landes sind, hatten Oromos in Äthio­piens Geschichte nie eine Führungsrolle. Weite Teile des heutigen Bundesstaats Oromia wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Teil des äthiopischen Reiches.

Abiy stammt selbst aus Oromia, wo er in der Regionalregierung tätig war. Viele junge Menschen, die Treiber der Reformproteste vor 2018 waren, sehen in Abiys Unitarismus jedoch eine Rückkehr zur Anpassung an einen amharisch geprägten Zentralismus.

Am Ende des nationalistischen Spektrums operiert die Oromo Liberation Army (OLA), eine bewaffnete Gruppe, die sich 2018 von der jahrzehntealten Oromo Liberation Front (OLF) abspaltete. Die OLF unterzeichnete 2018 ein Friedensabkommen mit Abiys Regierung, was die OLA ablehnte. 2021 ver­bündete sich die OLA mit der TPLF. Nach verschiedenen Phasen des Aufs und Abs eskalierte die Gewalt wieder ab November 2022. Neben Angriffen auf zivile Infrastruktur kommt es dabei zu Zusammenstößen der OLA mit Fano-Milizen und regulären ENDF-Einheiten. Oromos sind besorgt, die Fano könnten ebenso wie in Tigray Land besetzen, das diese als amharisch betrachten. Landkonflikte zwischen Oromos und Amharas werden so von bewaffneten Gruppen beider Seiten politisiert. Hunder­tausende Menschen flohen bereits aus Oromia nach Amhara.

Die Gewalt in Oromia ist anders gelagert als der Konflikt mit der TPLF, aber dennoch ernst zu nehmen. Die OLA ist vermutlich zu klein, fragmentiert und schlecht ausgerüstet, um größere Städte oder gar Addis Abeba zu erobern, auch wenn sie teilweise bis zu 25 Kilometer nahe der Hauptstadt kämpft (siehe Karte). Die größere Folge ihres Agie­rens ist das Klima der Unsicherheit in einer wirtschaftlich wichtigen Region des Landes. So sprach der deutsche Botschafter in Äthio­pien bereits besorgt über Angriffe auf In­ves­toren in Oromia. Äthiopiens Hauptversor­gungsverbindungen mit dem Hafen von Dschibuti laufen ebenfalls durch Oromia.

Eskaliert der Konflikt zwischen bewaffne­ten Kräften Amharas und Oromias, könnte das ernste Konsequenzen für die Einheit und Regierbarkeit des Staates Äthiopien haben. Derzeit scheint dieses Szenario noch un­wahr­scheinlich zu sein, nicht zuletzt weil die politischen Akteure in beiden Bundesstaaten deutlich heterogener sind als in Tigray.

Der Friedensprozess im Norden könnte jedoch auch eine Vorbildfunktion für Oromia haben. Rund 80 Abgeordnete von Abiys Partei aus Oromia forderten ihn be­reits auf, in Friedensverhandlungen mit der OLA einzutreten. Die Regierung hat Ver­handlungen bisher mit Verweis auf die fragmentierte Führungsstruktur der OLA abgelehnt, die wie die TPLF als Terrorgruppe gelistet ist. In jüngerer Zeit zeigte sich Abiy jedoch offener für Verhandlungen.

Das Land zusammenhalten

Die bewaffneten Konflikte werden an­geheizt von einer polarisierten Gesellschaft und einer Wirtschaft in der Krise. Auch wenn Abiys Regierung derzeit nicht Gefahr läuft, durch Aufstände oder Wahlen gestürzt zu werden, muss sie ihre Position konsolidieren und die Gesellschaft einen.

Politiker und andere Akteure des öffentlichen Lebens haben die ethnische Polari­sierung während des Krieges verschärft. Premier­minister Abiy selbst bezeichnete die TPLF im Juli 2021 als »Unkraut« und »Krebs«, den es auszumerzen gelte. Während die Regierung betonte, dass sie zwischen der Bevölkerung Tigrays und der Partei TPLF unterscheide, gab es in den sozialen Medien dehumanisierende Statements gegenüber der Bevölkerung Tigrays generell, wie Alice Wairimu Nderitu, die UN-Sonderberaterin für die Prävention von Völkermord, im Oktober 2022 warnte. Aus Sicht vieler Men­schen in Tigray steht Abiys Regierung für einen Völkermord an ihrer Bevölkerung.

