Am 11. Januar fanden in Taiwan Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Die Insel ist de facto ein souveräner Staat und eine konsolidierte Demokratie, wird jedoch von der Volksrepublik China beansprucht. Die seit 2016 regierende Präsidentin Taiwans, Tsai Ing‑wen, und ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) haben beide Wahlen mit deutlicher Mehrheit gewonnen. Die DPP betont Taiwans De‑facto-Unabhängigkeit. Die größte Oppositionspartei Kuomintang (KMT) steht für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem chinesischen Festland. Der Wahlkampf war geprägt vom zunehmenden Druck Pekings auf die Insel und von den Protesten in Hongkong. Hongkong dient den Taiwanern als Warnung davor, was passieren könnte, wenn Taiwan sich zu eng ans Festland anlehnt oder sich gar mit ihm vereinigt: Der Inselstaat könnte seine Demokratie und Freiheit verlieren.
Bei den Präsidentschaftswahlen im Januar hat Tsai Ing‑wen 57,1 Prozent der Stimmen erhalten, Han Kuo‑yu von der KMT 38,6 Prozent und der dritte Kandidat James Soong von der »People First Party« 4,3 Prozent. Im Parlament hat die DPP zwar 7 Sitze verloren, behält aber mit 61 Abgeordneten eine komfortable Mehrheit der insgesamt 113 Sitze. Die KMT hat 38 Mandate gewonnen, kleinere Parteien und unabhängige Kandidaten die verbliebenen 14.
Der klare Wahlsieg für Tsai Ing‑wen lässt sich zum einen damit erklären, dass die KMT mit Han Kuo‑yu einen schwachen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen geschickt hat. Zum anderen traut(e) die Wählerschaft der amtierenden Präsidentin eher als der KMT zu, die Demokratie und Freiheit Taiwans gegenüber der Volksrepublik zu schützen.
Bei den Parlamentswahlen ist die Stimmendifferenz zwischen der DPP und der KMT mit 6,4 Prozentpunkten weniger deutlich ausgefallen. Die Sitze werden in einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht vergeben. Die Gründe für die geringere Differenz der Stimmen liegen erstens darin, dass auch einige KMT-Anhänger nicht für den unpopulären Han gestimmt haben, bei den Parlamentswahlen hingegen für ihre Partei; zweitens darin, dass die meisten kleinen Parteien keine eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt haben, da es keine Stichwahl gibt. Dies begünstigt eine Konzentration der Stimmen auf nur wenige Bewerber. Bei den Parlamentswahlen hat ein Teil der Wählerschaft sich dann aber für kleinere Parteien und unabhängige Kandidaten entschieden.
KMT: Starker Start, schwaches Ende
Han Kuo‑yu erlebte in den letzten eineinhalb Jahren einen rasanten Aufstieg als Politiker. Im November 2018 ist er zum Bürgermeister von Kaohsiung gewählt worden, der größten Stadt in Südtaiwan, traditionell eine Hochburg der Regierungspartei DPP. Seine unkonventionelle und volksnahe Art, sein Image als politischer Außenseiter und sein Versprechen, Kaohsiung reich zu machen, brachten viele Menschen dazu, für ihn zu stimmen. Fast genauso rasch wie sein kometenhafter Aufstieg war sein Fall – verglüht im Kontakt mit der politischen und wirtschaftlichen Realität. Han Kuo‑yu ist ein klassischer Populist, der viel versprochen hatte, seine Versprechen für Kaohsiung jedoch letztlich nicht einhalten konnte, sich stattdessen eher durch ein chaotisches Management der Stadt »auszeichnete«. Hinzu kamen private Skandale, die sein Image als »Mann des Volkes« beschädigten, zum Beispiel um ein Luxusapartment. Kurz nachdem er die parteiinternen Vorwahlen der KMT im Juli 2019 gewonnen hatte, begann sein Abstieg in den Umfragen.
