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Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – Ein Denkanstoß

SWP-Aktuell 2020/A 84, 30.10.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A84

Forschungsgebiete

Spätestens seit dem sicherheitspolitischen Epochenjahr 2014 (Russlands Annexion der Krim) und den Nato-Beschlüssen von Wales, zuvor aber schon mit dem Strategischen Konzept des Nato-Gipfels von Lissabon 2010 rückte die kollektive Verteidigung wieder in den Mittelpunkt der Bündnisanstrengungen. Der Nordatlantikrat stellte sie gleich­rangig neben die weltweiten Einsätze zur Krisenintervention. Ungeachtet dessen wurde in Deutschland die Organisation der Bundeswehr 2011 noch stärker auf inter­nationales Krisenmanagement als Schwerpunkt ausgerichtet. Erst mit dem Weißbuch 2016 und der Konzeption der Bundeswehr 2018 erfolgte politisch die notwendige Korrektur. Wesentliche Auswirkungen auf die zuvor eingenommenen Strukturen sind bislang noch nicht erkennbar, wohl aber Fehlentwicklungen. Deshalb sollte jetzt mit den erforderlichen Veränderungen begonnen werden.

Begriffe können kontraproduktiv werden. Spätestens seit der letzten Bundeswehr­reform von 2011 scheint der Begriff »Reform« in der Bundeswehr verbrannt zu sein. Im Bewusstsein vieler altgedienter Soldatinnen und Soldaten verbinden sich mit den diver­sen Reformen nach 1990 vor allem Stich­worte wie Schrumpfen, Auflösen und Umstationieren, permanent wechselnde Führungsstrukturen, Frühpensionierungs­programme, Finanznot und materieller Mangel. Aus der großen Wehrpflichtarmee des Kalten Krieges wurde die kleinere pro­fessionalisierte Freiwilligen-»Armee im Einsatz«. Das Pathos einer »Erneuerung von Grund auf«, einer kontinuierlichen »Trans­formation« für die neuen Aufgaben oder einer fundamentalen »Neuausrichtung« konnte nicht überdecken, dass alle syste­matischen Militärreformen im vereinten Deutschland bisher unter der Maxime »design to budget« standen, es waren Spar-Reformen.

Schon wieder eine Reform?

Diese Vorbelastung darf nun aber nicht allein deshalb von notwendigen Veränderungen abhalten, weil man im Verteidigungsministerium den Eindruck vermeiden will, »schon wieder« mit einer großen Reform zu kommen. Je länger unpassend gewordene Strukturen wirksam sind, desto mehr ver­festigen sich Fehlentwicklungen – mit un­liebsamen Folgen wie Mittelverschwendung, Motivationsverlust und ungenügende Ein­satzbereitschaft.

Die Bundeswehr war bis zur welthisto­rischen Wende von 1990 allein zur Landes­verteidigung als Bündnisverteidigung ent­lang der innerdeutschen Grenze aufgestellt, danach vor allem auf multinationale Krisen­intervention außerhalb des Bündnisgebiets ausgerichtet. Seit 2014 muss sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte zwei Hauptaufgaben gleichzeitig bewältigen: Sie muss wei­terhin Out-of-Area-Einsätze leisten (Balkan, Afghanistan, Sahel-Region, Nahost, Mittel­meer, Indischer Ozean) und mit der gleichen Truppe die Fähigkeit zur Bündnisverteidigung in Europa wiederherstellen. Im sicher­heitspolitischen Weißbuch der Bundes­regierung von 2016, in der darauf aufbauenden »Konzeption der Bundeswehr« von 2018 und im militärischen »Fähigkeits­profil«, das die Nato-Streitkräfteplanung für die Bundeswehr operationalisiert, wird dieser neuen Doppelaufgabe ausdrücklich Rechnung getragen. Für zusätzliches Per­sonal und Material wird seit einigen Jahren weiteres Geld in den Verteidigungsetat ein­gestellt (2014: 32,4 Milliarden Euro, 2020: 45,6 Milliarden Euro). Das Schrumpfen ist gestoppt, das Wachsen hat begonnen.

