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Saudi-Arabien, die Pandemie und das Öl

Die Wirtschaftskrise zwingt den Kronprinzen, zwischen Reformprogramm und aggressiver Regionalpolitik zu wählen

SWP-Aktuell 2020/A 64, 15.07.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A64

Forschungsgebiete

Im Juni 2020 sagte die saudi-arabische Regierung die jährliche »große Pilgerfahrt« (»Hajj«) nach Mekka für alle aus dem Ausland anreisenden Gläubigen ab. Schon Ende Februar hatte sie die »Umra« genannte »kleine Pilgerfahrt« ausgesetzt. Damit hat die Corona-Krise bewirkt, dass neben den Einkünften aus dem Ölexport auch die zweit­wichtigste Einnahmequelle der saudi-arabischen Regierung schwer getroffen ist, auf die sie selbst in Krisenzeiten meist bauen konnte. Das Jahr 2020 dürfte zum Epochenjahr der Geschichte Saudi-Arabiens werden, denn der zeitweilige dramatische Verfall der für seine Wirtschaft so wichtigen Erdölpreise seit Frühjahr reduzierte die Staats­einnahmen so drastisch, dass das Königreich zu Steuererhöhungen und Sparmaßnah­men griff, um die Krise abzufedern. Trotzdem setzt Kronprinz Muhammad Bin Salman auf Kontinuität, indem er sein immens teures wirtschaftliches Reformprogramm »Vision 2030« fort­führt, seine aggressive antiiranische Regionalpolitik weiterverfolgt – bisher ein­schließlich des Krieges im Jemen – und unvermindert moderne Waffensysteme für die saudischen Streitkräfte kaufen lässt. Diese Politik wird das Königreich rasch an die Grenzen seiner finanziellen Belastbarkeit bringen und dazu zwingen, Prioritäten zu setzen.

Auf die ersten Anzeichen, dass die Covid-19-Pandemie auch den Nahen Osten erreicht hatte, reagierte die saudi-arabische Regie­rung mit raschen und weitreichenden Maß­nahmen, um das Virus auf ag­gres­sive Weise einzudämmen. Sie profi­tier­te davon, dass es sich im Februar zu­nächst in Iran und erst von dort auf weitere nah­öst­liche Länder verbreitete, so dass sie mehr Zeit hatte als der große und mit der Seuche heillos über­forderte Rivale.

Schon früh wurde deutlich, dass der wich­tigste Ansteckungsherd in Iran das reli­giöse Zentrum in Qom war, mit seinem Schrein der schiitischen Heiligen Fatima al‑Ma‘suma (der Schwester des achten zwölferschiitischen Imam Reza) und seinen zahlreichen religiösen Bildungsstätten. Da Saudi-Arabien mit Mekka und Medina zwei ungleich grö­ßere und wichtigere Pilger­stätten beherbergt, kamen die ersten saudi-arabischen Maßnahmen schon mehrere Tage bevor am 2. März der erste Ansteckungsfall im Land bekannt wurde. Die »kleine Pilgerfahrt« (»Umra«), bei der Muslime außerhalb der Pilgersaison anreisen, wurde ausgesetzt, die Heiligtümer in Mekka und Medina wur­den geschlossen. Vor allem die Absage der »Umra« war wichtig, weil im Fastenmonat Ramadan, der dieses Jahr vom 24. April bis zum 23. Mai dauerte, traditionell besonders viele Gläu­bige nach Mekka und Medina pilgern. Zu den Maß­nahmen der ersten Tage gehörte außerdem Anfang März die voll­ständige Abriegelung der schiitisch bewohn­ten Stadt Qatif in der saudi-arabi­schen Ost­provinz. Dort waren die ersten Covid-19-Fälle auf­getreten. Die Betreffenden hatten sich bei Besuchen in Iran und im Irak angesteckt.