Interne Konflikte innerhalb der KMT und des sogenannten »blauen Lagers« aus KMT und kleineren, ihr nahestehenden Parteien haben zu seinem schlechten Wahlergebnis beigetragen. Einer der Veteranen der taiwanischen Politik, der 77‑jährige James Soong, kandidierte zum vierten Mal für das Amt des Präsidenten und wurde dabei von Terry Gou unterstützt, dem Gründer des Apple-Zulieferers Foxconn und einem der reichsten Männer der Insel. Soong steht ebenfalls für eine stärkere Annäherung an Festlandchina und gehört zum »blauen Lager«. Gou selbst war in den KMT-Vorwahlumfragen Han Kuo‑yu unterlegen und danach aus der KMT ausgetreten. Er und Soong sprachen Han die Kompetenz ab, Taiwan regieren zu können. Auch Teile der Elite der KMT konnten mit dem volksnahen Han nur wenig anfangen.
Mobilisierung für die DPP und eine neue »dritte Kraft«
Im Gegensatz dazu hat sich das sogenannte »grüne Lager« um Präsidentin Tsai geeint gezeigt. Bei den parteiinternen Vorwahlen der DPP musste sie zwar mit ihrem ehemaligen Premierminister William Lai konkurrieren, konnte sich aber als Kandidatin durchsetzen. Nach seiner Niederlage rief Lai dazu auf, die Präsidentin zu unterstützen, und wurde von ihr als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten nominiert. Außerdem konnte das »grüne Lager« seine Wählerschaft mobilisieren, darunter die junge Generation. Die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen lag mit 74,9 Prozent deutlich höher als vor vier Jahren mit 66,3 Prozent.
Mit der »Taiwan People’s Party« hat schließlich eine dritte, »weiße« Kraft neben der »blauen« und »grünen« die politische Bühne betreten. Die vom Bürgermeister von Taipeh, Ko Wen‑je, gegründete Partei möchte unideologisch, pragmatisch und effizient regieren und sieht sich als Kraft zwischen dem »blauen« und dem »grünen« Lager. Die Partei wird nur 5 Sitze im neu gewählten Parlament haben; allerdings hat sie in den 19 Wahlkreisen, in denen sie angetreten ist, fast überall mehr als 5 Prozent der Stimmen erreicht, in einem Drittel sogar über 10 Prozent. Es wird allgemein vermutet, dass Ko sich 2024 als Präsident zur Wahl stellen möchte. Seine fehlende Ideologie und seine bewusst offenen politischen Positionen, etwa zum Verhältnis zu Festlandchina, sind zugleich seine Stärke und seine Schwäche.
Heute Hongkong, morgen Taiwan?
Neben der »Kandidatenfrage« ist der zweite Hauptgrund für Tsais Wahlsieg der Umstand, dass Taiwans Verhältnis zu Festlandchina andere Themen bei der Wahl überschattete.
Am 2. Januar 2019 hatte Präsident Xi Jinping in einer Grundsatzrede zu Taiwan bekräftigt, eine Vereinigung des Festlands mit Taiwan sei unausweichlich, notfalls mit Gewalt. Sie solle unter der Formel »Ein Land, zwei Systeme« erfolgen, die vorsieht, dass Territorien innerhalb der Volksrepublik China ein in Teilen eigenständiges politisches System haben können. Das Konzept »Ein Land, zwei Systeme« wurde vor 40 Jahren von Deng Xiaoping für Taiwan entwickelt und später auf Hongkong und Macau angewandt. Die Volksrepublik nannte zwar keine Frist für eine Vereinigung mit Taiwan, aber Xi Jinping unterstrich, diese Frage dürfe nicht von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das unausgesprochene Enddatum ist (spätestens) das Jahr 2049: Zum hundertjährigen Jubiläum der Volksrepublik soll nach Xi Jinping die »große Wiederauferstehung der chinesischen Nation« vollendet werden – und dazu gehöre die Vereinigung mit Taiwan.
In Taiwan wurde und wird »Ein Land, zwei Systeme« von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt, ebenso von allen Parteien im Parlament. Da Taiwan de facto ein souveräner Staat ist, kann die Inselrepublik unter diesem Konzept nur verlieren.