Eine Antwort auf die Polarisierung in der Gesellschaft kann möglicherweise der nationale Dialog liefern, den die Regierung mit der Einrichtung einer Kommission im Dezember 2021 angestoßen hat. Damit dieser Wirkung entfalten kann, müssten Oppositionskräfte, nicht zuletzt die TPLF und Parteien aus Oromia, daran mitwirken. Bisher nehmen viele den Prozess als zu ein­seitig von der Regierung dominiert wahr. Außerdem müsste die Regierung aufhören, den Zugang zu Medien einzuschränken. Wenn der nationale Dialog inklusiver und unabhängiger würde, eventuell auch dank der seit einiger Zeit laufenden deutschen Unterstützung für einen Multi-Track-Dia­log, könnte er eine wichtige Plattform bie­ten, um grundlegende gesellschaftliche und politische Fragen zu klären.

Mit Blick auf die jüngere äthiopische Ge­schichte argumentiert der Konfliktforscher Semir Yusuf, dass weder Protestbewegungen noch gewaltsamer Widerstand zur demokratischen Transformation Äthiopiens geführt haben. Für eine echte Demokratisierung brauche es vielmehr eine größere Unabhängigkeit der Institutionen und stär­kere Parteienstrukturen.

Nicht zuletzt haben auch die Wirtschaft und die Staatsfinanzen Äthiopiens enorm gelitten. Die Regierung schätzt den Bedarf für den Wiederaufbau in den kriegszerstörten Gebieten in Tigray, Afar und Amhara auf 20 Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig verzeichnet der Staatshaushalt wegen der hohen Militärausgaben und des wirtschaftlichen Rückgangs ein hohes Defizit. Sollte sich der Zugang zu finanziellen Ressourcen weiter verengen, dürfte es für die Regierung schwieriger werden, wichtige Eliten ein­zubinden. Angesichts von Währungs­reserven, die geringer sind als die in einem Monat anfallenden Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland, warnte die Rating­agentur Fitch bereits vor einem erhöhten Kreditausfallrisiko Äthiopiens.

Neben dem Krieg leidet die Wirtschaft auch noch unter den Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie und der Preissteigerung bei Düngemitteln und Energie in der Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.

Die Bevölkerung spürt die Konsequen­zen. Die jährliche Inflationsrate lag im Dezember 2022 bei 33,9 Prozent, der dritthöchste Wert in Afrika. Wegen der bewaffneten Auseinandersetzungen und einer weiteren regionalen Dürre nach der fünften aus­gebliebenen Regen­zeit in Serie sind 28,6 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Regierung sucht daher dringend nach einem Schuldenanpassungsprogramm und finanzieller Unterstützung des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF). Dieser hatte entsprechende Gespräche wegen des Wiederausbruchs der Kämpfe 2022 aller­dings aufgeschoben.

Europäische Unterstützung braucht Umsicht

Ihren Besuch in Äthiopien stellten Baer­bock und Colonna auch in den aktuellen geopolitischen Kontext. Vor Weizensäcken stehend, die die Ukraine gespendet hatte und deren Transport die beiden Regierungen finanziert hatten, begründete die deut­sche Außenministerin die Hilfe mit dem Ziel, »die Menschen in Äthiopien nicht auch noch zum Opfer des russischen Angriffskrieges werden« zu lassen.

Dieses Narrativ verfängt in Äthiopien nicht, dessen Beziehungen zu Russland und China seit dem Tigray-Krieg noch intensiver geworden sind. Beide Partner hielten ihre schützende Hand über Äthiopiens Regierung im UN-Sicherheitsrat. China ist die größte Quelle ausländischer Investitionen in Äthiopien.

Vielmehr bezeugt Baerbocks Aussage das Risiko, durch eine Fokussierung auf den geopolitischen Wettbewerb um Einfluss in dem nach Bevölkerung zweitgrößten Land Afrikas den spezifischen Kontext zugunsten eines regierungsfreundlichen Narrativs aus­zublenden. Neben der klimawandelbedingten Dürre sind in Äthiopien Millionen Men­schen wegen des Krieges im eigenen Land und der vorherigen huma­nitären Blockade von Abiys Regierung von Nahrungsmittel­unsicherheit betroffen. Im Februar startete Abiy sogar Weizenexporte, die dringend benötigte Devisen einbringen sollen.