Diese grundlegende Veränderung in Lage und Auftrag erfordert nun aber auch zwin­gend Strukturreformen. Dabei können zu­gleich Fehler und Fehlentwicklungen der Vergangenheit korrigiert werden.

Zu lernen wäre aus den vorangegangenen Bundeswehrreformen, dass eine dis­ruptive »Von-Grund-auf«-Veränderungs­rhetorik wenig zur Problemlösung, aber manches zur Verunsicherung und Ver­härtung beiträgt. Da in gewisser Weise alles immer, auch heute, in kleinteiliger Ver­änderung begriffen ist (Neuaufstellung, Auflösung, Umgliederung, Europäisierung, neue Waffensysteme, Infrastrukturzwänge u. a.), wird eine »evolutionäre« Semantik der Sache wohl besser gerecht. Veränderungen sollten dort ansetzen, wo sie den größten Effekt erzielen. Die salomonische Maxime könnte lauten: So viel Kontinuität wie mög­lich, so viel Reform wie nötig.

Unhaltbarer Status quo

An offiziellen Dokumenten, die Defizite und Mängel thematisieren, fehlt es nicht. Der Bericht zur Materiellen Einsatzbereit­schaft der Hauptwaffensysteme der Bun­deswehr beklagt im März 2019, es sei »bisher nicht gelungen«, die Klarstände »deutlich zu verbessern«. Über Risiken bei den laufenden Rüstungsprojekten informiert ein eigener Halbjahresbericht das Parlament: Ein Hubschrauber etwa liegt da 134 Monate hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück und wird 1,3 Milliarden Euro teurer als veranschlagt. Ein neuer Panzer ist nach Darstellung der ministeriellen Rüstungsberichterstatter 57 Monate im Verzug und wird 1,4 Milliarden Euro teurer. Auch planmäßige Instandsetzungsvorhaben verzögern sich uferlos – so zuletzt bei Fre­gatten und Versorgern der Marine. Darun­ter leiden Planbarkeit von Ausbildung und Einsatz sowie Ausbildungsstand und Ein­satzbereitschaft des spezialisierten Perso­nals. Zu oft sitzen zu viele zu lange auf dem Trockenen. Das gilt zu Wasser, zu Land und in der Luft.

Alle bisherigen Reparaturversuche am System der Mangelwirtschaft durch Sonder­organisationen, Ad-hoc-Arbeitsgruppen und zusätzliche Personalzusagen haben sich als nur begrenzt wirksam erwiesen. Wechsel­seitige Schuldzuweisungen der beteiligten Akteure – behördlicher Rüstungsbereich, Streitkräfte, Ministerium und Industrie – führen nicht weiter. Zentralisierung, Pri­vatisierung, Verrechtlichung und Verantwortungsdiffusion lauten die eingeübten Prinzipien der Gegenwart, deren Gültigkeit nun ganz grundsätzlich auf den Prüfstand gehört.

In den Jahresberichten des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages kom­men regelmäßig die strukturellen Probleme zur Sprache, an denen die Soldatinnen und Soldaten leiden. »Da alte Strukturen und Prozesse längst nicht mehr passen, laufen allzu viele Anstrengungen ins Leere«, heißt es im 2020 veröffentlichten Bericht.

Das Verteidigungsministerium hat 2017–19 in einem Projekt »Innere Führung – heute« Soldatinnen und Soldaten aller Organisationsbereiche und Dienstgradgruppen selbst formulieren lassen, wo sie Reformbedarf sehen. Im 2020 veröffentlichten Wehrbeauftragten-Bericht sind einige Problembefunde aus den 41 Workshops, so wie sie von der ministeriellen Projekt­leitung protokolliert wurden, dokumentiert. Da heißt es zum Beispiel: »Es fehlten die notwendige Robustheit, Klarheit in den Zuständigkeiten und Durchhaltefähigkeit für eine militärische Großorganisation. Es man­gele an in eigener Verantwortung agie­renden Organisationselementen mit den Mög­lichkeiten zur schnellen Reaktions­fähigkeit durch strukturell verfügbare Res­sourcen. Zur Auftragserfüllung müssen daher oft Sonderorganisationen geschaffen werden.«

Als wichtigste Maßnahme schlagen die Soldatinnen und Soldaten laut Projekt­auswertung vor: »Die Ressourcenverant­wortung in den Dimensionen Material und Personal soll in die Hand derer zurückgegeben werden, die für die Auftragsdurchführung verantwortlich sind. Querbeziehungen zu Ressourcenverantwortlichen sollen mini­miert und strukturell neu gefasst werden.«

Aus der Bundeswehr selbst kommt also heute – nach leidvollen Erfahrungen mit den gegenwärtigen Strukturen – die For­derung nach einer zeitgemäßen neuen Reform. Alles so zu lassen wie gehabt wäre keine Option mehr.