Trotz der stark religiösen Prägung Saudi-Arabiens scheinen sich die mit der Krise befassten Fachleute in der Regierung ohne Probleme durchgesetzt zu haben. Dies ist unter anderem eine Folge der Machtübernahme durch den Kronprinzen Muhammad Bin Salman, der den Einfluss der immer noch mächtigen Religionsgelehrten weiter zurückgedrängt hat als seine Vorgänger. Obwohl davon auszugehen ist, dass viele von ihnen die Maßnahmen in Mekka und Medina ablehnten, wurde kein Widerspruch laut. Überdies hat die Regierung und dort in erster Linie das Pilgerfahrts­ministerium – das seit langem als für saudi-ara­bische Ver­hältnisse besonders leistungsstarke Behörde gilt – viel Erfahrung mit dem Management von Seuchen und ist sich der Gefahren bewusst, die der Ausbruch einer Epidemie unter Pilgern birgt. In den letzten Jahren gelang es ihr, die Ausbreitung von MERS, Ebola und des auch in Saudi-Arabien auf­tretenden Rifttalfiebers zu verhindern. Maß­nahmen, die Riad schon 2012 und 2013 gegen die Atem­wegs­erkrankung MERS er­griffen hatte, halfen auch bei der Vorbereitung auf Covid-19.

Parallel zum Auftreten der ersten Fälle verhängte die Regierung in den meisten Städten eine vollständige Ausgangssperre. Reisen zwischen den Provinzen wurden untersagt. Schulen, Universitäten, Einkaufs­zentren, Restaurants, Moscheen und weite­re öffentliche Gebäude wurden ge­schlossen. Der internationale und nationale Flugverkehr wurde fast komplett eingestellt. Bis kurz vor Beginn des Ramadan blieben die Ansteckungen mit etwa 1 200 pro Tag in einem Rahmen, welcher der Regierung als tolerabel erschienen sein muss, denn König Salman kündigte für den Fasten­monat Lockerungen an. Die Folgen waren rasch zu beobachten: Innerhalb von knapp einem Monat verdoppelte sich die Zahl der täg­lichen Neuansteckungen, und die Zahl der Fälle insgesamt vervierfachte sich auf 60 000.

Zwar entschied sich die Regierung kurz vor Ende des Ramadan, die Ausgangsbeschränkungen zu verschärfen, doch zwischen Ende Mai und Ende Juni folgten mehrere weitere Lockerungsschritte. Unter anderem wurden die Moscheen nach drei Monaten wieder ge­öffnet. Anfang Juli 2020 waren bereits über 200 000 Menschen infi­ziert, mehr als 2 000 gestorben, und die Fallzahlen stiegen täglich um 3 000–4 000 an. Das im nahöstlichen Vergleich gute Gesundheitssystem näherte sich offen­bar den Grenzen seiner Kapazitäten, denn trotz gefährlicher Sym­ptome wurden die ersten Patienten abgewiesen. Ein Grund für den erneuten Ausbruch war, dass Saudi-Arabien weniger testete als Länder, die eine zweite Welle (zunächst) verhindern konn­ten. Dass die Todeszahlen niedrig lagen, ist auf die verhältnismäßig gute Aus­stattung vieler Krankenhäuser zurückzuführen, die wegen MERS auf Atemwegserkrankungen vor­bereitet waren. Zudem waren in den ersten Monaten häufig ausländische Arbeits­kräfte betroffen, die relativ jung und gesund waren, so dass sie nicht an der Krankheit starben.

Einbruch der Öleinnahmen

Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind in Saudi-Arabien bisher weitaus gra­vierender als die gesundheitlichen. Dies gilt zwar fast weltweit, aber das Königreich wurde aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur besonders hart getroffen. Fast 90 Pro­zent seiner Einkünfte stammen aus dem Erdöl­export, und die Ölpreise fielen seit März auf das niedrigste Niveau seit Jahr­zehnten.

Saudi-Arabien benötigt ein Preisniveau von 75 bis 90 US-Dollar pro Barrel, um seinen Haushalt bestreiten zu können. Zwischen 2005 und 2014 lagen die Preise meist darüber, so dass das Königreich sogar Reserven anlegen konnte. Doch das Ende der Hochpreisphase, als der Preis zunächst auf um die 50 Dollar ab­stürzte und sich von da an nicht mehr erholte, führte zu finanziellen Engpässen. Die ambitionierte Regionalpolitik des neuen Königs Salman und seines Kronprinzen Muhammad, groß angelegte Wirtschaftsreformen, Waffen­käufe und der Krieg im Jemen waren so teuer, dass sie die Reserven von 2015 bis Anfang 2020 von rund 750 auf 500 Milliar­den Dollar schrumpfen ließen. Die saudi-ara­bische Führung reagierte, indem sie Sub­ventionen für Benzin, Wasser und Strom kürzte und Anfang 2018 erstmals eine Mehr­wertsteuer einführte, und zwar in Höhe von 5 Prozent.

