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Die Anbindung der Ukraine an Europas Stromsystem

Zwischen technischen Details und harter Geopolitik

SWP-Aktuell 2021/A 72, 16.11.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A72

Forschungsgebiete

Die Anbindung der Ukraine an das kontinentaleuropäische Stromnetz und den EU-Strommarkt steht auf der politischen Agenda. Die nötigen Stromverbindungen her­zustellen ist jedoch technisch kompliziert und erfordert darüber hinaus tiefgreifende Reformen im ukrainischen Stromsektor. Aber nicht nur die Ukraine ist in der Bring­schuld, auch die EU und ihre Mitgliedstaaten werden weitreichende geopolitische Entscheidungen von großer Tragweite treffen müssen. Für das Vorhaben bedarf es eines politisch abgestimmten Fahrplans, der klare Kriterien und Konditionen für ein gemeinsames Stromnetz definiert.

In der gemeinsam mit den USA abgegebenen Erklärung zur Unterstützung der Ukraine, der europäischen Energiesicherheit und der gemeinsamen Klimaziele vom 21. Juli 2021 verpflichtet sich Deutschland politisch, die Ukraine in Gasbelangen zu unterstützen, um die Folgen von Nord Stream 2 abzu­federn. Darüber hinaus will Berlin auch län­ger­fristig den Umbau des ukrainischen Energiesystems und dessen Integration in einen gemeinsamen Energieraum fördern und vorantreiben.

Die deutsch-amerikanische Erklärung setzt folglich die Anbindung der Ukraine an den europäischen Energiemarkt sehr hoch auf die politische Agenda Berlins, mit­telbar aber auch Brüssels. Dass es energie­politische Themen gibt, die über die alles domi­nierende Gasfrage hinausgehen, wird klar benannt.

Damit wird dem Strom in der Energie- ebenso wie in der Außen- und Sicherheits­politik eine immer größere Rolle zukommen. Die Energietransformation erfordert eine zunehmende Elektrifizierung. Daher wird der Anteil von Strom am Energiemix weltweit wachsen. Die EU-Nachfrage nach Strom könnte bis 2050 um 40 Prozent stei­gen. Das entspricht in absoluten Zahlen einem Zuwachs von ungefähr 1.100 Tera­wattstunden (TWh), also etwa das Zwei­fache des deutschen Stromverbrauchs. Außerdem ergibt sich aus dem von der EU-Kommission gesetzten Ziel, Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent zu machen, die logische Konsequenz, dass der Nachbarschaftsraum eingebunden werden muss. Mit der Umsetzung des Green Deal wird der massive Ausbau der Nutzung er­neuerbarer Energien verbunden sein. In der EU mangelt es jedoch an günstigen Stand­orten und sozialer Akzeptanz für den Ausbau zum Beispiel von Onshore-Wind­energieanlagen. Folglich wird die EU auf Importe von grünen und klimaneutralen Elektronen und/oder Molekülen angewiesen sein. In diesem Kontext ist auch die Strom­anbindung der Ukraine an das synchrone kontinentaleuropäische Netz zu sehen.

Große politische Worte, kleine konkrete Schritte

Die Synchronisierung der Stromnetze steht schon länger auf der Agenda. Die Verhandlungen darüber begannen nach dem ersten Memorandum of Understanding (MoU) zwischen der EU und der Ukraine über die Zusammenarbeit im Energiebereich, das 2005 unterzeichnet und 2016 erneut bestä­tigt wurde. Das MoU zielt auf eine »vollständige Integration« der Energiemärkte der EU und der Ukraine ab.

Außerdem ist die Ukraine seit 2011 Mit­glied der europäischen Energiegemeinschaft. Als solches ist sie verpflichtet, die energie­relevanten Teile des EU-Rechts sukzessive zu übernehmen. Dahinter steht auch das Vorhaben, die Energiemärkte zusammenwachsen zu lassen.