Die politische Konfliktlinie auf Taiwan verläuft anders: zwischen dem Ideal eines unabhängigen Taiwans, für das die DPP steht, und dem Ideal eines vereinigten demokratischen Chinas, der Republik China, das die KMT anstrebt. Die Republik China wurde 1912 gegründet und beendete das chinesische Kaiserreich. Sie wurde durch die KMT diktatorisch regiert, bis die KMT im Chinesischen Bürgerkrieg der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) unterlag und 1949 nach Taiwan flüchten musste. Dort besteht bis heute die Republik China fort. In den 1990er Jahren ist Taiwan erfolgreich demokratisiert worden. Die Ideale der DPP und der KMT sind zurzeit beide nicht erreichbar. Dementsprechend bemühen sich die beiden großen Parteien, den Status quo aufrechtzuerhalten, sprich Taiwans De‑facto-Unabhängigkeit: die DPP durch eine stärkere Anlehnung an die USA und mehr Distanz zu Festlandchina, die KMT durch wirtschaftlich enge Beziehungen zum chinesischen Festland.
Die Rede Xi Jinpings wurde in Taiwan als eine Verhärtung der Position Taiwan gegenüber wahrgenommen, auch wenn Xi im Wesentlichen nur die bestehenden Positionen der Volksrepublik zu diesem Thema bekräftigte. Allerdings hat er die Chance verpasst, in seiner Rede neue Optionen für eine Lösung des Konflikts vorzustellen, die auch für Taiwan akzeptabel wären.
Einen Wendepunkt für den Wahlkampf in Taiwan stellte das Wiederaufflammen der Demokratiebewegung in Hongkong dar. In einem friedlichen Protestmarsch von bis zu 2 Millionen Menschen fand sie im Juni 2019 einen ersten Höhepunkt.
Die Proteste hatten sich an der geplanten Verabschiedung eines Auslieferungsgesetzes entzündet. Der Gesetzentwurf sah vor, dass in Festlandchina gesuchte Straftäter dorthin ausgeliefert werden können. Viele Hongkonger fürchteten, das Gesetz könnte missbraucht werden, um Menschen in die Volksrepublik auszuliefern, die sich in Hongkong ihr gegenüber kritisch äußern. Eine der wichtigsten Errungenschaften Hongkongs im Vergleich zum chinesischen Festland ist der weitgehend intakte Rechtsstaat. In Festlandchina muss sich die Justiz im Zweifel den Anweisungen der KPCh beugen; sie genügt keinen rechtsstaatlichen Standards. Die Proteste in Hongkong haben sich rasch zu einer Bewegung ausgeweitet, die sich gegen die schrittweise Aushöhlung der verbliebenen Freiheiten der Stadt durch die Volksrepublik richtet.
Die Situation in Hongkong hat den Taiwanern vor allem eines vor Augen geführt: die im Vergleich zu Taiwan erheblich geringeren demokratischen Freiheiten unter dem Konzept »Ein Land, zwei Systeme«. Zudem zeigen sich die Zentralregierung in Peking und die lokale Regierung in Hongkong kompromisslos; als einziges Zugeständnis ist das umstrittene Auslieferungsgesetz im September 2019 zurückgezogen worden. Die anderen vier Forderungen der Protestbewegung wurden und werden ignoriert: 1) die Einführung freier und allgemeiner Wahlen, 2) eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt, 3) eine Amnestie für alle angeklagten Protestierenden und die Freilassung der Inhaftierten sowie 4) die Forderung, die Proteste nicht als Aufstand (»riot«) zu charakterisieren. Stattdessen reagierte die Polizei mit Härte und Brutalität und hat bis heute mehrere Tausend Protestierende verhaftet, viele davon Studierende. Es liegen zahlreiche Berichte von Misshandlungen der Inhaftierten vor. Ein kleiner Teil der Protestbewegung hat sich selbst radikalisiert und Gewalt gegen die Polizei verübt; die große Mehrheit bleibt hingegen friedlich und erfährt Unterstützung von der Hongkonger Bevölkerung.
Einerseits beharrt die Volksrepublik auf der Formel »Ein Land, zwei Systeme« für Taiwan. Andererseits sehen die Taiwaner, dass selbst die – im Vergleich zu ihrer Demokratie – deutlich begrenzteren demokratischen Freiheiten und Rechte in Hongkong von der KPCh ausgehöhlt werden.
