Direkt zum Seiteninhalt springen

Wahlen in Griechenland unter veränderten Rahmenbedingungen

Eine schwierige Regierungsbildung steht bevor – oder gar eine baldige Neuwahl

SWP-Aktuell 2023/A 33, 17.05.2023, 6 Seiten

doi:10.18449/2023A33

Forschungsgebiete

Die griechischen Parlamentswahlen am 21. Mai 2023 werden in mehrerlei Hinsicht einschneidend sein. Zum ersten Mal stimmen die Bürgerinnen und Bürger des Lan­des nach dem Verhältniswahlrecht für politische Parteien ab. Da Griechenland kaum Koalitionen kennt, ist mit einer schwierigen Regierungsbildung zu rechnen. Eine weitere Premiere ist, dass Griechen, die im Ausland leben, in ihrem Wohnsitzland wählen können. Und schließlich sind es die ersten Parlamentswahlen nach dem Ende der internationalen Aufsicht, dem das Land im Zuge seiner Staatsschuldenkrise mehr als ein Jahrzehnt lang unterstand. Für die griechische EU-Politik wird vor allem von Bedeu­tung sein, inwiefern sich neue Dialogformate im bilateralen Verhältnis zur Türkei ergeben – dem Nachbarland, das nur eine Woche zuvor gewählt hat.

Nachdem in Griechenland das Verhältniswahlrecht das bisherige Mehrheitswahlrecht abgelöst hat, ist zu erwarten, dass eine Koalition aus mehreren Parteien zur Regierungsbildung benötigt wird. Laut Um­fragen dürfte keine Partei mehr als 33 Pro­zent der Stimmen erhalten. Die Suche nach potentiellen Partnern wird folglich eine entscheidende Rolle spielen.

Zur Wahl des 300 Mitglieder zählenden Parlaments sind insgesamt mehr als 30 Par­teien zugelassen. Zwischen fünf und acht von ihnen haben realistische Chancen, die Drei-Prozent-Hürde zu überspringen. Der amtierende Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis führt seit 2019 eine Einparteienregierung seiner konservativen Nea Dimo­kratia (Neue Demokratie, ND) an. Er löste damals Alexis Tsipras von der Partei Syriza ab, dem »Bündnis der radikalen Linken«. Der momentan drittstärksten Kraft, PASOK-KINAL, einer Mitte-links-Partei, könnte eine strategische Rolle bei der Regierungs­bildung zukommen.

Es gibt allerdings keine Gewissheit, dass eine Koalitionsregierung das bevorzugte Ergebnis der beteiligten Akteure ist. In der Tradition griechischer Parteipolitik finden sich nur wenige Beispiele von Regierungsbündnissen. Dies hat zu einem hohen Grad an Polarisierung zwischen den konkurrierenden Lagern geführt. Griechenlands poli­tische Landschaft ist davon geprägt, dass die Parteien wegen des Wahlrechts selten gezwungen waren, sich nach Partnern um­zuschauen. Regelmäßig wechselnde Ein­parteienregierungen entbanden von der Notwendigkeit, die eigene Koalitionsfähig­keit unter Beweis zu stellen. Durch das bisher bestehende Mehrheitswahlrecht mit Bonussitzen für die stärkste Partei wurde dieser Zustand politisch begünstigt, wenn nicht bewusst gefördert. Die Wahl am 21. Mai findet allerdings unter veränderten Vorzeichen statt – wegen der erfolgten Wahlrechtsänderung wie auch angesichts der politischen Ausgangssituation.

Wahlrechtsänderungen und Regierungsbildung

Seit 1974 die Militärdiktatur in Griechenland endete, wurde das Wahlrecht immer wieder geändert. Jahrzehntelang hatte es in seinen unterschiedlichen Ausprägungen das primäre Ziel, stabile Regierungen her­vorzubringen. Nach jedem Urnengang erhielt die stärkste Partei einen Bonus von 50 Parlamentssitzen. Dieser Zusatz führte in der Regel dazu, dass aus einer relativen Mehrheit an Stimmen eine absolute Man­datsmehrheit wurde. Die Kombination aus Mehrheitswahlrecht und Extrasitzen garan­tierte quasi stabile Regierungsmehrheiten in Athen, verhinderte aber zugleich, dass in der parlamentarischen Praxis eine Koali­tionskultur entstand. Griechenland ist neben Ungarn der einzige EU-Staat, in dem stabile Mehrheitsverhältnisse im Parlament durch Einparteienregierungen abgesichert werden.