Der Ausbruch der Covid-19-Pan­demie be­wirkte, dass die Nachfrage nach Öl beträcht­lich sank. Die Folge war ein beispielloser Preisverfall im Frühjahr 2020. Im März und April lag der Ölpreis mehrmals bei deutlich unter 20 Dollar pro Barrel. Hatte der durch­schnittliche Preis im Jahr 2019 noch etwa 64 Dollar betragen, ist in den meisten Pro­gnosen für 2020 von 30–40 Dollar die Rede. Dass die Preise so tief sanken, lag auch an der saudi-arabischen Politik, die kurz nach Beginn der Krise die Ölproduktion aus­weitete. Grund für diese scheinbar absurde Maßnahme war ein Konflikt mit Russland, der Anfang März ausgebrochen war. Bei Gesprächen der OPEC+ – einem 2016 ent­standenen Format, bei dem die OPEC Russ­land in ihre Beratungen ein­bezog – forder­te Saudi-Arabien, dass Russ­land sich an Pro­duktionskürzungen betei­lige. Die Führung in Riad war davon überzeugt, dass sie in den letzten Jahren zu häufig ihre Förderung reduziert und deshalb Marktanteile an andere Ölexporteure verloren hatte, die sich weigerten nachzuziehen. Auch diesmal lehnte die russische Regierung ab, so dass ein kurzer, aber in seinen Folgen dramatischer Preiskrieg begann.

Die Auseinandersetzung schadete nicht nur den unmittelbaren Kontrahenten, sondern auch den USA, wo fast nur un­kon­ventionelles Öl gefördert wird, dessen Pro­duktion deutlich teurer ist. Der Preiskrieg zwi­schen Saudi-Arabien und Russland beeinträchtigte die US-Ölindustrie so sehr, dass die Trump-Administration Druck auf Riad ausübte, seine Position zu überdenken. Im April einigten sich Saudi-Arabien und Russland auf eine von beiden getragene Drosselung der Produktion um 9,7 Millionen Barrel pro Tag. Das entsprach fast einem Zehntel der weltweiten Produktion vor der Covid-19-Krise. Diese Über­einkunft galt zu­nächst für Mai und Juni und wurde später bis Ende Juli 2020 verlängert. Die neue Einig­keit zwischen den beiden wichtigsten Pro­duzenten in der OPEC+ beruhigte die Märkte und stabilisierte die Preise, doch eine Erholung zeichnet sich nicht ab. Viel­mehr rechnet die OPEC selbst damit, dass die Nachfrage sich im Jahresdurchschnitt um neun Millionen Barrel pro Tag ver­ringern wird. Da die für Juni erhoff­te wirt­schaftliche Besserung in vielen Län­dern stockte, blieb der Ölpreis unter Druck. Ob und wann er wieder das von Saudi-Arabien angestrebte Niveau von über 80 Dollar er­reichen wird, ist völlig ungewiss. Viele Analysten gehen auch für die Jahre nach Abklingen der Pandemie und einer Erholung der Weltwirtschaft eher von Preisen zwi­schen 50 und maximal 60 Dollar aus. Einige Beobachter sind heute schon der Meinung, dass die Nachfrage nie wieder so hoch sein wird wie 2019.

Die niedrigen Ölpreise bedeuteten eine schwere Krise für Saudi-Arabien, das mit einer Doppelstrategie reagierte. Zum einen versuchte das Königreich, die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen durch ein Stimuluspaket abzumildern. Es garantierte den im Privatsektor angestellten und für die Zeit der Krise freigestellten Bürgern 60 Pro­zent ihres Einkommens und stundete Unter­nehmern die Zahlung von Mehrwert-, Gewerbe- und Einkommensteuer für drei Monate. Die Regierung sagte auch direkte Hilfszahlungen in Milliardenhöhe zu. Um diese Ausgaben zu ermöglichen, erhöhte Riad das selbst gesetzte Schuldenlimit von 30 auf 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Außerdem nutzte es seine Reserven, die weiter rasant schrumpften – seit Feb­ruar um 20 bis 25 Milliarden pro Monat.

