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Südasien in der Corona-Krise

Wirtschaftliche und politische Folgen

SWP-Aktuell 2020/A 29, 24.04.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A29

Forschungsgebiete

In den Staaten Südasiens trifft die grassierende Coronavirus-Pandemie auf über 1,9 Milliarden Menschen – das sind fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Angesichts der Schwäche der nationalen Gesundheitssysteme scheint der Kampf gegen das Virus verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Die wirtschaftlichen Schäden werden Armut und Ungleichheit vergrößern und vermutlich eine Reihe bestehender Konflikte eher zusätzlich verschärfen als abmildern. Innenpolitisch ist zu befürchten, dass autoritäre Tendenzen im Zuge der Krisenbewältigung noch zunehmen. Im regionalen Kontext könnte China seinen Einfluss weiter zulasten Indiens ausbauen.

Die Gesundheitssysteme der Staaten Süd­asiens sind dramatisch unterfinanziert und schlecht ausgestattet. Im regionalen Ver­gleich gibt Sri Lanka mit etwa vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) am meisten für Gesundheit aus. Indien investierte im Gegensatz dazu 2018/19 lediglich 1,28 Pro­zent seines BIP in das öffentliche Gesundheitssystem. Das Land verfügt über 7 Kran­kenhausbetten pro 1 000 Personen, Pakistan über 6 Betten, Bangladesch über 8. China dagegen hält 42 Betten pro 1 000 Personen vor, die USA 29 Betten. In allen Ländern mangelt es an Beatmungsgeräten und aus­reichender Schutzausrüstung für die Pflege­kräfte. Zudem sind moderne medizinische Einrichtungen vor allem in den städtischen Zentren zu finden, dagegen sind die länd­lichen Regionen deutlich schlechter ver­sorgt.

Diese strukturellen Defizite treten in der aktuellen Krise stärker denn je zutage. So waren die Mitte April offiziell gemeldeten niedrigen Infektionszahlen vor allem auf fehlende Testkapazitäten zurückzuführen. In Indien wurden zu diesem Zeitpunkt nur 291 Tests pro eine Million Einwohner durchgeführt, in Pakistan waren es 506, in Sri Lanka 302 und in Bangladesch 162.

Anfang April verzeichnete Indien nach eigenen Angaben eine Sterblichkeitsrate von drei Prozent, in Pakistan lag sie im selben Zeitraum bei einem Prozent, in Bangladesch hingegen bei zehn Prozent.

Die wirtschaftlichen Folgen

Die Covid-19-Pandemie beschleunigt den wirtschaftlichen Abschwung, in dem sich bereits vor der Krise nicht nur Indien und Pakistan als die beiden größten Volkswirtschaften der Region, sondern auch Bangla­desch und Sri Lanka befunden haben. In­diens Wirtschaftswachstum war schon Ende 2019 auf unter fünf Prozent gesunken.

Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Wäh­rungsfonds (IWF) haben ihre Wachstumsprognosen für die Länder der Region denn auch drastisch nach unten korrigiert. Der abrupte Stillstand von Schlüsselindustrien wie der Textil-Produktion in Bangladesch oder der Tourismusbranche auf Sri Lanka und den Malediven wird die Verschuldung in die Höhe treiben und die drohende Re­zes­sion forcieren. Die Weltbank prognos­tiziert, dass 2020 für Südasien das schlechteste Wirtschaftsjahr seit über vierzig Jahren werden könnte.

Die Pandemie trifft vor allem ärmere Bevölkerungsgruppen mit voller Wucht. In Indien war die Arbeitslosenrate bereits 2019 auf den höchsten Stand seit Jahrzehnten geklettert. Hinzu kommt, dass etwa 90 Pro­zent aller Beschäftigten des Landes im in­for­mellen Sektor arbeiten. Diese rund 450 Millionen Menschen besitzen keiner­lei Form von sozialer Absicherung. Nach dem Inkrafttreten der Ausgangssperre am 25. März machten sich deshalb viele Beschäf­tigte auf den Weg zurück in ihre Dörfer. Da­bei kam es auch vereinzelt zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Da auch die Bundesstaaten ihre Grenzen abriegelten, strandeten viele Wanderarbeiter, deren Ver­sorgung zu einem weiteren Problem wurde.