Die Syriza-Partei, die Griechenland zwischen 2015 und 2019 unter Minister­präsident Tsipras regierte, stellte das Wahl­system auf ein reines Verhältniswahlrecht um. Wie die griechische Verfassung vor­gibt, dürfen erfolgte Wahlrechtsänderungen allerdings erst bei der jeweils übernäch­sten Wahl greifen. Damit soll ver­hindert werden, dass sich eine Partei durch ent­sprechende Eingriffe unmittelbare Vorteile für eine anstehende Abstimmung ver­schafft.

Die Wahl am 21. Mai ist also mit zahlreichen Unwägbarkeiten und institutionellen Neuerungen verbunden. Dass die Parteien mögliche Koalitionen in Erwägung ziehen müssen, ist vor allem bei den verschiedenen Kräften der Linken erkennbar, deren Ziel es ist, die Regierung Mitsotakis ab­zulösen. Syriza setzt auf ein politisches Come­back. Ein Bündnis mit der konserva­tiven ND – die griechische Version einer großen Koalition – hat Parteichef Tsipras aber kategorisch ausgeschlossen. Statt­dessen hofft er, dank des neuen Wahlrechts eine Mitte-links-Koalition aus zwei Parteien bilden zu können. Eine solche »progressive Allianz« (Tsipras) wäre durch ein Bündnis zwischen Syriza und PASOK-KINAL zu errei­chen. Letztere hat mit Nikos Androulakis einen neuen Vorsitzenden, der bisher Ab­geordneter im Europäischen Parlament war. Damit die Partei als Königsmacher fungieren kann, wird sie allerdings besser abschneiden müssen, als es Umfragen bisher nahelegen.

Während Syriza ihre Koalitionsoptionen abwägt, hat die regierende Neue Demokratie keinen natürlichen Bündnispartner. Die Bereitschaft von PASOK-Chef Androulakis, mit der ND zusammenzugehen, hat durch den Telefon-Hacking-Skandal stark gelitten. Wie 2022 bekannt wurde, waren Journalisten, Geschäftsleute und Politiker, darunter auch Androulakis, von staatlicher Seite abgehört worden. Premier Mitsotakis hat jegliche Kenntnis der Vorgänge bestritten. Allerdings war die politische Zuständigkeit für den griechischen Geheimdienst nach den Wahlen 2019 dem Büro des Ministerpräsidenten zugewiesen worden.

Sollten die drei stärksten Parteien innerhalb von zwei Wochen nach der jetzigen Wahl keine ernsthaften Anstrengungen unternehmen, eine Koalitionsregierung zu bilden, würde das gewählte Parlament auf­gelöst und eine Neuwahl angesetzt. Der zweite Urnengang, der innerhalb von sechs Wochen anstünde, hätte allerdings eine Besonderheit – er würde wieder nach dem Mehrheitswahlrecht erfolgen.

Letzteres ist die Folge einer Wahlrechtsänderung, welche die ND-Regierung ihrer­seits 2020 umgesetzt hat. Sie wandte sich stets gegen die Einführung des Verhältniswahlrechts und hob dabei die politischen Risiken hervor, die entstehen, wenn keine absolute Mandatsmehrheit für eine Partei zustande kommt. Unter den veränderten Vorgaben würde die stärkste Partei nach der Neuwahl wieder einen Sitzbonus erhal­ten, allerdings in gestaffelter Form, abhän­gig von den erzielten Prozentsätzen der einzelnen Parteien. Politisches Kalkül der ND ist daher, dass eine zweite Wahl mit Mehrheitswahlrecht und Zusatzmandaten die Chancen auf eine traditionelle Ein­parteienregierung erhöht. Dies wäre für Ministerpräsident Mitsotakis das bevor­zugte Szenario.