Tsai Ing‑wen hat in mehreren Reden und Stellungnahmen betont, Taiwans Demokratie sei nicht verhandelbar und »Ein Land, zwei Systeme« keine akzeptable Lösung. Darüber hinaus brachte sie ihre Solidarität mit Hongkongs Demokratiebewegung zum Ausdruck. Gleichzeitig vermied sie es jedoch, einer größeren Zahl von Protestierenden Asyl zu gewähren oder die Protestbewegung anderweitig zu unterstützen, um Festlandchina nicht zu provozieren. Die KMT lehnt »Ein Land, zwei Systeme« zwar auch ab und Han sagte im Wahlkampf, dieses Konzept werde nur »über seine Leiche« in Taiwan angewandt. Aber die Mehrheit der Taiwaner fürchtete, Festlandchina könnte seinen politischen Einfluss ausweiten, wenn es, wie in Hans Wahlprogramm vorgesehen, zu einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit käme.
Solide wirtschaftliche Entwicklung
Präsidentin Tsais erste Amtszeit war geprägt von einem soliden Management der Wirtschaft, demokratischen Fortschritten in Taiwan, schwierigen Beziehungen zu Festlandchina sowie engen Beziehungen zu den USA, Japan und der Europäischen Union (EU).
Die taiwanische Wirtschaft ist während Tsais erster Amtszeit stabil gewachsen, in den Jahren 2016 bis 2019 im Schnitt um 2,5 Prozent pro Jahr. Mit der Reduzierung der Pensionen für öffentliche Bedienstete hat sie eine wichtige – wenn auch unpopuläre – Reform zur finanziellen Nachhaltigkeit der Sozialsysteme durchgesetzt. Unzufrieden sind viele Taiwaner vor allem mit den seit fast zwei Jahrzehnten stagnierenden Löhnen bei gleichzeitig stark gestiegenen Immobilienpreisen. Dieses Problem konnte die Präsidentin bisher nicht lösen. Unter anderem deshalb erlitt die DPP bei den Kommunalwahlen im November 2018 eine krachende Niederlage, als deren Konsequenz Tsai den Parteivorsitz niedergelegt hat. Die Fokussierung im Wahlkampf auf die Beziehungen mit Festlandchina, die Proteste in Hongkong und die Entzauberung Han Kuo‑yus haben Tsai im Jahr 2019 zu einem Comeback verholfen. Zudem hat sie den Mindestlohn mehrfach erhöht, Steuersenkungen umgesetzt und weitere sozialpolitische Maßnahmen ergriffen, wodurch sie ihre Popularität wieder steigern konnte.
Taiwans vorbildliche Demokratie
Unter Tsai hat Taiwan weitere Fortschritte hinsichtlich Demokratie und Menschenrechten gemacht, zum Beispiel wurden die Rechte der 16 offiziell anerkannten indigenen Völker Taiwans gestärkt. Im Jahr 2016 bat Tsai Ing‑wen als erste Präsidentin des Inselstaats um Entschuldigung für begangenes Unrecht in der Behandlung indigener Taiwaner, die circa 2 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Des Weiteren wurde die Aufarbeitung der autoritären Vergangenheit vorangetrieben, indem eine Kommission ins Leben gerufen worden ist, die die Zeit der Diktatur der KMT von 1945 bis zur vollständigen Aufhebung des Kriegsrechts 1992 untersucht und Opfer entschädigt. Als ein Vorbild dient Taiwan dabei Deutschlands Aufarbeitung der DDR-Diktatur; mit der Stasi-Unterlagen-Behörde ist im Dezember 2019 eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit unterzeichnet worden.
Als erstes Land in Asien hat Taiwan 2019 die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt. Der Inselstaat gehört zu den Spitzenreitern auf dem Kontinent, was Meinungs- und Religionsfreiheit anbetrifft, ebenso Frauenrechte, Rechte der LGBTQ*-Gemeinschaft und Freiräume für die Zivilgesellschaft. Die direkte Demokratie ist ausgebaut worden, in Form vereinfachter Verfahren für Volksentscheide. Zusammen mit Japan und Südkorea ist Taiwan die am weitesten entwickelte Demokratie in Asien und die einzige chinesische Demokratie, die je existiert hat.