Besonders dramatisch könnte sich die Krise in der Landwirtschaft auswirken. Sie ist in vielen Staaten noch immer der größte Beschäftigungssektor und oft von Saison- bzw. Wanderarbeitern abhängig. Sollten die umfangreichen Ausgangsbeschränkungen anhalten, verlieren die Wanderarbeiter nicht nur ihre Einkommen, sondern es könnte vielfach auch zu Ausfällen bei der Ernte und lokalen Hungersnöten kommen. Im Zuge des abrupten Stillstands der Wirt­schaft und der damit verbundenen Pro­bleme, wie wachsende Arbeitslosigkeit, Armut und Versorgungsengpässe, sind alle Regierungen mit einem Dilemma kon­fron­tiert: Sie sind letztlich dafür verantwortlich, zu entscheiden, ob mehr Men­schen durch das Virus oder durch die Maß­nahmen zu dessen Eindämmung ums Leben kommen.

Alle Staaten haben auf die Notsituation mit nationalen Hilfspaketen reagiert. Die indische Regierung stellte zunächst 22 Mil­liarden US-Dollar zur Verfügung, um die wirtschaftlichen und humanitären Folgen kurzfristig zu lindern. Die Bundesstaaten initiierten eigene Hilfsprogramme.

Zu den wenigen Lichtblicken in Indien zählt, dass mittlerweile auch viele arme Familien ein Bankkonto haben, auf das die Regierung staatliche Sozialleistungen direkt überweisen kann. 2018 hat die Modi-Regie­rung zudem ein neues Krankenversicherungs-Programm für ärmere Bevölkerungsgruppen aufgelegt. Zwar haben rund zwei Drittel aller indischen Familien Anspruch auf Nahrungsmittelhilfen aus dem Public Distribution System (PDS), doch gibt es ver­mutlich mehrere Millionen Menschen, die nicht von dem Programm erfasst werden.

In Pakistan stellte die Regierung von Pre­mierminister Imran Khan zunächst 8 Mil­liarden US-Dollar zur Bekämpfung der Pan­demie bereit. Da das Land aktuell zweistellige Inflationswerte aufweist und der IWF ihm erst im November 2019 einen Rettungs­schirm zur Stabilisierung der Wirtschaft bewilligt hat, wird es Pakistan am schwer­sten haben, weitere internationale Hilfen zu erlangen. Die Regierung rechnet damit, dass im Zuge der Krise bis zu 18,5 Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren werden, das sind mehr als 30 Prozent der Erwerbstätigen. Eine weitere Maßnahme war deshalb, Sozialprogramme wie das Benazir Income Support Programme (BISP) auszuweiten.

Erschwerend kommt hinzu, dass den Staaten wichtige externe Finanzierungsquellen wegbrechen. Indien ist das Land mit dem größten Volumen an Rücküberweisungen von Gastarbeitern aus dem Aus­land. Allein in der Golfregion sind schät­zungsweise sechs bis sieben Millionen indische Gastarbeiter beschäftigt. Auch für Bangladesch, Nepal und Sri Lanka sind die Geldtransfers in die Heimat wichtige wirt­schaftliche Stützen.

Da ihre wirtschaftlichen Ausgangslagen variieren, werden die einzelnen Staaten bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise unter­schiedliche Strategien verfolgen. Länder wie Bangladesch, die Malediven, Nepal, Pakis­tan und Sri Lanka werden vermutlich auf eine rasche Einbindung in die Weltwirtschaft drängen. Sie bangen nicht nur um ihre wichtigsten Industriezweige wie die Textilproduktion und den Tourismus, sondern möchten auch schnellstmöglich wieder ihre Arbeitskräfte ins Ausland ent­senden können.