Der im Strombereich angestoßene Prozess hat Auswirkungen auf alle Nachbarländer: Zum einen würde eine Synchronisierung mit dem europäischen Kontinental­netz Maßnahmen auf EU-Seite erfordern, zum anderen müsste sich die Ukraine vom postsowjetischen IPS/UPS (Integrated Power System/Unified Power System) abkoppeln, konkret von Russland und Belarus. Nicht zuletzt stünde damit auch für Moldau – mit Transnistrien – aufgrund seiner geogra­phischen Lage fast zwangsläufig ein Wech­sel vom IPS/UPS zum Kontinentalnetz an.

Im Juni 2017 unterzeichneten die Netzbetreiber der Ukraine (Ukrenergo) und Mol­daus (Moldelectrica) mit dem Verband der europäischen Stromnetzbetreiber (ENTSO-E) eine entsprechende Vereinbarung über die künftige Stromanbindung. Darin werden die technischen Schritte definiert, die erfol­gen müssen, um die laut Ukrenergo für 2023 geplante Synchronisierung mit dem Konti­nentalnetz operativ vollziehen zu können.

Auch wenn mit der Vereinbarung zunächst einmal auf technischer Ebene ein Prozess angestoßen wurde, sind damit nicht automatisch die Weichen für eine Synchro­nisierung und Marktintegration gestellt.

Beweggründe für die Anbindung an das europäische Netz

Der Anschluss des ukrainischen Netzes an das europäische Verbundsystem von ENTSO‑E ist auch Thema auf höchster poli­tischer Ebene. So warb der ukrainische Pre­mierminister Denys Schmyhal bei Kanz­lerin Merkels letztem Besuch in Kyjiw im August 2021 für die Synchronisierung des Ukraine-Netzes mit dem kontinental­europäischen Netz.

Die Synchronisierung ist die weitest­gehende Form der Anbindung, da die Netze nicht nur miteinander verbunden, sondern als ein gemeinsames System mit gleich­laufender Phasenfolge betrieben werden. Das mehrt einerseits die Möglichkeiten, zur gegenseitigen Unterstützung einzusprin­gen, andererseits wächst aber auch das Ansteckungspotenzial bei Problemen.

Die Ukraine drängt auf eine Verbindung bis 2023 und will sich dafür schon im Win­ter 2021/22 vom russischen IPS lösen. Zu­nächst will man das ukrainische Strom­netz im Inselmodus betreiben, es also, von allen Nachbarn abgekapselt, selbst steuern und aus­balancieren. Erst nach einigen Test­läufen soll es dann mit dem kontinental­europäischen Netz synchronisiert werden.

Die Synchronisierung wird seitens der Ukraine vor allem aus vier Gründen voran­getrieben: Erstens würde das die Energie­sicher­heit der Ukraine verbessern: Das ukrai­nische Stromnetz ist – selbst wenn kein Stromhandel zwischen beiden Ländern statt­findet – technisch von der Frequenzhaltung abhängig, die vom russischen Netz­betreiber organisiert wird. Kurzfristig erhöht diese Abhängigkeit die Kosten der Entkopplung vom russischen System, da die entspre­chen­den Fähigkeiten in der Ukraine erst auf­gebaut werden müssten. Langfristig würde die Anbindung an das kontinentaleuro­päische Netz Moskau die Möglichkeit entziehen, diese Abhängigkeit zu nutzen, um in der Ukraine politisch Einfluss zu nehmen.

Zweitens könnte die Ukraine von geringeren Stromgestehungskosten profitieren: Die Anbindung an Kontinentaleuropa würde ausländischen Stromanbietern Zugang zum ukrainischen Strommarkt ermöglichen. Der damit einhergehende Wettbewerbsdruck würde die Voraussetzungen schaffen für eine wettbewerbliche Preisbildung auf dem momentan stark konzentrierten und über­regulierten ukrainischen Strommarkt. Ein liquider ostmitteleuro­päischer Strommarkt würde nicht nur das System von Monopolpreisen aufbrechen, sondern auch längerfristig marktbasierte Investitionssignale senden. Außerdem würde die Anbindung Strompreiseffekte dämpfen, die mit dem ukrainischen Kohleausstieg verbunden wären. Wenn billigere Importe aus der EU zu bestimmten Zeiten Strom aus ukrai­nischen Kohlekraftwerken ersetzen, könn­ten die Strompreiseffekte dieser (auch von der EU gewünschten) Maß­nahmen auf ein politisch akzeptables Maß reduziert wer­den, wie eine Studie von Low Carbon Ukraine ergeben hat. Allerdings würden die Strompreise in den Nachbarländern zu diesen Zeiten ebenfalls leicht steigen.