Empfehlungen früherer Reform-Kommissionen

Wer sich 2020 Gedanken über Veränderungen der Bundeswehrstruktur macht, tut gut daran, die Empfehlungen früherer Reform­kommissionen aus dem Archiv zu holen. Legendär ist der umfassende, beinahe weiß­buchartig formulierte Bericht der Weiz­säcker-Kommission aus dem Jahr 2000: »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr«. Unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erarbeiteten 21 Experten aus Politik, Mili­tär, Wirtschaft und Kirchen ein extrem ehrgeiziges Erneuerungsprogramm für die Bundeswehr (»von Grund auf«).

Als Reformziel nennt der Abschluss­bericht einen »umstrukturierten, nach­haltig verkleinerten Personalbestand«. Maß­stab für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr sollte die Einsatzfähigkeit »unserer wich­tigsten europäischen Partner« sein: also Großbritanniens und Frankreichs.

Gleich zu Beginn kritisiert das Weiz­säcker-Team, es habe in den zehn Jahren seit der Wende 1990 für die Bundeswehr nur »Anpassungen gegeben, nicht aber Reformen«. Nun müsse endlich »einem betriebswirtschaftlichen Denken und Han­deln neuer Raum gegeben werden«. Ganz im Sinne des damaligen neoliberalen Zeit­geistes gibt sich die Kommission überzeugt, dass bei Beschaffung, Entwicklung, Aus­bildung, Logistik und Betrieb »vieles, was bisher von staatlicher Seite geleistet wurde, von privaten Marktteilnehmern rascher, billiger und wirksamer erbracht werden kann«. Privatisierung und Public Private Partnership waren die Schlagworte dieser Strategie, die mit umfassenden Wartungs- und Betreiberverträgen auch der schrumpfenden heimischen Rüstungsindustrie hinweghelfen sollte über das Streichen, Strecken und Schieben bei den laufenden militärischen Neubauprogrammen. Aus der schwerfälligen Beschaffungsbehörde sollte eine agile, privatrechtliche »Rüstungsagen­tur« werden. Weitere Kommissionsempfeh­lungen betrafen die Zentralisierung des Sanitätsdienstes, allgemein die Straffung von Führungs- und Kommandostrukturen und die Stärkung der Verantwortung des Generalinspekteurs.

Der Kommissionsbericht spricht vom »Unternehmen Bundeswehr« und fordert »moderne Methoden des Managements und Controllings«. Die Kollision unterschiedlicher Rationalitäten – etwa bei der Ausrüstung: »Haben ist besser als brauchen« versus »just in time«-Auslieferung des Benötigten – wird im Bericht nicht thematisiert, prägte dann aber zunehmend die soldatische Erfahrung der beiden folgenden Jahrzehnte.

Auch wenn manche Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission von den Verteidigungsministern Scharping und Struck in ihren jeweiligen Bundeswehrreformen nicht umgesetzt wurden (Wehrform, Pri­vatisierung der Beschaffungsorganisation), so ist doch der Einfluss des Kommissions­berichts bis heute enorm, legitimatorisch wie organisatorisch.

Zehn Jahre später, 2010, immer noch in Zeiten der Hauptaufgabe Kriseninterven­tion, legt eine neue Bundeswehr-Struktur­kommission ihren Bericht vor: »Vom Ein­satz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz« lautet der Titel. Die sechsköpfige Kommission leitete der Vorsitzende des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit, Oberst d. R. Frank-Jürgen Weise. Außerdem dabei: zwei Unternehmer, ein pensionierter General, ein Oppositionsabgeordneter und eine frühere Präsidentin des Bundesrechnungshofes. Politisch herrschte damals weitgehend Konsens, dass die Auswirkungen der Weltfinanzkrise auf den Bundeshaushalt eine weitere Reduzierung des Umfangs der Bundeswehr erfordern.