Um die dramatischen finanziellen Folgen abzufedern, entschied sich die saudi-ara­bi­sche Regierung für ein parallel zum Stimu­luspaket laufendes Austeritätsprogramm. Sie kündigte an, ab dem 1. Juli 2020 die Mehr­wertsteuer auf 15 Prozent zu verdreifachen und schon im Juni die Sonderzahlung von monat­lich 260 Dollar einzustellen, die sie Beschäftigten im öffentlichen Sektor bis dato gewährt hatte. Außer­dem wurden bereits geplante oder auch laufende Bau­projekte aller Art ge­stoppt oder aufgeschoben. Finanzminister Muhammad al-Jadaan erklärte dazu, es handle sich um eine »Um­widmung« der Ausgaben, denn mit diesen Maßnahmen sollten 26 Milliarden Dollar eingespart und für das Stimuluspaket und das Reformprogramm »Vision 2030« des Kronprinzen freigemacht werden. Dennoch konnte der Minister nicht verhindern, dass Saudi-Arabien in die Kritik geriet, weil es die Steuern drastisch erhöhte, während andere Regierungen alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihre Volkswirtschaften mit Milliardensummen in Gang zu bringen.

»Vision 2030« unter Druck

Die Aussagen des Finanzministers und seine Begründungen für höhere Steuern, Sub­ventionskürzungen und Sparmaßnahmen geben Aufschluss über die Strategie der Regierung. Sie sind ein klares Indiz dafür, dass der Kronprinz fest entschlossen ist, das Programm »Vision 2030« fortzuführen – obwohl ihm bewusst sein dürfte, dass die gewaltigen Folge­kosten der Pandemie und die niedrigen Ölpreise dessen Erfolg stark gefährden.

Bin Salman übernahm schon kurz nach der Thronbesteigung seines Vaters im Januar 2015 die faktische Kontrolle über die Wirtschaftspolitik, nachdem er zum Vor­sitzenden des neu gegründeten Wirtschafts- und Entwicklungsrats ernannt worden war. Dieser ersetzte den Obersten Wirt­schaftsrat und wurde zum zentralen Entscheidungsgremium der saudi-arabi­schen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ihm untergeordnet sind die Fachministerien, die noch dazu suk­zes­sive mit stark abhängigen Gefolgsleuten des Kronprinzen besetzt wurden. Im April 2016 kündigte dieser unter dem Titel »Vision 2030« groß ange­legte Wirtschafts­reformen an. Anlass für diesen Schritt war der Ölpreisverfall von 2014, der sich 2015 bereits dramatisch auswirkte. Damals zeig­ten sich zum wie­der­holten Male die Folgen der enormen Ab­hängigkeit des Landes vom Öl, denn als der Preis für das Barrel Rohöl im Jahresmittel auf rund 50 Dollar fiel, stieg das saudi-arabi­sche Haushaltsdefizit 2015 auf fast 100 Milliarden Dollar. Daher drohten die in der Hochpreisphase von 2005 bis 2014 angehäuften Reserven rasch zu schmelzen. Die Wirtschaftskrise von 2015 zwang die Regierung, viele öffentliche Aufträge zum Stillstand zu bringen, die Mehrwertsteuer einzuführen und Subventionen abzubauen.

Die tieferliegende Ursache für die Reformen war jedoch die Einsicht, dass die Abhängigkeit vom Öl vor dem Hintergrund des anhaltend hohen Bevölkerungswachstums immer mehr zum Problem wurde. Konnte das Königreich Niedrigpreisphasen in der Vergangenheit gut verkraften, weil seine Bevölkerungszahl niedrig war, gilt dies heute nicht mehr. Mittlerweile zählt Saudi-Arabien über 34 Millionen Einwohner, und bei einem Bevölkerungswachstum von jährlich zwei Prozent wird diese Zahl weiter rasch steigen. Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt, und die jungen Leute drängen jedes Jahr mit hohen Er­wartungen in einen stagnierenden Arbeits­markt. Schätzungen zufolge liegt die Arbeitslosigkeit in dieser Alterskohorte bei bis zu 30 Prozent. Hinzu kommt, dass das Öl seine Rolle als wichtigster Energieträger schon in wenigen Jahrzehnten verlieren dürfte, was die Einnahmen aus dem Res­sourcenexport versiegen ließe. Ohne weit­reichende Wirt­schafts- und Sozialreformen stände Saudi-Arabien in dem Fall fast ohne Einkünfte da.