Drittens könnte die Anbindung auch direkt den Rückgang von Treibhausgas­emissionen fördern – falls die Ukraine gleichzeitig eine nennenswerte CO2-Steuer einführt. Dann nämlich könnte die Syn­chronisierung die CO2-Emissionen aus Kohle- und Gaskraftwerken in Osteuropa (Polen, Rumänien, Slowakei, Ungarn und Ukraine) jährlich um fast ein Fünftel sen­ken. Das entspricht etwa 14 Megatonnen CO2 oder rund 2 Prozent der jährlichen deut­schen Emissionen. Die Einsparung entstünde unter anderem dadurch, dass die Länder überschüssigen Strom aus Erneuerbaren in ihre Nachbarländer verkaufen könnten, anstatt die Erneuerbaren abzuregeln.

Viertens wünscht sich die Ukraine all­gemein eine engere Anbindung an die EU: Die Synchronisierung der Stromsysteme und die dadurch mögliche Integration der Strommärkte würden eine zusätzliche, schwer aufzulösende wirtschaftliche, aber auch institutionelle Verflechtung der EU und der Ukraine mit sich bringen. Das würde die regulatorische Anbindung im Rahmen der Energiegemeinschaft flankieren, welche die Ukraine verpflichtet, ener­giebezogene EU-Direktiven umzusetzen.

Der Anspruch der EU-Kommission, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen, und die Umsetzung des Green Deal sind auch aus Sicht der EU ein starkes Argument für eine Synchroni­sierung und weitreichende Integration. Die Ukraine könnte eines der Schlüsselländer auch für die deutsche Wirtschaft werden, die von Energieimporten abhängig ist. Wind, Sonne, Biomasse, Wasser und aus­gedehnte Flächen sind reichlich vorhanden, was die Ukraine zur attraktiven Quelle für grünen Strom und Wasserstoff macht.

Das theoretische Potenzial ist groß, das ukrainische Stromsystem momentan jedoch kaum in der Lage, genug Strom für den eigenen Bedarf zu generieren. Das Investi­tionsniveau ist niedrig, der Strommarkt von Oligopolen und politischer Einflussnahme geprägt. Das Land kommt folglich nur dann als Stromexporteur und Energielieferant für Deutschland in Frage, wenn es seine Erneuerbaren-Kapazität rasch ausbaut, der ukrai­nische Markt durch europäische Regu­lierung und Nachfrage an Stabilität und Wett­bewerbsfähigkeit gewinnt. Im Zuge dessen könnte die Ukraine auch selbst neue Ener­giequellen schneller erschließen.

Große Herausforderungen

Technische Hürden

Die technischen Hürden für eine Anbindung sind hoch, für die Vorbereitung des ukrai­nischen Netzes gilt ein komplexes Regelwerk. Die technischen Maßgaben und Anforderungen definiert die europäische Vereinigung der Netzbetreiber (ENTSO-E). Bevor die Ukraine sich mit Kontinental­europa synchronisieren kann, müssen alle 42 ENTSO-E-Mitglieder zustimmen, konkret sind das die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) der Mitgliedsländer. Die Vereinigung trifft ihre Entscheidung anhand technischer Parameter, wobei es im Kern darum geht, einen gesicherten Stromfluss durch gut gewartete und verwaltete Stromsysteme sicherzustellen. Zu den Entscheidern wer­den bekannte ÜNBs wie 50hertz aus Deutschland und Réseau de Transport d’Electricité (RTE) aus Frankreich gehören, aber auch kleinere wie Landsnet aus Island.