Kritisch ist im Weise-Report von einer »erkennbar fehlenden Änderungsdynamik« die Rede, gefordert sei ein »radikaler Um­bau«. Die Weise-Kommission sieht wie die Weizsäcker-Kommission Potenzial für eine weitere »Auslagerung von Aufgaben in den Bereichen Logistik und Instandhaltung« und in einer »Vertiefung der bereits beste­henden Arbeitsteilung mit der Wirtschaft« mit dem Ziel, »alle nicht einsatzrelevanten Prozesse an die Wirtschaft auszulagern«.

Reformbedarf erkennt die Weise-Kom­mission bei der zu beobachtenden »Frag­men­tierung von Verantwortung« und dem stei­genden Anteil von Berufssoldaten. Die Bun­deswehr sei »überaltert« und »stabs­lastig«. Es wird die Aussetzung der allgemei­nen Wehr­pflicht vorgeschlagen. Zentralisierung gilt weiterhin als universelles Mittel der Wahl: von der Auslagerung der Teil­streitkraft-Inspekteure aus dem Ministerium bis hin zur Versäulung durch »Fähigkeits­kommandos« und »Kompetenzzentren« für übergreifende Fähigkeiten und Funktionen.

Mit Blick auf die Beschaffung betont die Kommission die Vorteile »marktverfügbarer Produkte«. Kritisch sieht man nationale Sonderlösungen. Auch für die Streitkräfte selbst wird um Prüfung gebeten, »in wel­chen Bereichen eine internationale Arbeits­teilung [...] Einsparungen und Effizienz­gewinne ermöglicht«.

Wie die Weizsäcker-Kommission empfiehlt die Weise-Kommission für die Um­setzung der Gesamtreform eine Anschub­finanzierung und ein vom Bundestag zu beschließendes »Programmgesetz«.

Die beiden Reformpapiere von 2000 und 2010 stammen aus der Friedensdividende-Epoche. Ideenpolitisch bemerkenswert sind in beiden Berichten die Verbetriebswirtschaftlichung des Militärischen und das etwas mechanistische Top-down-Führungs­verständnis, das dem militärischen »Führen mit Auftrag« wie auch dem tatsächlichen politischen Willensbildungsprozess oft nicht gerecht wird.

Mögliche Widerstände gegen die beabsichtigten Veränderungen thematisiert die Weise-Kommission deutlich. Sie fordert sogar eine Begleitung der Reform durch ein externes Beratungsgremium. Tatsächlich sollte der Erfolg einer inneren Reform aber nicht von externen Faktoren wie Programm­gesetz, Anschubfinanzierung oder Beraterbegleitung abhängen.

Stattdessen wäre es nützlich, wenn die Bundesregierung selbst jeweils einmal pro Legislaturperiode verpflichtet wäre, eine umfassende sicherheitspolitische Erklärung abzugeben, etwa in Form eines Weißbuchs, in jedem Fall als Bericht an den Deutschen Bundestag, der dazu eine Grundsatzdebatte über politische Ziele und Strategien, Kräfte und Mittel führen könnte. Die routinierten Mandatsdebatten und jährlichen Haushalts­beratungen erfüllen den Zweck der parla­mentarischen Kontrolle und Mitverantwor­tung zu wenig: Das große Ganze wird kaum je thematisiert.

Dem heutigen Veränderungsbedarf ent­sprechend gibt es im Verteidigungsminis­terium wie auf der Ebene der militärischen und zivilen Organisationsbereiche aktuell unterschiedliche Überlegungen. Die Um­setzung einiger Vorschläge der Müller-Kom­mission von 2019 (unter Leitung des ehe­mali­gen Commerzbank-Aufsichtsratsvorsit­zen­den Klaus-Peter Müller) zur Verbesse­rung des Beschaffungswesens hat schon begonnen. Eine vom Generalinspekteur eingesetzte Arbeitsgruppe »Generale / Admi­rale« arbeitet an Vorschlägen. Ein Papier von Lehrgangsteilnehmern der Führungs­akademie gab Anstöße. Im Bereich der Reserve und der territorialen Militärstrukturen, Stichworte Heimatschutz und Host-Nation-Support, zeichnen sich bereits Strukturanpassungen ab. Aber im Großen und Ganzen verhält sich der Apparat ab­wartend – mit Blick auf die Unkalkulierbarkeit der Haus­haltsentwicklung im Corona-Modus und die offene Frage, welche Koalition sich nach der Bundestagswahl 2021 bilden wird.