Turbulente Beziehungen zu China
Tsai Ing‑wen versprach nach ihrer Wahl 2016, den Status quo in den Beziehungen zu Festlandchina aufrechtzuerhalten. In ihrer Antrittsrede hat sie die historische Bedeutung der Gespräche zwischen beiden Seiten im Jahr 1992 gewürdigt, ohne sich das Konzept des »Konsenses von 1992« vollständig zu eigen zu machen. Der sogenannte »Konsens von 1992« geht auf eine informelle Einigung zwischen der KPCh und der KMT zurück: Zwar gebe es ein China, aber verschiedene Interpretationen darüber, welcher Staat dieses eine China sei. Die KPCh meint damit die Volksrepublik China, die KMT die Republik China. Zentral aus Sicht der KPCh war die Anerkennung, dass Taiwan Teil Chinas sei, wenn auch nicht unbedingt der Volksrepublik.
Die DPP hat dieses Konzept nie akzeptiert und vertritt den Standpunkt, die taiwanische Bevölkerung müsse über die Souveränität Taiwans entscheiden. Tsai Ing-wen ist in ihrer Antrittsrede Festlandchina bereits weit entgegengekommen, indem sie die Gespräche von 1992 explizit erwähnte.
Ein Mandat für weitere Schritte in Richtung Integration mit dem chinesischen Festland hatte sie nicht erhalten. Die 21 Abkommen, die unter ihrem Amtsvorgänger Ma Ying‑jeou von der KMT mit Festlandchina ratifiziert worden waren und in erster Linie die wirtschaftliche Integration betreffen, ließ sie aber in Kraft. Forderungen nach einer taiwanischen Unabhängigkeit, wie sie der radikale Flügel ihrer Partei erhebt, weist sie zurück.
Für die Regierung Xi Jinpings boten Tsais Antrittsrede und ihre Politik jedoch zu wenig: Die Volksrepublik verlangt die Anerkennung des »Konsenses von 1992« und weitere Schritte der Integration mit dem Ziel einer Vereinigung Taiwans mit dem Festland unter der Formel »Ein Land, zwei Systeme«. Als Konsequenz hat Peking jegliche Kontakte mit der Regierung in Taipeh nach Tsais Amtsübernahme im Mai 2016 abgebrochen.
»Hinter dem Lächeln versteckt sich ein Dolch« – Chinas Taiwanpolitik
Nach dem Abbruch der Beziehungen verfolgte die Volksrepublik gegenüber Taiwan eine Doppelstrategie aus »Zuckerbrot und Peitsche«. Auf der einen Seite hat sie 2018 die sogenannten »31 Maßnahmen« und 2019 weitere »26 Maßnahmen« verabschiedet, die Anreize für taiwanische Arbeitnehmer und Unternehmen schaffen soll(t)en, in Festlandchina zu arbeiten und zu investieren; unter anderem wurden taiwanische Arbeitnehmer und Unternehmen in vielen Bereichen den festlandchinesischen gleichgestellt. Augenscheinlich wirken diese Maßnahmen bislang nicht wie gewünscht – die Investitionen taiwanischer Unternehmen auf dem Festland gehen seit 2016 zurück. Allerdings bleibt Festlandchina der größte Markt außerhalb Taiwans für taiwanische Arbeitnehmer und Unternehmen, circa 1 Million Taiwaner arbeiten dort.
Auf der anderen Seite hat die Volksrepublik Taiwan stark unter Druck gesetzt. Erstens umrunden regelmäßig Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge die Insel. Zudem ist Taiwan Opfer von geschätzt 15 Millionen Cyberattacken pro Monat, die aus der Volksrepublik kommen.
Zweitens hat die Volksrepublik Taiwans ohnehin begrenzten internationalen Spielraum weiter eingeschränkt. Seit 2016 hat die Volksrepublik 7 Staaten dazu gebracht, statt der Republik China die Volksrepublik diplomatisch anzuerkennen. Damit wird Taiwan nur noch von 15 Ländern offiziell als Staat anerkannt, in Europa nur vom Vatikan. Auf internationale Unternehmen wird Druck ausgeübt, bei jeder Nennung Taiwans den Zusatz »China« zu verwenden: 2018 etwa sollten über 30 Fluggesellschaften auf ihren Webseiten »Taiwan« zu »Taiwan, China« ändern. Die meisten kamen der Forderung nach, um ihre Präsenz auf dem festlandchinesischen Markt nicht zu gefährden.