Dominierende Wahlkampfthemen

Es trägt zur Irritation vieler Bürgerinnen und Bürger bei, dass über eine zweite Wahl diskutiert wird, bevor die erste überhaupt stattgefunden hat. Zudem sorgt für Ver­wirrung, dass die beiden Urnengänge nach unterschiedlichem Wahlrecht erfolgen würden. Inhaltlich wird der Wahlkampf von zwei Themen beherrscht: der Wirtschaftslage und der politischen Verantwortung für das schwere Zugunglück, das sich Ende Februar beim zentralgriechischen Tempi ereignete. Im Umgang mit beidem spiegelt sich die Polarisierung der politischen Lager. Die Regierung betont, dass Griechenland seine ökonomische Stabilität zurückgewonnen hat, was einhergeht mit sinkender Arbeitslosigkeit und der Rück­kehr internationaler Investoren. Dagegen verweisen Oppositionsparteien auf die Bahnkatastrophe, um zu unterstreichen, auf welch dünnem Eis diese Erfolgs­geschichte steht.

Die Umfragen der letzten zwei Monate zeigen, dass die Regierungspartei an poli­tischem Momentum verliert. Enttäuschung und Frustration bei Teilen der Wähler­schaft wurden insbesondere nach dem Zug­unglück deutlich, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen, die meisten von ihnen Studenten, die zum Studium nach Nord­griechenland zurückkehrten. Der Unfall offenbarte eine ganze Reihe an Missständen – die jahrzehntelange Vernachlässigung der Bahninfrastruktur, mangelnde Inves­ti­tionen in die Sicherheitslogistik der Züge ebenso wie die Veruntreuung von Finanzmitteln. Dass die Regierung zunächst ver­suchte, die Tragödie dem menschlichen Versagen eines Bahnhofsvorstehers an­zulasten, schürte den Zorn in der Bevölkerung noch mehr. Es folgten wochenlange Massendemonstrationen in ganz Griechenland.

Inwiefern sich die Unzufriedenheit mit der Regierung Mitsotakis im Wahlverhalten niederschlagen wird, ist eine der großen Unbekannten vor dem 21. Mai. Absehen lässt sich, dass Bürger der Abstimmung in verstärktem Maße fernbleiben werden. Bereits an der letzten Parlamentswahl im Juli 2019 beteiligten sich lediglich 58 Pro­zent der Stimmberechtigten. Seit mehr als einem Jahrzehnt zeigt sich in Griechenland ein Abwärtstrend bei der Wahlbeteiligung.

Chancen und Herausforderungen für die griechische Wirtschaft

Die griechische Wirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren schrittweise stabilisiert. Im August 2018 endeten für das Land nach fast einer Dekade die drei makro-ökonomischen Anpassungsprogramme der internationalen Kreditgeber (Internatio­naler Währungsfonds, Europäische Zentral­bank und Europäischer Stabilitätsmechanis­mus). 2022 verließ Griechenland den »ver­stärkten Überwachungsrahmen« der EU. Ausländische Investoren kaufen heute wie­der ohne Zögern griechische Staatsanlei­hen. Solche mit zehnjähriger Laufzeit sind regelmäßig überzeichnet und haben kaum einen Risikoaufschlag, etwa gegenüber deutschen Titeln. Das lang ersehnte Invest­ment-Grade-Rating für griechische Anlei­hen ist wieder in Reichweite. Es ist ein Ver­dienst der Regierung Mitsotakis, die fiska­lische Nachhaltigkeit des griechischen Staa­tes wiederhergestellt zu haben, wenngleich sein Vorgänger Tsipras ebenfalls Anteil an dieser Erfolgsgeschichte hat.

Die Erholung des Arbeitsmarktes ge­winnt weiter an Schwung. Die Arbeits­losenquote des Landes erreichte im März 2023 ein Zwölf-Jahres-Tief von 10,9 Prozent. Ein solcher Wert wurde zuletzt vor Aus­bruch der Schuldenkrise vor mehr als einem Jahrzehnt verzeichnet. Im Juli 2013 befand sich Griechenlands Arbeitslosigkeit mit 28 Prozent auf ihrem Höchststand.