In Indien könnte die Krise die ohnehin herrschende Tendenz zum Protektionismus noch verstärken. Schon in den vergangenen Jahren erhöhte die Regierung in Neu-Delhi Zölle. Im vergangenen November trat sie auch nicht der RCEP-Initiative (Regional Comprehensive Economic Partnership) bei, die Erleichterungen unter anderem im Han­del mit China mit sich gebracht hätte. So kündigte Pre­mierminister Modi bereits an, die von ihm 2014 gestartete »Make in India«-Initiative zur Stärkung der natio­nalen Industrie auszubauen.

Die politischen Folgen

Krisen gelten als Zeit der Exekutive. Darum ist zu erwarten, dass sich die bestehenden autoritären und populistischen Tendenzen in Ländern wie Bangladesch, Indien, Pakis­tan und Sri Lanka weiter verstärken werden.

Die Maßnahmen gegen die Pandemie schränken auch in Südasien Grundrechte ein. Im Namen der Bekämpfung von Des­information lassen sich etwa regierungs­kritische Stimmen, Fernsehkanäle und In­ternetseiten noch schärfer kontrollieren. Seit Jahren verschlechtern sich zum Bei­spiel die Werte für Presse- und Meinungsfreiheit in Indien. Die größte Demokratie lag im internationalen Presseindex 2020 nur auf Rang 142, Pakistan auf Platz 145, Bangladesch auf Rang 151 und Afghanistan auf Platz 122.

Der Oberste Gerichtshof in Indien hat zwar das Recht auf Privatsphäre und den Schutz persönlicher Daten anerkannt. Doch dürfte der Kampf gegen die Pandemie den­jenigen weiteren Auftrieb geben, die befür­worten, dass die Exekutive Daten umfas­send kontrolliert und verknüpft. Die Frage, ob und in welchem Umfang die Regierung Kommunikationsdaten zur Eindämmung der Pandemie nutzen kann, könnte in Indien eher zugunsten der öffentlichen Sicherheit und zulasten des Datenschutzes entschieden werden.

Indiens Bemühungen, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen, sind auch eine Belastungsprobe für den Föderalismus. Die Bundesstaaten tragen die Hauptlast im Kampf gegen das Virus. Sie fordern deshalb mehr Ressourcen von Neu-Delhi. Ein Kritik­punkt ist zudem die teilweise fehlende Koordination der Zentralregierung mit den Bundesstaaten, zum Beispiel bei der Ver­hängung der nationalen Ausgangssperre. Deren Aufhebung bringt die nächste Belas­tungsprobe für den Föderalismus. Die Bun­desstaaten sind unterschiedlich von der Pandemie betroffen, so dass ein hohes Maß an Abstimmung notwendig sein wird, um eine erneute Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern.

Besondere Probleme bereiten in vielen Staaten religiöse Veranstaltungen. So konnte in Indien, Pakistan und Bangladesch ein Teil von Infektionen auf Versammlungen der Tabilighi Jamaat zurückgeführt werden, einer muslimischen Missionsgesellschaft. Dies dürfte in Indien die Vorbehalte gegen die Muslime im Land verstärken. In der Folge wird die Polarisierung zwischen den Religionsgemeinschaften wohl weiter zu­nehmen. Pakistan war eines der wenigen muslimischen Länder, deren Regierung es bis Mitte April nicht gelang, die Moscheen zu schließen. Grund dafür war der Wider­stand der islamischen Geistlichkeit. Und in Bangladesch versammelten sich den Vorgaben der Regierung zum Trotz am 18. April rund 100 000 Personen zur Be­erdigung eines muslimischen Geistlichen.