Eine besondere Rolle haben indes die direkten Nachbar-ÜNBs in der Slowakei, Ungarn, Polen und Rumänien, die entweder selbst noch Anpassungen in ihrem Netz vor­nehmen müssen und/oder Auswirkungen direkt in den Stromflüssen spüren werden. Schon jetzt mit diesen Ländern verbunden und synchronisiert ist die ukrainische Strom­insel »Burschtyn« im Westen der Ukraine (siehe Karte 1, S. 6). Dank der dort schon bestehenden Verbindung mit ENTSO-E hat die Ukraine bereits etwas Erfahrung damit, was es heißt, sich mit einem ande­ren Netz zu synchronisieren. Für eine er­folgreiche Synchronisierung mit dem euro­päischen Stromnetz braucht die Ukraine ausreichende transnationale Leitungen.

Ein Projekt des ukrainischen Kernkraft­werkebetreibers Energoatom ist »Energo­most«, eine Energiebrücke, die das Kern­kraftwerk Chmelnyzkyj 2 mit Polen über eine nach Rzeszów führende 750 Kilovolt-Leitung verbinden soll. Das ist aber von der polnischen Regierung nicht erwünscht. Andere wichtige Leitungen sind noch im Bau (nach Rumänien) oder könnten über Burschtyn in die Nachbarländer verlängert werden. Zudem baut die Ukraine neue Lei­tungen im Land selbst mit dem Ziel, die Ent­kopplung von Russland und Belarus vorzubereiten.

Technisch muss die Ukraine nach dem Regelwerk der ENTSO-E eine Reihe von Maß­nahmen umsetzen:

An erster Stelle steht die Netzstabilität: Eine der größten praktischen Herausforderungen ist die Fähigkeit, Stromnachfrage und ‑angebot aufeinander abzustimmen. Ist zu viel oder zu wenig Strom im Netz, läuft es Gefahr, zusammenzubrechen. Sind die Netze gekoppelt, kann ein Stromausfall etwa in der Ukraine auf andere Teile Euro­pas übergreifen. Die Ukraine erneuert da­her ihr Übertragungsnetz und dessen Steue­rung. Langfristig können auch dezentralere Systeme für ein höheres Maß an Strom­sicher­heit sorgen – das Übertragungssystem wird aber essentiell bleiben, weil es in der Ukraine große Städte, eine hohe Industrie­dichte und viele Großkraftwerke gibt.

Bei allen Verbesserungen, die die Ukraine schon aus eigener Kraft erreicht hat, würde das Land sehr von internationaler Unterstüt­zung profitieren. Insbesondere Deutsch­land hat Erfahrung mit der Anbindung neuer Netze (etwa der Verbindung von Ost- und Westdeutschland, aber auch der An­bindung der östlichen Nachbarn) und mit der Integration hoher Anteile volatiler Wind- und Solaranlagen in ein Stromsystem, das von alten Kohle- und Kernkraftwerken geprägt ist.

Theoretisch ließe sich die Ukraine auch über Gleichstrom-Kurzkopplung (back-to-back, B2B) an das kontinentaleuropäische Netz anbinden. So könnte Strom über die Grenzen fließen, ohne dass eine Synchro­nisierung notwendig wäre. Das würde auch das Risiko deutlich reduzieren, dass Pro­bleme im ukrainischen Stromnetz Ausfälle in Mitteleuropa zur Folge haben. Eine »back-to-back«-Kopplung ließe sich auch besser steuern. Allerdings würde jede künf­tige Ausweitung der grenzüberschreitenden Kapa­zität wieder hohe Investitionen in Kurzkopplungen erfordern. Solche Kopp­lungen würden dabei die Netzstabilität in der Ukraine kaum verbessern. Sie wären außerdem eine Minimallösung und würden insofern ein schwaches Signal im Hinblick auf engere Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU setzen.