Die makro-ökonomischen Errungenschaften werden jedoch in Teilen der grie­chischen Gesellschaft nicht als solche wahr­genommen. Die Arbeitslosigkeit von Frauen bleibt mit 14,5 Prozent (März 2023) über­durchschnittlich hoch. Die Jugendarbeits­losigkeit liegt sogar bei 24,2 Prozent (April 2023) – nach Spanien der zweithöchste Wert in der EU. Am 21. Mai werden mehr als 420.000 Jungwählerinnen und Jung­wähler erstmals ihre Stimme abgeben können. Ihr Anteil an der Gesamtwählerschaft liegt bei etwa 5 Prozent. Diese Gene­ration der Erstwähler ist während der grie­chischen Schuldenkrise und der Corona-Pandemie aufgewachsen. Sie kann sich nun zum ersten Mal wahlpolitisch äußern. Wer von den zwei größten Parteien – Nea Dimokratia und Syriza – diese Zielgruppe mehrheitlich erreicht, hat gute Chancen auf den Wahlsieg.

Gestiegene Mieten, hohe Energie- wie Nahrungsmittelpreise und zuletzt die Zins­wende verstärken bei vielen Privatpersonen und Unternehmen den Eindruck, dass wirt­schaftliche Verbesserungen zu selten oder nur verspätet bei ihnen ankommen. Da­ge­gen haben ausländische Investoren andere Sorgen in Griechenland. Sie sind in großer Zahl aus unterschiedlichen Ländern zurück­gekehrt und loben das Investitionsklima. Die Sektoren Tourismus, Hotellerie und Solarenergie stehen dabei im Vordergrund. Aber weiterhin werden Altlasten beklagt. Ein Beispiel ist, dass Bürger, Geschäftsleute und ausländische Investoren oftmals lange warten müssen, bis ihnen die griechische Justiz verbindliche Rechtsentscheidungen zukommen lässt.

Wirtschaftsentwicklung 2022 und 2023

Nach Eurostat-Daten von diesem März erzielte Griechenland im vierten Quartal 2022 die zweithöchste Wachstumsrate der Eurozone. Verglichen mit dem gleichen Zeitraum im Jahr 2021 wuchs das griechi­sche Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen Oktober und Dezember 2022 um 5,2 Pro­zent, womit die Rate an zweiter Stelle hinter der irischen von 13,1 Prozent lag. Für das Gesamtjahr 2022 wird laut Euro­päischer Kommission ein Wachstum der griechischen Wirtschaft von 5,5 Prozent erwartet. Dabei basiert das BIP des Landes jedoch nach wie vor stark auf dem Ver­brauch der privaten Haushalte und dem Dienstleistungssektor, insbesondere dem Tourismus.

Innerhalb der Eurozone hat Griechenland auch weiterhin die höchste Staats­verschuldung im Verhältnis zum BIP. Am Ende des vierten Quartals 2022 lag die Quote des Landes laut Europäischer Kom­mission bei 171,3 Prozent. Die Schätzungen für das BIP-Wachstum im Jahr 2023 reichen von 2,2 Prozent (Aufwärtsrevision der Bank von Griechenland) bis 2,6 Prozent (IWF-Früh­jahrsausblick 2023). Positive Impulse werden von einer Reihe an Faktoren erwar­tet. Der private Verbrauch ist weiterhin treibendes Element der griechischen Wirt­schaftsleistung. Zudem dürfte auch 2023 ein vielversprechendes Jahr für die Touris­musbranche werden. Die griechischen Banken wiederum haben nach zahlreichen Verzögerungen ihre Bilanzen restrukturiert und dabei die notleidenden Kredite deut­lich verringert.