Drittens übt die Volksrepublik Einfluss auf Medien in Taiwan aus. Eine Strategie lautet, durch chinafreundliche Unternehmer Medien in Taiwan aufzukaufen, die dann die Propaganda der Volksrepublik verbreiten. Ein Beispiel dafür ist die »China Times« des taiwanischen Keksmagnaten Tsai Eng‑meng, der den Großteil seiner Profite auf dem Festland erzielt. Die »China Times« und andere sogenannte »rote Medien« erhalten offenbar direkte Anweisungen aus Peking, wie und worüber sie berichten sollen. Eine weitere Strategie ist die Nutzung sozialer Medien, um Falschinformationen zu streuen. Mithilfe falscher Nutzer wird die Popularität prochinesischer Politiker in Taiwan durch die sozialen Medien gesteigert. So verdankte Han Kuo‑yu seinen rasanten Aufstieg auch Hunderttausenden falscher Nutzer auf Facebook, die in Fangruppen seine Popularität aufblähten.
Taiwans Demokratie ist vermutlich das weltweit größte Opfer der »sharp power« der Volksrepublik, einer Form destruktiver Macht, die es darauf abgesehen hat, die Attraktivität und Legitimität eines politischen Systems zu untergraben. Ziel ist die Schwächung der taiwanischen Regierung und die Spaltung der taiwanischen Gesellschaft durch Falschinformationen, Propaganda, Drohungen und Unterwanderung.
Taiwan stärkt die eigene Resilienz
Als Reaktion auf den wachsenden Druck aus Festlandchina hat die Regierung von Tsai Ing‑wen die Widerstandsfähigkeit Taiwans gestärkt. Die geplanten Verteidigungsausgaben für 2020 sind auf 13,1 Milliarden US-Dollar angehoben worden, im Vergleich zu 10,7 Milliarden US-Dollar 2015. Die Entwicklung und der Bau eigener U-Boote fördern die heimische Rüstungsindustrie.
Das Parlament hat mehrere Gesetze gegen festlandchinesische Einflussnahme auf Medien und Politik verabschiedet, als letzte Maßnahme das »Antiinfiltrationsgesetz« Ende Dezember 2019. Unter anderem verbieten diese Gesetze taiwanischen Parteien, Geld aus der Volksrepublik anzunehmen, und verschärfen Beschränkungen für pensionierte Beamte und Soldaten, an Aktivitäten der KPCh auf dem chinesischen Festland teilzunehmen.
Weiterhin bemüht sich die Regierung Tsai darum, die wirtschaftliche Abhängigkeit von Festlandchina zu verringern. Zu diesem Zweck hat sie die »Neue Südwärtspolitik« initiiert, die die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen zu Süd- und Südostasien festigen soll. Zum Beispiel können die Einwohner vieler dieser Staaten nun visafrei nach Taiwan einreisen, was zu einem Anstieg des Tourismus aus diesen Regionen geführt hat. Daneben kommen immer mehr Reisende aus Japan und Südkorea. 2019 verzeichnete Taiwan mit 11,8 Millionen Menschen einen neuen Rekord bei den Besucherzahlen. Im Tourismus ist es Taiwans Regierung gelungen, die Abhängigkeit von Festlandchina zu reduzieren. Zwar stellen die Festlandchinesen mit 2,7 Millionen Personen 2019 nach wie vor die größte Gruppe; doch unter Tsais Vorgänger Ma Ying‑jeou waren es auf dem Höhepunkt 2015 noch 4,1 Millionen, bei 10,4 Millionen Besuchern insgesamt. Schwieriger stellt sich die Situation beim Export dar: Festlandchina und Hongkong bleiben mit einem Exportanteil von zusammen rund 40 Prozent mit Abstand der größte Exportmarkt für den Inselstaat, weit vor den USA (12 %) und Japan (7 %). Dieser Anteil von circa 40 Prozent hält sich seit 15 Jahren weitgehend stabil. Um Taiwans enge wirtschaftliche Verflechtung mit dem chinesischen Festland aufzulösen, bedarf es eines langen Atems.
Schließlich setzt Taiwans Regierung auf intensive Beziehungen zu anderen entwickelten Demokratien, allen voran zu den USA, aber auch zu Japan und zur EU. Die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan schätzen beide Seiten als sehr gut ein. Beispielsweise haben die Vereinigten Staaten 2018 den »Taiwan Travel Act« verabschiedet, der Treffen auf Regierungsebene erlaubt. Beide Kammern des Kongresses haben das Gesetz einstimmig angenommen, ein Signal der parteiübergreifenden und sichtbaren Unterstützung, die Taiwan in den USA genießt. Im gleichen Jahr haben die USA in Taipeh ein neues imposantes Gebäude für ihre inoffizielle Vertretung, das American Institute, eröffnet.