Regulierung und Markt

Der ukrainische Strommarkt ist noch nicht in der Lage, mit dem europäischen zu inter­agieren. Dem stehen als erste Hürde Preis­bildung und Marktmonopole entgegen. Der Strommarkt ist hoch reguliert, da es Preis-Obergrenzen gibt. Außerdem sind die Netz­betreiber zu Stromlieferungen an öffent­liche Einrichtungen und an private Haus­halte verpflichtet. Die mit der Vergünstigung verbundenen Kosten tragen die staat­lichen Strommarkt-, Stromnetz- und Kraft­werksbetreiber. Zum anderen dominieren einzelne Oligarchen den Markt. Einige wenige private Unternehmen verhindern infolgedessen Wettbewerb und erzielen hohe Gewinne. Öffentliche Unternehmen da­gegen machen Schulden. Neben dem gene­rellen Risiko-Aufschlag auf Kapital­kosten in der Ukraine erschweren die fixen Preise und die Markt­konzentration Inves­titionen in neue Ener­gieträger. Zudem sind die Tarife des staats­eigenen ukrainischen Netzbetreibers Ukrenergo für die Leitung von Strom zu niedrig, Ukrenergo wird nur durch Staats­garantien vor dem Bankrott bewahrt. Das wiederum erschwert die Er­neue­rung der Leitungen und Trafo-Stationen.

Zweitens fehlt es an Institutionen und Rechtsrahmen. Auch wegen mangelnder Rechtssicherheit ist der ukrainische Strom­sektor noch nicht gerüstet für einen auto­matischen, kurzfristigen grenzüberschreitenden Stromhandel (»Market Coupling«), wie er in der EU eingeführt wird, um die bestehenden Systeme optimal zu nutzen. Hier fehlt es an grundlegende Erfordernissen, wie einem vertrauenswürdigen Markt­betreiber, aber vor allem an institutioneller Stabilität und Rechtssicherheit. Würde eine rein physikalische Kopplung nur für bila­teral ausgehandelte Lieferungen genutzt, wäre dies mit Blick auf die Systemdienlichkeit nicht effizient. Die nicht über einen transparenten Markt organisierten Lieferun­gen aus der Ukraine könnten überdies die Liquidität und Resilienz der vergleichsweise kleinen Strommärkte in Ostmitteleuropa auf eine harte Probe stellen. Durch eine Zusammenarbeit mit EU-Partnern wie EEX oder Nordpool könnte aber auch am Auf­bau eines Marktplatzes gearbeitet werden. Die notwendigen regulatorischen Schritte werden von der Energiegemeinschaft und der Unterstützungsgruppe Ukraine der EU-Kommission ohnehin begleitet.

Die Ukraine braucht außerdem entweder ein eigenes CO2-Preissystem, das sich mittel­fristig an das EU-ETS anschließen lässt, oder zu­mindest ein in der EU akzeptiertes Sys­tem für die Zertifizierung grüner Energie. Um sicher­zustellen, dass auch wirklich CO2-neutrale Energie in Deutschland ankommt, müssen Herkunftsnachweise sowie ein Monitoring-, Reporting- und Verifizierungs­mechanismus eingeführt werden.

Das von Unsicherheit geprägte ukrai­nische Investitionsklima würde von der An­bindung an Kontinentaleuropa nur dann profitieren, wenn ausländische Akteure im Land sicher und rechtlich geschützt operieren können. Dafür braucht es klare, faire und langfristig geltende Regeln, die auch konsequent durchgesetzt werden. Die EU kann dazu beitragen, der mangelnden Selbstbindungsfähigkeit der ukrainischen Energie­politik abzuhelfen, indem sie bestimmte Zugeständnisse (finanzieller und regulatorischer Art) daran knüpft, dass sich die Ukraine an die vereinbarten Strommarktregeln hält.