Mögliche Handlungsfelder und Reformvorschläge

Das Verteidigungsministerium

Die Struktur des Verteidigungsministe­riums muss der Organisation der Truppe gerecht werden. Um die Aufgabenwahrneh­mung im Ministerium zu verbessern, wären mehrere Bereiche zu überprüfen.

Der unter Verteidigungsminister Helmut Schmidt (1969–1972) eingerichtete soge­nannte Planungsstab war zu je einem Drit­tel mit Soldaten, zivilen Angehörigen der Bundeswehr und zivilen Fachexperten von außerhalb besetzt. Alle Leitungsvorlagen gingen auf dem Dienstweg über den Pla­nungsstab, um einen ganzheitlichen Ansatz für die Führung der Bundeswehr (und die politische Verträglichkeit für den Minister) sicherzustellen. Darüber hinaus hatte er auch Aufgaben der politischen Verbindung mit anderen Ressorts. In der modernen Managementlehre hätte man ihn als ein strategisches Unterstützungselement mit Controlling-Aufgaben bezeichnen können. Der Planungsstab wurde am 1. April 2012 abgeschafft. Es wäre jedoch dringend zu empfehlen, ein derartiges zentrales Orga­nisationselement wieder einzurichten, gegebenenfalls unter Rückgriff auf Teile der jetzigen Abteilung Politik.

Da der Generalinspekteur der Bundeswehr gemäß Dresdner Erlass von 2012 selbst der Leitung des Bundesverteidigungsminis­teriums angehört, bedürfte es für die Auf­gaben, die dem Generalinspekteur obliegen, eigentlich keines weiteren beamteten Staats­sekretärs zwischen ihm und der Ministerin bzw. dem Minister.

Der Generalinspekteur ist der militärische Berater der Bundesregierung und der truppendienstliche Vorgesetzte aller Sol­datinnen und Soldaten in den Teilstreitkräften und den militärischen Organisa­tionsbereichen. Er ist zuständig für Bundes­wehrplanung, Verteidigungs- und Militär­politik, einschließlich der Aufgaben für Nato und EU, Betrieb und Logistik sowie für den Einsatz der Streitkräfte. Die ihm zu unterstellenden Abteilungen des Minis­te­riums müssen ihm die Wahrnehmung dieser Aufgaben ermöglichen.

Zu prüfen wäre, ob dem Generalinspekteur eine Art »Chef des Stabes« zugeordnet wird, der mit einem leistungsfähigen Unter­bau die militärischen Abteilungen steuert, die Zusammenarbeit mit den zivilen Abtei­lungen koordiniert und die grundsätzlichen Weisungen / Befehle des Generalinspekteurs an dessen nachgeordneten militärischen Bereich innerhalb und außerhalb des Minis­teriums umsetzt.

Dem stellvertretenden Generalinspekteur könnten feste Aufgaben zugeordnet werden, wie Reservistenangelegenheiten und die Führung spezieller militärischer Einrich­tungen und Truppenteile, die dem Minis­terium direkt unterstehen könnten.

Die zivilen Abteilungen führt ein beamteter Staatssekretär. Ob aber weiterhin für alle zivilen Ämter auf der Ebene oberster Bundesbehörden jeweils eine eigene Minis­terialabteilung (Infrastruktur / Umwelt­schutz / Dienstleistungen, Personal, Recht) bestehen muss, wäre der Prüfung wert. Wie die Streitkräfte erscheint auch die zivile Wehrverwaltung heute stark zergliedert in autonome Säulen mit jeweils eigenen Strukturen, Verfahren und Erfolgsratio­nalitäten.