Der regionale Kontext

Die Corona-Krise läutet auch eine neue Runde im Ringen um regionalen Einfluss in Südasien ein, das Indien und China mit­einander austragen. Beide Länder unterstützen sich gegenseitig bei der Eindämmung von Covid‑19. Ende Februar 2020 schickte Indien medizinische Güter nach China. Nachdem sich die Krise auch in Indien ausgebreitet hatte, sandte China im Gegenzug umfangreiche Hilfspakete, vor allem Schutzkleidung für das Pflegepersonal. In Reaktion auf die Krise will Indien seine pharmazeutische Industrie ausbauen, die jedoch in hohem Maße von chine­sischen Importen abhängig ist.

Indien ist der weltweit größte Produ­zent von Hydroxychloroquin, das anfangs in einigen Staaten als erfolgversprechendes Mittel gegen Covid-19 gesehen wurde. Die indische Regierung verhängte zunächst ein Exportverbot, lockerte dies jedoch wieder auf Druck der amerikanischen Regierung. Obwohl Indien bereits Sri Lanka und die Malediven mit medizinischen Hilfsgütern versorgt hat, verfügt China über deutlich mehr Ressourcen und lieferte entsprechend größere Unterstützung in die Region. Damit dürfte sich die Machtbalance in Südasien mehr in Richtung China verschieben.

Die Bedrohung durch Covid‑19 hatte überraschenderweise eine Wiederbelebung der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) zur Folge. An einer von Indiens Premierminister Modi anbe­raumten Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs am 15. März nahm auf Sei­ten Pakistans jedoch nur der Gesundheitsminister teil, nicht aber Premierminister Khan. Die indische Regierung richtete einen Notfonds mit 10 Millionen US-Dollar ein, dem sich andere SAARC-Staaten anschlos­sen. Pakistan wehrte sich gegen Indiens Anspruch auf eine regionale Führungsrolle und gab drei Millionen US-Dollar an das SAARC-Sekretariat. Der Kampf gegen das Virus führte somit nicht zu einer neuer­lichen Annäherung der beiden verfeindeten Nachbarn.

Ausblick: Südasien nach der Corona-Krise

Die politischen, wirtschaftlichen und huma­nitären Probleme in Südasien werden die internationale Gemeinschaft auch nach der Corona-Krise noch beschäftigen. Die Region genießt aber, mit Ausnahme Indiens und mit Abstrichen Pakistans, nur geringe geopolitische Aufmerksamkeit in der deut­schen und europäischen Politik. Dies wird nach der Corona-Krise noch deutlicher zu­tage treten. Denn vermutlich werden sich die deutschen und europäischen Hilfen auf außenpolitische Brennpunkte in der un­mittelbaren Nachbarschaft konzentrieren.

Bereits bestehende Handelsinstrumente wie das Allgemeine Präferenzsystem sind zumindest eine Option, um Staaten aus Südasien wieder eine Rückkehr auf den Welt­markt zu erleichtern.

Trotz der Kritik an ihrem Krisenmanage­ment, der sich alle Regierungen in der Region ausgesetzt sehen, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit gestärkt aus der Krise hervorgehen. Die Bekämpfung der Pandemie verhilft dem Staat zu größerem Einfluss auf die Wirtschaft. Dadurch ver­mag er erstens die größte Not der Bevölke­rung zu lindern und eine drohende huma­nitäre Katastrophe abzuwenden, und zwei­tens kann er das Wirtschaftsleben wieder in Gang bringen.

Die wirtschaftliche Entwicklung wird in allen Staaten Südasiens einen merklichen Rückschlag erleiden. Politisch ist zu befürch­ten, dass die Pandemie die bereits wirksamen autoritären und zentralistischen Tendenzen weiter verstärken wird. Neu eingeführte Beschränkungen der Meinungs- und Presse­freiheit sowie eine mögliche stärkere Zen­tralisierung könnten das Ende der Pan­demie überdauern. Im Ringen um Einfluss in Südasien wird Indien vermutlich weiter an Boden gegenüber China verlieren.

Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
Tobias Scholz ist Politikwissenschaftler und war Praktikant in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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