(Geo)politische Hürden

Die Liste der erläuterten Herausforderungen im technisch-operativen sowie im rechtlich-regulatorischen Bereich ist recht lang. Darüber hinaus müssen beide Seiten auch die Implikationen einer technischen Anbindung der Ukraine an das europäische Kon­tinentalnetz ab- und einschätzen. Denn eine syn­chrone Anbindung hätte nicht zu vernachlässigende Rückwirkungen auf die Nach­barstaaten und damit auch auf die Versorgungssicherheit und die Sicherheitslage in der EU.

Eine Abkopplung der Ukraine vom Inte­grated und vom Unified Power System (IPS/UPS) zwingt Russland und Belarus not­wendigerweise zu technisch-operativen Anpassungsmaßnahmen und ist mit finan­ziellen Kosten verbunden. Zudem erweitert die synchrone Anbindung an das Kontinentalnetz von ENTSO‑E den Einflussraum der EU und verkleinert denjenigen Russlands. Moskau hat aber zuletzt im Streit um Gas­lieferungen mit Moldau deutlich signalisiert, dass Bemühungen um eine stärkere Integration mit Europa russische Gegenmaßnahmen zur Folge haben können.

Hier ist die Ukraine aufgerufen, Konflikt­potenzial zumindest durch frühzeitige tech­nische Abstimmung einzuhegen, indem sie über die Auswirkungen mit ihren Nachbarländern spricht und idealerweise über einen parallelen Abkopplungsfahrplan verhan­delt. Angesichts der schwierigen und kom­plexen geopolitischen Lage, die nach der Annexion der Krim und der militärischen Destabilisierung der Ostukraine entstanden ist, scheint ein solch kooperatives Heran­gehen der Ukraine illusorisch. Andererseits müsste allen Parteien daran gelegen sein, die Abkopplung zu koordinieren, um nicht einen neuen Energiestreit auszulösen.

Eine Verschärfung des Konflikts würde für die Ukraine gerade im Winter problematisch werden. Die Strom- und Wärmeproduktion des Landes ist von russischen Nuklearbrennstäben ebenso abhängig wie von regelmäßigen Kohle- und Gaslieferungen aus Russland (siehe Karte 1).

Karte 1

Mitte November 2021 zeichnet sich eine besonders prekäre Situation ab: Knappe Kohle- und Gasspeicherstände könnten es Russland ermöglichen, die Energieversor­gungs­sicherheit der Ukraine auf eine ernste Probe zu stellen, indem es nur geringe Men­gen Gas liefert. Das hat in der Ukraine bereits zu Diskussionen über eine Wiederaufnahme von Stromimporten aus Belarus geführt.

Zu diesen aktuellen und unmittelbaren Energiesicherheitsfragen kommen harte Sicherheitsthemen hinzu. Die Ukraine war in den letzten Jahren wiederholt hybriden Angrif­fen auf Teile ihres Stromnetzes aus­gesetzt. Es ist schwierig, die Cyber-Attacken einem staatlichen Verursacher zuzuordnen, In jedem Fall kann aber als gesichert gelten, dass russische Hacker über entsprechende Fähigkeiten verfügen und dass Russland genaue Kenntnisse von der Funktionsweise des ukrainischen Stromnetzes hat.

Gleiches gilt für Moldau. Hier war das Gaskraftwerk Kutschurgan in Transnis­trien Gegenstand eines Streits mit Moskau. Diese Großanlage erzeugt 80 Prozent des Strombedarfs von Moldau. Würde diese Anlage ausfallen, oder auch das ukrainische Kernkraftwerk in Saporischschja mit einer Gesamtkapazität von sechs Gigawatt, bräche stabile Grundlast weg, mit hohem Ansteckungspotenzial für das gesamte synchrone Netz.

Dass Geopolitik und Energienetze zum strategischen Instrumentenkasten des Kremls gehören, zeigt die Tatsache, dass die Krim nach der Annexion zügig mittels neuer Stromleitungen über die Brücke von Kertsch versorgt wurde. Auch die besetzten Gebiete in der Ostukraine sind de facto Teil des russischen Stromnetzes und bereits vom ukrainischen Netz abgekoppelt.