Ein unkritisches Engagement Europas, um Boden gegenüber den geopolitischen Konkurrenten Russland und China gut­zumachen, könnte allerdings kontra­produktiv wirken. Es war nicht zuletzt der übermäßige internationale Enthusiasmus zu Beginn von Abiys Reformkurs, der den Premier­minister in seinem kompromiss­losen Kurs gegenüber der TPLF bestärkte.

Der Tigray-Krieg hat die Bundesregierung nicht dazu veranlasst, ihre bevorzugte Part­nerschaft mit der Regierung Äthiopiens auf Eis zu legen. Ende 2020 setzte sie eine schon zugesagte Reformfinanzierung zwar aus, behielt den Status Äthiopiens als Reformpartnerland der deutschen Entwicklungs­zusammenarbeit jedoch bei. Bundeskanzlerin Merkel warb bei ihrem Afrikagipfel im August 2021, an dem auch Abiy teilnahm, für deutsche Investitionen. Erst im Januar 2023 kündigte Entwicklungsministerin Svenja Schulze im Zuge der neuen Afrika-Strategie des BMZ an, die Reformpartnerschaften als Instrument auslaufen zu lassen.

Die Mitgliedstaaten der EU haben Ende Dezember 2022 ihre Bedingungen für eine graduelle Wiederaufnahme der auch von der EU ausgesetzten Budgethilfe ausbuchstabiert. Diese sind 1) Fortschritte bei der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens, 2) ungehinderter Zugang für huma­nitäre Hilfe und 3) Aufarbeitung der mas­siven Menschenrechtsverletzungen. Ins­besondere in den ersten beiden Bereichen gibt es Fortschritte wie die Entwaffnung der TDF und Hilfslieferungen in weite Teile Tigrays. Anfang Februar 2023 traf Abiy TPLF-Vertreter das erste Mal seit Beginn des Krieges persönlich.

Was genau die Bedingung für die Auf­arbeitung beinhaltet, ist unbestimmt. Zwar lehnt die äthiopische Regierung die Inter­nationale Menschenrechtsexperten-Kommis­sion für Äthiopien ab, die der UN-Menschen­rechtsrat Ende 2021 eingesetzt hat. Doch die äthiopische Menschenrechtskommission arbeitet auch in der Frage der Aufarbeitung weiterhin mit dem Büro des UN-Hoch­kommissars für Menschenrechte (OHCHR) zu­sammen. Zudem veröffentlichte das äthiopische Justizministerium einen Ent­wurf für Leitlinien einer Übergangsjustiz.

Deutschland und seine europäischen Partner sollten den Friedensprozess, der richtigerweise vornehmlich von den äthio­pischen Konfliktparteien getragen und vorangetrieben wird, nach Kräften unter­stützen. Konkrete Projekte für Stabilisierung und Friedens­förderung sind dafür wichtig. Deutschland sollte aber auch darauf hin­wirken, dass Medien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft in Äthiopien größere Frei­heiten erhalten. Aufarbeitung und Versöh­nung sollten auf der Agenda bleiben, ohne bestimmte Mechanismen vorzugeben. In jedem Fall sollte die Bundesregierung auch ihre Unterstützung der äthiopischen Men­schenrechtskommis­sion und der Wahlkommission fortsetzen.

Im Zuge der anstehenden Vertiefung der Beziehungen zu Äthiopien sollten Deutschland und seine europäischen Part­ner genauer die tieferen Probleme beachten, die ursächlich für Gewalt nicht nur in Tigray, sondern auch in Oromia und Amhara sind. Dafür müssen sie ihre bereits gesetzten Bedingungen nicht ändern, aber stärker auf Transparenz, Bevölkerungsorientierung, breite Inklusion und Rechenschaft der Regie­rung setzen. Dies gilt insbesondere für Wie­deraufbauhilfen und für die Modalitäten eines neuen IWF-Programms und des Schul­denabbaus im Rahmen der G20. Ein neuer Regierungspalast und Wohnkomplex in Addis Abeba, dessen Gesamtkosten fast dem gesamten Staatshaushalt entsprechen, wenn auch aus privaten und arabischen Quellen finanziert, setzt hier ein falsches Signal.

Wenn Äthiopien nachhaltigen Frieden und Stabilität erreichen will, braucht es ein inklusiveres politisches System. Der Frie­dens­prozess mit der TPLF und dessen kri­tisch-konstruktive Unter­stützung durch internationale Partner können der Aus­gangspunkt für eine entsprechende lang­fristige Entwicklung sein.

Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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