Dass eine Ministerialabteilung und das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) für die Nutzungsphase die volle Materialverantwortung übernommen haben, hat nicht zum Erfolg geführt, wie die prekäre materielle Einsatzbereitschaft immer wieder belegt. Mit der Übergabe des Materials an die Truppe sollte diese statt­dessen selbst eine durchgehende Verantwortung für Einsatzbereitschaft, Materialerhaltung und Versorgung mit Ersatzteilen bis zur Aussonderung des Materials über­nehmen. Mit der vorherrschenden Verant­wortungsdiffusion bricht die aktuelle Zu­ständigkeitsordnung mit dem existenziellen Grundsatz »Auftrag, Kräfte und Mittel in einer Hand«.

Die Struktur der Bundeswehr

In den Jahren der Umfangsreduzierungen hat sich die Zahl der Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche weiter vergrößert. Zu Heer, Luftwaffe und Marine sind eigen­ständig Streitkräftebasis, Sanitätsdienst und der Bereich Cyber- und Informationsraum hinzugetreten, alimentiert aus den jeweils zuvor schon bestehenden Strukturen. Diese Zer­gliederung erleichtert die Zusammen­arbeit der Truppe zwischen den unterschiedlichen Teilstreitkräften und Organisationsbereichen nicht. Erhöht hat sich mit der Zergliederung aber die Zahl der Kom­mandos und Stäbe.

Deshalb sollte geprüft werden, ob die Zahl der Organisationsbereiche verringert werden kann und verbleibende Strukturen sich flacher und schmaler gestalten lassen. Die Teilstreitkräfte und gegebenenfalls ver­bleibende Organisationsbereiche sollten jeweils über eine Kommandobehörde für ihren gesamten Verantwortungsbereich verfügen, und gegebenenfalls über ein Amt für unterstützende Aufgaben wie Ausbildung, Planung, Materialerhaltung, Weiter­entwicklung sowie sonstige Unterstützungs­aufgaben.

Die künftige Bundeswehrstruktur sollte die Personalstärke der Truppe (zulasten redundanter und »Ebenengerechtigkeits«-orientierter Stabsstrukturen) wieder erhö­hen und durchhaltefähige organische Ver­bände schaffen. Die für den anspruchsvollsten Hauptauftrag Bündnis- und Landes­verteidigung ausgebildeten Kräfte müssen zusätzlich in der Lage sein, weltweite Ein­sätze zur Krisenintervention wahrzuneh­men. Dieser Doppelauftrag verlangt die Voll­ausstattung mit Material, um eine jederzeit hohe Einsatzbereitschaft zu gewährleisten.

Im Falle der kollektiven Verteidigung unterstehen alle einzusetzenden deutschen Verbände von Heer, Luftwaffe und Marine den dafür eingerichteten Nato-Hauptquar­tieren. Dazu gehören die operativen Stäbe der Nato (Joint Force Commands), die Com­ponent Commands, für die Luftwaffe die in­tegrierten Combined Air Operations Centres der Nato-Kommandostruktur sowie für den Heeresbereich die der Nato assignierten Multinationalen Korpsstäbe der Nato-Streit­kräftestruktur. Das bedeutet, dass es einer nationalen Führungsorganisation für die kollektive Verteidigung nicht bedarf. Aus­nahmen bilden dabei gegebenenfalls natio­nale Stäbe für Host-Nation-Support-Auf­gaben (»Drehscheibe Deutschland«), zur Unterstützung alliierter Truppenbewegun­gen, sowie der Heimatschutz.

Wäre die Nato in einer existenziellen Krise handlungsunfähig, weil einzelne Mit­glieder ihre Veto-Position geltend machten, könnte an die Stelle der dann funktions­losen integrierten Nato-Stäbe die US-Kom­man­dostruktur in Europa treten, die in voller Parallelität zum Bündnis eingerichtet ist. Auf EU-Ebene gibt es nichts dergleichen in stehenden Strukturen.

Das nationale Einsatzführungskommando der Bundeswehr ist zuständig für die Ko­ordination und truppendienstliche Führung von Auslandseinsätzen sowie für die Füh­rung von Spezialkräfteeinsätzen im Aus­land. Zu untersuchen wäre, ob es im Fall der Bündnisverteidigung als deutscher An­sprechpartner für die alliierten operativen Hauptquartiere dienen kann.