Der nachhaltigste Impuls für die grie­chische Wirtschaft und für begleitende Reform­initiativen kommt allerdings von der EU. Griechenland ist einer der größten Nutznießer der Darlehen und Zuschüsse, die über das Europäische Konjunktur­programm (Next Generation EU) zur Verfü­gung gestellt werden. Das Aufbauinstrument mit einem noch nie dagewesenen Finanzierungsvolumen wird der nächsten Regierung in Athen reichlich Mittel an die Hand geben, um die Programme und Pro­jekte verwirklichen zu können, die der Europäischen Kommission im Rahmen von Griechenlands Aufbau- und Resilienzplan vorgelegt wurden. Dieser umfasst 106 In­vestitionsmaßnahmen und 68 Reformziele. Sie werden mit 17,8 Milliarden Euro an Zuschüssen und 12,7 Milliarden Euro an Darlehen unterstützt. 37,5 Prozent der im Plan veranschlagten Mittel sollen Klimaschutzzielen zugutekommen, 23,3 Prozent in die Förderung des digitalen Wandels fließen.

Herausforderungen für Athen und Ankara

Das Risiko ist groß, dass nach der Wahl am 21. Mai die Regierungsbildung in Griechenland scheitern wird. Dafür sorgen könnten die programmatische Kluft zwischen der regierenden konservativen ND und den ver­schiedenen Mitte-links-Oppositionsparteien, ebenso das wahltaktische Verhalten auf beiden Seiten. Das wahrscheinlichste Sze­nario, auf das sich die Akteure in Athen, Brüssel und Berlin einzustellen haben, besteht darin, dass Anfang Juli Neuwahlen nötig sein werden.

Sollte jedoch über Monate hinweg un­sicher bleiben, wer das Land künftig regiert, werden sich wichtige politische Fragen nicht im Ansatz klären lassen. Dazu gehö­ren etwa Sachthemen im bilateralen Ver­hältnis zwischen den Nato-Partnern Grie­chenland und Türkei. Eine Woche vor dem griechischen Urnengang fanden Par­laments- und Präsidentschaftswahlen im Nachbarland statt. Das zeitliche Zusammentreffen der Abstimmungen ist zwar Zufall. Gleichwohl könnten die politischen Landkarten in beiden Ländern neu gezeich­net werden – mit der Aussicht, dass die bilateralen Beziehungen wieder an Schwung gewinnen.

Solche optimistischen Erwartungen scheinen vor der Stichwahl in der Türkei am 28. Mai jedoch eher unangebracht. Realistisches Szenario ist, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Amt bestätigt wird. Die Konfliktthemen im bilateralen Ver­hältnis – Migrationsströme in der Ägäis, maritime Seegrenzen, die Rechte auf Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer, nicht zuletzt Zypern – bieten ausreichend Hürden für Dialogformate zwischen Ankara und Athen, allerdings auch Chancen, sofern handlungsfähige Regierungsakteure invol­viert sind.

Zuletzt gab es zwischen den beiden Län­dern eine politische Annäherung; doch ist Skepsis geboten, was deren Nachhaltigkeit betrifft. Zwar ist ermutigend, dass es nach dem Erdbeben in der Türkei und der Zug­katastrophe in Griechenland wechselseitig zu Bekundungen von Solidarität und huma­nitärer Unterstützung kam. Unabhängig vom jeweiligen Wahlausgang bleibt indes ungewiss, ob genügend politische Substanz vorhanden ist, damit solche Tendenzen mittelfristig tragen. Angesichts der Span­nungen, die sich in den letzten drei Jahren angestaut haben, ist eher davon auszu­gehen, dass es im bilateralen Verhältnis zunächst vor allem um Krisenmanagement geht. Der Wahlkampf in beiden Ländern hat jedenfalls kaum Hinweise auf eine rhe­torische Deeskalation der Akteure geliefert.

Die außenpolitischen Differenzen zwi­schen Ankara und Athen stehen dabei in einem auffallenden Kontrast zum Zustand der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Letztere sind von den politischen Dissonanzen kaum betroffen. Die Außenwirtschaftspolitik beider Länder ist mit Blick auf wech­selseitigen Tourismus, bilateralen Handel sowie Investitionen im jeweiligen Nachbar­land stabiler und berechenbarer als das diplomatische Verhältnis.