Tragweite und Konsequenzen

Als Kompensation für die Zurückhaltung der USA, Sanktionen gegen Nord Stream 2 zu verhängen, hat sich Deutschland gegen­über Washington bereit erklärt, die Ukraine zu unterstützen. Die USA und die Ukraine haben die Integration der Ukraine ins euro­päische Netz in ihrer Charta über strate­gische Partnerschaft erwähnt. Auch die EU sieht darin eine Priorität.

Selbst wenn ENTSO-E sich mit den noch verbleibenden technisch-operativen Her­ausforderungen beschäftigen muss, sollten sie wegen ihrer politischen Tragweite nicht allein einem solchen technischen Gremium überlassen werden. Synchrone Strom­verbünde sind »Strom-Solidar- und Schick­salsgemeinschaften«, in denen sich alle Beteiligten Vorteile und Risiken teilen. Das setzt ein hohes Maß an Vertrauen sowohl in einen zu­verläs­sigen technischen Betrieb als auch in Zukunft weitgehend verlässliche Koopera­tion voraus. Denn Stromnetze werden auf drei Ebenen gesteuert: a) auf technisch-operativer und infrastruktureller Ebene, b) auf politisch-regulatorischer Ebene sowie c) auf Handels- und Marktebene.

Anders als die Baltischen Staaten, mit denen derzeit ebenfalls ein Synchroni­sierungsprozess läuft, gehört die Ukraine ebenso wenig zur EU wie Moldau, und sie wird auch auf absehbare Zeit kein Mitglied werden. Dank der starken und wohldefi­nierten Institutionen der EU haben alle EU-Mitgliedstaaten weitgehend ebenbürtige Kontrolle über das Stromsystem. Als Nicht-EU-Mitglieder sind die Ukraine und Moldau davon größtenteils ausgeschlossen.

Im Fall einer Synchronisierung des Ukraine-Netzes mit dem Kontinentalnetz müsste das Land aber auch auf den nicht­tech­nischen Governance-Ebenen mehr einbezogen werden. Strommarkintegration bedeutet, Interkonnektivität nicht nur phy­sisch, sondern auch handelsseitig darzustellen. Das der Synchronisierung zugrunde­liegende Regelwerk berücksichtigt zwar die Interoperabilität der Systeme und grenzüberschreitenden Leitungen sowie die tech­nische Integrität und Sicherheit. Jenseits dieser technisch-operativen Ebene gibt es jedoch zwischen der EU und ihren Nachbar­staaten deutliche Abstufungen, was Vernet­zung und Handelskontakte, Regelsetzung und Machtprojektion angeht. Die Energie­gemeinschaft ist das Instrument gewesen, um die physische und marktseitige Integra­tion voranzubringen. Doch der gemeinsame Rechtsbestand und die Netzwerkcodes, also die Regeln für den Netzbetrieb, sind immer ausgefeilter geworden. Damit wer­den auch die Hürden für die Integration höher. Für das technisch-operative Funktio­nieren des Stromsystems gilt die Devise »Rules before Joules«: Zuerst die Regeln um­setzen, dann die Leitungen in Betrieb neh­men. Für die Integration der Märkte gilt dies ebenso.

Schlussfolgerungen

Spätestens mit der gemeinsamen deutsch-amerikanischen Erklärung hat Deutschland eine Schlüsselposition bei der Anbindung der Ukraine eingenommen. Wegen der Tragweite dieses Vorhabens wird die neue Bun­desregierung aber im Einvernehmen mit Brüssel und den anderen Mitglieds­ländern agieren und auf einen Konsens hinwirken müssen.

Theoretisch bestehen drei Handlungs­optionen für Berlin, Brüssel und Kyjiw:

  • Einzig den technischen Prozess laufen lassen. Wenn es keine klare politische Führung gibt, wäre zu erwarten, dass dieser Prozess – obwohl sich niemand offen gegen die Synchronisierung posi­tio­nieren muss – keinen Abschluss finden wird. Das würde die Ukraine in eine schwierige Lage mit Blick auf Investitionen in grüne Energien bringen. Das verstieße nicht nur gegen die deutsch-amerikanische Erklärung, sondern würde auch die EU dem geopolitischen Ziel nicht näherbringen, den Kontinent klimaneutral werden zu lassen.