Die USA schicken häufiger als früher Kriegsschiffe durch die Taiwanstraße und verkaufen regelmäßig(er) Waffen an Taiwan. Das letzte große Paket, 2019 vereinbart, sieht den Verkauf von 66 F‑16‑Kampfflugzeugen der neuesten Generation vor.
In zwei vielbeachteten Reden zur Chinapolitik der USA, gehalten im Oktober 2018 bzw. 2019, hob US-Vizepräsident Mike Pence Taiwan positiv hervor; beide Male sagte er: »America will always believe that Taiwan’s embrace of democracy shows a better path for all the Chinese people.«
Die Politik der USA zielt auf eine Bewahrung des Status quo in der Taiwanstraße. Sie signalisieren der Volksrepublik, dass sie Taiwan unterstützen, um militärischen Aktionen des Festlands gegen die Insel vorzubeugen. Sollte der Druck der Volksrepublik auf Taiwan weiter zunehmen, werden die USA wahrscheinlich zu einem noch deutlicheren Bekenntnis zur Verteidigung des Inselstaats gezwungen werden, wenn sie militärische Aktionen durch die Volksrepublik verhindern wollen.
Taiwans Beziehungen zu Japan und zur EU haben sich in der ersten Amtszeit Tsais ebenfalls positiv entwickelt. Japan unterhält traditionell enge Beziehungen zur DPP. Die EU betrachtet die Menschenrechtslage in Taiwan als vorbildlich in Asien und gründet die bilateralen Beziehungen auf gemeinsame Werte sowie gute wirtschaftliche Beziehungen.
Bedrohung für Taiwan nimmt zu
Für die zweite Amtszeit von Präsidentin Tsai ist eine Fortführung ihrer Politik der letzten vier Jahre zu erwarten.
Was die Beziehungen zu Festlandchina angeht, hängt viel von der Regierung in Peking ab. Eine Möglichkeit wäre, dass die Volksrepublik den Druck auf Taiwan aufrechterhält oder sogar erhöht, eine zweite, dass sie ihre Taiwanpolitik ändert hin zu mehr Dialog- und Kompromissbereitschaft. Diese zweite Möglichkeit erscheint im Moment wenig wahrscheinlich. Sie wäre aber die Voraussetzung für eine friedliche Vereinigung, die das öffentlich geäußerte Ziel der Regierung in Peking darstellt.
Präsidentin Tsai hat in ihrer Rede am Wahlabend 2020 erneut ihre Bereitschaft zum Dialog und zur Verständigung mit dem Festland betont. Die Grundlage müsse ein Bekenntnis zu Frieden und der Verzicht auf Drohungen sein, ein Dialog auf Augenhöhe und Respekt vor dem demokratischen Willen der Taiwaner. Die Taiwaner müssten in einem demokratischen Prozess selbst über ihre Zukunft entscheiden dürfen.
Die harte Haltung der Volksrepublik in den letzten vier Jahren war kontraproduktiv und hat Taiwan weiter vom Festland entfremdet. So hat Pekings Politik die KMT geschwächt. Das Problem der Partei: Sie möchte in ihrer Politik an die Zeit von Präsident Ma Ying‑jeou (2008–2016) anknüpfen. Dabei übersieht sie, dass die Volksrepublik heute nicht mehr die gleiche ist wie noch vor zehn Jahren, sondern aggressiver und fordernder gegenüber Taiwan auftritt und im Inneren repressiver geworden ist. Die KMT hat zudem kaum Wähler unter 40 Jahren, denn diese können mit der Identität der Republik China wenig anfangen und verstehen sich meist ausschließlich als Taiwaner. Das vergleichsweise solide Abschneiden der KMT bei den Wahlen zum Parlament zeigt indes: Mit geeignetem – jungem – Personal und neuen Ideen kann die Partei wieder wettbewerbsfähig werden.