Alle genannten Maßnahmen würden die Führungsstrukturen der Bundeswehr ins­gesamt flacher und schmaler machen.

Wo vor diesem Hintergrund zentrale Un­terstützungsaufgaben, subsidiäre Aufgaben im eigenen Land sowie territoriale Auf­gaben künftig abzubilden sind, ist gesondert zu untersuchen.

Mögliche Strukturreformen beim Heer – als ein Beispiel

  • Das Kommando Heer führt das Amt des Heeres, die Divisionen des Heeres und vergleichbare Truppenteile sowie die deutschen Anteile der Multinationalen Korps.

  • Das Amt des Heeres arbeitet dem Kom­mando Heer zu in Fragen der Planung und Weiterentwicklung, Materialerhaltung und Logistik, Ausbildung sowie Unterstützung der Truppenteile von der Divisionsebene an abwärts.

  • Divisionen oder vergleichbare Stäbe füh­ren die ihnen unterstellten Großverbände und Truppenteile einschließlich der lo­gistischen Unterstützung, der Fernmeldetruppe und sanitätsdienstlicher Einsatz­elemente, um deren Einsatzbereitschaft in jeder Hinsicht sicherzustellen.

  • Brigaden führen die ihnen unterstellten Regimenter, Bataillone und Kompanien einschließlich der Unterstützungstruppenteile, um die Einsatzbereitschaft der Brigade zu gewährleisten.

  • Regimenter und Bataillone führen die ihnen unterstellten Kompanien einschließlich der Unterstützungseinheiten/
    ‑elemente. Auf dieser Ebene kommen für Kommandeure und Chefs Kompetenzen und Mittel in den Bereichen Personal, Ver­sorgung und Materialerhaltung hinzu.

  • Der Grundsatz, Verantwortung, Kräfte und Mittel in eine Hand zu geben, ist oberstes Gebot. Er darf auch angesichts der heutigen Komplexität von Streitkräften nicht durchbrochen werden. Um das zu vermeiden, müssen die entsprechenden Fachleute, auch von Seiten der zivi­len Wehrverwaltung, zur Beratung der Befehlshaber und Kommandeure organisch Teil der Truppenstrukturen sein.

Materialverantwortung

Hohe Einsatzbereitschaft von Streitkräften verlangt bis zu einem gewissen Grad Eigen­ständigkeit bei Instandsetzung und Ersatz­teilversorgung. Die ist nur zu erreichen, wenn die erforderlichen Kräfte und Mittel dem jeweiligen Befehlshaber oder Kommandeur zur Verfügung stehen. Das bedeu­tet, dass etwa Instandsetzungskapazitäten, Ersatzteile usw. dem verantwortlich Füh­renden in Grundbetrieb, Übung und Ein­satz mitgegeben werden müssen.

Während man in der »Basis Deutschland« oder bei langfristig vorbereiteten Auslandseinsätzen einen Teil dieser Aufgaben zivi­len Unternehmen oder ortsfesten militäri­schen Instandsetzungseinrichtungen und Depots überantworten kann, erfordert die schnelle Verlegefähigkeit der Truppenteile im Rahmen der kollektiven Verteidigung eigene verlegbare Unterstützungskräfte. Diese Kräfte sollten dem jeweils verantwortlichen Befehlshaber oder Kommandeur auch im Einsatz vor Ort zur Verfügung stehen. Mit ihnen ließen sich bestimmte Instand­setzungsarbeiten im Einsatzgebiet durch­führen, sodass das Material dort verbleiben könnte. Dies bedingt, dass Divi­sionen, Brigaden und Kampfverbände orga­nisch über Nachschub-, Transport- und In­standsetzungseinheiten bzw. ‑teileinheiten verfügen müssen, die ihnen strukturell eine gewisse Unabhängigkeit sichern.