  • Sich auf eine Gleichstromkurzkupplung (B2B) beschränken. Das würde die Ukraine quasi im Inselmodus belassen und wäre langfristig wohl auch mit höheren Kosten verbunden.

  • Einen klaren Fahrplan definieren, mit politischer Unterstützung für die technischen und politischen Prozesse. Konkret würde darin festgelegt, welche Regeln gel­ten, welche Leitungen gebaut und welche Investitionen getätigt werden sollten. Auf diese Weise ließen sich tech­nische Risiken bearbeiten und politische Kosten kalkulieren. Das wäre Voraus­setzung für eine nachhaltige Lösung.

Die EU muss eine politische Entschei­dung treffen, welche weitergehenden Re­form- und Integrationsschritte die Ukraine poli­tisch-regulatorisch sowie handels- und markt­seitig zu vollziehen hat. Den Entschei­dungs­prozess müsste Berlin moderieren und vorbereiten. Je nach Umsetzung wird die Ukraine entweder das Vertrauen schaf­fen, dass sie sich der EU nachhaltig anschlie­ßen will, oder künftige Verwerfungen und Desintegrationstendenzen erwarten lassen (z.B. bei Regierungswechseln in der Ukrai­ne). Eine Synchronisierung lässt sich jeden­falls nicht einfach rückgängig machen.

Dabei gilt es zwei künftige Streitfragen im Blick zu behalten: Der CO2-Grenzausgleichs­mechanismus der EU wird dem freien Han­del von Strom Grenzen setzen und die Preise für Stromimporte erhöhen. Außerdem dro­hen Spannungen mit Belarus und Russland. Im schlimmsten Fall könnte sich die Strom-Integrationskonkurrenz zu einer Stromblock-Konfrontation auswachsen. Deswegen sollte Deutschland als Vermittlerin zwischen Russ­land und der Ukraine fungieren.

Folgende Punkte bedürfen einer poli­tischen Entscheidung:

Erstens ist zu entschieden, ob nur eine Kopplung über Gleichstromkurzkupplungen erfolgen soll oder ob die EU mit Wech­selstromleitungen eine wirkliche Synchronisierung durchführen will.

Zweitens gilt es zu entschieden, wann – 2023, 2026 oder später – eine Kopplung oder Synchronisierung erfolgen soll. Dabei kann auch über ein Phasenmodell und eine Sequenzierung nachgedacht werden.

Drittens muss entschieden werden, wel­che Netzverbindungen konkret in Betrieb genommen werden sollen. So könnten Nach­barn der Ukraine mit einer Synchronisie­rung grundsätzlich einverstanden sein, aber keine direkte/starke Stromverbindung wünschen.

Viertens ist zu überlegen, welche Rolle der bestehende und der künftige Strommix für den grenzüberschreitenden Handel mit der EU spielen soll. Momentan dominieren Atom- und Kohlestrom, doch verfügt die Ukraine über große Potenziale für erneuerbare Energien.

In jedem Fall braucht es klare Entschei­dungen, die einen transparenten politischen Prozess definieren. Eine eindeutige Sequenz würde es ermöglichen, Haltepunkte im Pro­zess zu identifizieren (zeitlich und quali­tativ), an denen jeweils überprüft wird, ob die Bedingungen erfüllt worden sind.

Wird die Synchronisierung technisch, öko­nomisch und politisch schlecht vorbe­reitet und übernimmt niemand politische Verantwortung, könnte das zu bösen Über­raschungen für beide Seiten führen.

Lukas Feldhaus ist Analyst im »Low Carbon Ukraine«-Projekt, Berlin Economics. Dr. Kirsten Westphal ist Wissenschaftlerin in der SWP-Forschungsgruppe Globale Fragen. Georg Zachmann ist Senior Fellow Energy & Climate Policy bei Bruegel, Brüssel.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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