Ausblick

Die vergangenen Wahlrechtsänderungen in Griechenland dürften den Effekt haben, dass nach dem 21. Mai eine Regierungs­bildung zunächst ausbleiben wird. Die Rah­menbedingungen und eine polarisierte Parteienlandschaft verstärken traditionelle Konfliktlinien, weshalb es aller Voraussicht nach Anfang Juli eine Neuwahl geben wird.

Überschattet wird der bevorstehende Urnengang von der Verwicklung der Regie­rung Mitsotakis in den Abhörskandal und ihrem fahrlässigen Krisenmanagement nach dem Zugunglück bei Tempi. Beide Themen werden das Stimmverhalten der Bürgerinnen und Bürger beeinflussen, wenn sie darüber entscheiden, ob der Minis­terpräsident eine zweite Amtszeit erhalten soll. Zwar hat sich die griechische Wirtschaft in den letzten vier Jahren stabi­lisiert, doch aus Sicht vieler Menschen wiegt schwerer, dass die Rechtsstaatlichkeit im Land angezweifelt wird und die Moder­nisierung der Transportinfrastruktur aus­geblieben ist. Syriza, die wichtigste Opposi­tionspartei, setzt auf eine diffuse Unzufriedenheit in der Gesellschaft, die große Zahl von Erstwählern und die Stimmen der im Ausland lebenden Griechen, die erstmals in ihrem Wohnsitzland wählen können. Ausländische Investoren, die sich in den letzten Jahren wieder Griechenland zu­gewandt hatten, müssen sich auf mehrere Monate politischer Unsicherheit einstellen.

Zwischen Griechenland und der Türkei bestehen Chancen, das bilaterale Verhältnis zu verbessern, doch wird es Zeit und Sub­stanz erfordern, eine solche Entwicklung herbeizuführen. Entscheidend dazu bei­tragen können entsprechende Signale aus Brüssel und Berlin. Die EU-Kommission wird den Ausgang der Wahlen in Griechenland und der Türkei danach beurteilen, ob er politische Optionen für eine substantielle Annäherung zwischen Athen und Ankara schafft. Beide Nato-Mitglieder sind von geo­politischen Veränderungen betroffen, die sich seit Russlands Angriff auf die Ukraine beschleunigt haben. Allerdings folgen sie dabei unterschiedlichen Präferenzen. Die Regierung Mitsotakis hat während dieser Legislaturperiode die militärische Kooperation mit den USA und in Europa vor allem mit Frankreich substantiell verstärkt. An­kara dagegen hat die verschiedenen Sank­tions­pakete »des Westens« gegen Russland abgelehnt und seine energiepolitische Koope­ration mit Moskau über Erdgas- und Rohölimporte hinaus auf Nukleartechno­logie ausgeweitet.

Die Bundesregierung wiederum hat an­geboten, Dialogformate zwischen Ankara und Athen zu ermöglichen – voraus­gesetzt, beide Seiten wünschen eine solche Hilfestellung aus Berlin. Zugleich hat die Bundesregierung wiederholt darauf hin­gewiesen, dass es inakzeptabel sei, wenn die Souveränität griechischer Inseln durch den Nato-Partner Türkei in Frage gestellt werde.

Aus Sicht der Nato wird es vornehmlich darauf ankommen, ob sich Griechenland weiterhin als sicherheitspolitischer Stabi­litäts­anker im östlichen Mittelmeer be­währt. Für das Bündnis ist entscheidend, mit europäischen Partnern in der Ägäis darauf hinzuwirken, dass die Eskalations­gefahren im dortigen Spannungsfeld ver­ringert werden. Ebenso dürfte die Nato darauf achten, ob Griechenland im Falle eines Regierungswechsels an der militä­rischen Unterstützung für die Ukraine festhalten wird. Die Regierung Mitsotakis hat an diesem Kurs keinen Zweifel gelassen. Wie sich eine »progressive Allianz« unter­schiedlicher Linksparteien dazu positionieren würde, bleibt vorerst eine offene Frage.

Dr. Jens Bastian ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS).

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018