Erste Reaktionen aus der Volksrepublik deuten darauf hin, dass sie die Politik des Drucks auf Taiwan fortsetzt und an der Formel »Ein Land, zwei Systeme« festhält. Die Repression der KPCh in Tibet, Xinjiang und Hongkong belegt ihre fehlende Fähigkeit, Kompromisse einzugehen und politische Freiräume zu gewähren. In der gegenwärtigen chinesischen Politik ist es für Politiker außerdem weniger riskant, eine harte und nationalistische Haltung zu vertreten, als sich kompromissbereit und offen für neue Ideen und Konzepte zu zeigen. Dementsprechend wird die Volksrepublik weiterhin versuchen, Taiwans Demokratie zu unterwandern und Falschinformationen zu verbreiten; überdies wird sie den militärischen und diplomatischen Zwang verstärken.
EU: Status quo sichern und Taiwans Demokratie unterstützen
Das jüngste Strategiepapier zu den EU-China-Beziehungen vom März 2019 charakterisiert die bilateralen Beziehungen so: Kooperation, Ausgleich gegenseitiger Interessen, Wettbewerb und Rivalität in Bezug auf Werte und die politischen Systeme. Taiwan taucht nur in einer Fußnote auf. Anknüpfend an das EU-Strategiepapier von 2016 gründet die Union ihre Beziehungen zu Taiwan auf die »Ein-China-Politik«, auf die Weiterentwicklung der Beziehungen zu Taiwan auf der Basis gemeinsamer Werte und auf Frieden in der Taiwanstraße.
Das jüngste Strategiepapier der Union illustriert, in welchem Spannungsfeld sie sich bei ihren Beziehungen zur Volksrepublik bewegt: Auf der einen Seite ist China ein wirtschaftlicher und politischer Partner, bei Handel, Investitionen und der Lösung globaler Probleme wie dem Klimaschutz. Auf der anderen Seite ist die Volksrepublik ein Rivale, der ein autoritäres Regierungsmodell propagiert und globale Normen wie Menschenrechte unterminiert.
In diesem Spannungsfeld befindet sich auch die europäische Politik gegenüber Taiwan. Der Inselstaat teilt die europäischen Werte von Demokratie und Menschenrechten. Ähnlich wie bei der Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern in Festlandchina und Hongkong oder der Kritik an der Repression in Xinjiang und Tibet muss sich die EU bei ihren Beziehungen zu Taiwan überlegen, was ihr die Förderung von Demokratie und Menschenrechten wert ist. Der geplante EU-China-Gipfel in Deutschland im September 2020 bietet sich an für eine solche Diskussion über eine »Taiwanstrategie«.
Darüber hinaus sollten sich die EU-Mitgliedstaaten stärker mit den USA und Japan austauschen, wie Frieden und Stabilität in der Taiwanstraße bewahrt werden und die Demokratien der Welt eine der Ihren besser unterstützen können.
Es bestehen vielfältige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit Taiwan unterhalb der formalen staatlichen Anerkennung, von denen beide Seiten profitieren und die intensiviert werden können: in Technologie und Wissenschaft, bei der Energiewende oder der Förderung von Menschenrechten. Taiwan wird in Deutschland und Europa zu selten als der wertvolle Partner gesehen, der es ist, als erfolgreiche Demokratie und technologisch innovative Wirtschaft. Seine IT-Industrie etwa gehört zu den weltweit führenden.
Gleichzeitig könnte die EU anbieten, Dialoge und Konferenzen zu veranstalten, an denen sie selbst, Festlandchina und Taiwan teilnehmen. Diese Dialoge sollten unter anderem versuchen zu bewirken, dass Festlandchina Taiwans Demokratie und Werten mehr Verständnis entgegenbringt. Tsais Wahlsieg zum Beispiel erklären chinesische Medien durch Betrug und schmutzige Tricks der DPP sowie den Einfluss der USA, ohne jegliche Fakten und Beweise. Taiwans Demokratie sei nur »ein Mantel, unter dem sich die Kräfte der taiwanischen Unabhängigkeit verstecken«, wie ein Professor aus der Volksrepublik bei einer Konferenz in Shanghai kürzlich äußerte. Genau wie bei der Situation in Hongkong ist es für Peking nicht vorstellbar, dass Menschen in Freiheit leben wollen.
Dr. Frédéric Krumbein ist Heinrich-Heine-Gastprofessor an der Universität Tel Aviv.
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doi: 10.18449/2020A05