Wenn aber die Einsatzbereitschaft von Waffensystemen und Großgerät in der Ver­antwortung der jeweiligen Kommandeure liegt, dann kann die gesamte Material­verantwortung während der Nutzung nicht bei einem völlig anderen Organisations­bereich liegen. Durch das Nadelöhr BAAINBw sind Instandsetzung und Ersatzteilversor­gung auf dem Gefechtsfeld nicht zu ge­währleisten. Für Grundbetrieb und Übun­gen zeichnet sich heute die gleiche Proble­matik ab. Die Gesamtverantwortung für das Material und seine Einsatzbereitschaft gehört in die Hand dessen, der für die Ein­satzbereitschaft seiner Teilstreitkraft ins­gesamt die Verantwortung trägt: in die Hand der Inspekteure. Darunter sind Kom­mandeure aller Ebenen bis zum Kompaniechef durch die Ausstattung mit entsprechen­den Kräften und Mitteln – möglicherweise bis hin zur Zivilvergabe – zu befähigen, diese Verantwortung wahrzunehmen.

Empfehlungen zu den Prinzipien einer notwendigen Reform

Zu überprüfen ist, ob das Bundesverteidigungsministerium von operativen Auf­gaben entlastet werden kann.

Eine künftige Struktur muss die Personalstärke der Truppe wieder erhöhen (zu­lasten von Stabsstrukturen) und durchhalte­fähige, ausbildungsfähige Truppenteile mit vollständiger Ausrüstung (Vollausstattung) und mit Personal schaffen, das für den Gesamtauftrag ausgebildet ist.

Jeweils ebenengerecht gilt es die Wahr­nehmung der Verantwortung in einer Hand und die Unteilbarkeit der Verantwortung wieder sicherzustellen. Das heißt: Dezentralisierung der Verantwortung wo immer möglich, Zentralisierung nur noch dort, wo unabweisbar notwendig.

Das seit etwa zwanzig Jahren geltende Paradigma, Streitkräfte prozessorientiert und betriebswirtschaftlich effizient führen zu sollen, ist kritisch zu überprüfen. Den Kriterien einer hohen Einsatzbereitschaft kann ein betriebswirtschaftlicher Ansatz nicht genügen (Bevorratung statt »just in time«).

Um die Wahrnehmung von Verantwortung in einer Hand überhaupt zu ermög­lichen, muss die Materialverantwortung in der Nutzungsphase, das heißt nach In­dienst­stellung des Gerätes, an die Inspekteure zurückgegeben werden.

Zu prüfen wäre, ob und wie die zentrale Führungsrolle des Generalinspekteurs auch im nachgeordneten Bereich unter Straffung der Führungsstrukturen vereinheitlicht werden kann. Dabei geht es auch darum, zu überprüfen, ob sich die Zahl der mili­tärischen Organisationsbereiche verringern lässt und verbleibende Strukturen flacher und schmaler werden können.

Deutschland nimmt in Europa für viele kleinere Partnernationen die Rolle einer »Anlehnungsmacht« ein. Deshalb müssen die deutschen Streitkräftestrukturen weiter­hin offen sein für ein »Andocken« anderer europäischer Streitkräfte, und dies schon in Friedenszeiten.

Anstöße und Empfehlungen dieses SWP-Aktuells sind zunächst unabhängig von der finanziellen Ausstattung der Bundeswehr zu sehen. Allein aus der veränderten Auf­gabenstellung (Doppelaufgabe kollektive Verteidigung in Europa und internationales Krisenmanagement weltweit) ergibt sich der Bedarf an notwendigen Reformen. Aller­dings können auch mögliche Synergieeffekte aus der Strukturverbesserung eine bedarfs­gerechte, planbar steigende Haushaltslinie nicht ersetzen: Die volle materielle Einsatz­bereitschaft erfordert unbestritten sowohl die Vollausstattung der Truppe als auch zusätzliche, moderne Ausrüstung.

Nach der Bundestagswahl 2021 wird keine erneute Evaluierung der bekannten Bundeswehr-Strukturprobleme nötig sein. Viele Mängelanalysen und Reformvorschläge liegen auf dem Tisch. Es braucht keine neue Kommission, keine Organisationsberatung von außen, sondern einen gemeinsamen Plan von militärischer Führung und poli­tischer Leitung, politischen Willen – und Entscheidungen.

Dr. Hans-Peter Bartels, ehemaliger Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages,
ist Gast in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Generalleutnant a. D. Rainer L. Glatz ist ehemaliger Senior Distinguished Fellow der
Stiftung Wissenschaft und Politik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364