»Vision 2030« sollte die Abhängigkeit vom Öl reduzieren. Ausgangspunkt der Reform sollte die Teilprivatisierung des staatlichen Ölkonzerns Aramco werden, bis heute die bedeutendste Ölfirma der Welt. Der zunächst erwartete Erlös von mehr als 100 Milliarden Dollar sollte in den Public Investment Fund (PIF) fließen, der etwa die Hälfte der neuen Einnahmen im Ausland investieren würde, um Dividenden zu erwirtschaften. Die andere Hälfte sollte für den industriellen Umbau des Königreichs und die Förderung der Privatwirtschaft bereitgestellt werden. Auf diese Weise, so versprach Bin Salman, werde er über eine Mil­lion Arbeitsplätze für Saudis im Privat­sektor schaffen. Die »Saudisierung« des Wirtschaftslebens war dem Kronprinzen besonders wichtig, weil die etwa 10 Mil­lio­nen Arbeitskräfte in der Privatwirtschaft zu 80 Prozent Ausländer sind, die einen Großteil ihrer Löhne in ihre Heimatländer transferieren. Die meisten Staatsbürger be­vorzugen den öffentlichen Sektor als Betäti­gungsfeld, denn er ist mit Ab­stand wich­tig­ster Arbeit­geber im Land und lockte – zumindest vor der Ära des Kron­prinzen – mit hohen Gehältern und gerin­gem Arbeits­aufwand.

Der saudi-arabische Staatsfonds PIF wurde zum Motor der Entwicklung aus­erkoren. Folgerichtig übernahm der Kron­prinz schon im Frühjahr 2015 die Kontrolle über die Institution und installierte loyale Gefolgsleute, angeführt von Yasir al-Rumayyan, der zum Direktor des PIF und 2019 auch zum Vorsitzenden von Aramco avancierte. Zuvor sehr kon­servativ ge­führt, soll der Fonds künftig die sau­dischen Pro­jekte von »Vision 2030« leiten, neue Indus­trien grün­den und Geld international in­vestieren. Mit einem Anlagevermögen von 320 Milliarden Dollar wurde er sofort welt­weit aktiv und gab als Ziel aus, das Vermö­gen bis zum Jahr 2030 auf zwei Billionen Dollar zu steigern. Zwar wurde der Ölkonzern Aramco bei seinem Börsengang im Dezember 2019 zum größten börsennotierten Unternehmen der Welt, doch wurde das Vorhaben aufgegeben, Aramco an die New Yorker Börse zu bringen, so dass man auf Riad ausweichen musste. Es fanden sich nur wenige ausländische Investoren, weil die Einnahmen von Aramco seit 2014 zurückgegangen waren. Viele befürchten, dass der Klimawandel die Nachfrage nach Öl und Gas bald drücken wird. Zudem hat ein iranischer An­griff auf die saudischen Ölanlagen von Abqaiq und Khurais im Sep­tember 2019 Zweifel an der Sicherheit am Persischen Golf geweckt.

Unter Bin Salman investierte der Staatsfonds in bis dahin ungekanntem Ausmaß in Unterhaltung, Tourismus und Energie. Das Leuchtturmprojekt des neuen Saudi-Arabien sollte die futuristische Retortenstadt Neom werden, die auf der saudi-ara­bischen Seite am Südende des Golfs von Aqaba errichtet werden und den Planungen zufolge 500 Milliarden Dollar kosten soll. Die Stadt soll ihren Energiebedarf ausschließlich aus Sonnen- und Windenergie beziehen, Dienstleistungen von Robotern anbieten und in einem angeschlossenen Technologiepark die wirtschaftliche Diver­sifizierung des Landes vorantreiben. Bin Salman hofft in Neom das künftige wirt­schaftliche Kraftzentrum Saudi-Arabiens aufzubauen. Die saudi-arabische Regierung folgt mit diesem Vorhaben und ihrem Reformprojekt dem Beispiel der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Dort hat sich Dubai innerhalb nur weniger Jahr­zehnte als Handels- und Finanzzentrum des Nahen Ostens etabliert. Vielleicht noch wichtiger für Bin Salman ist das Vorbild Abu Dhabi, wo Kronprinz Muhammad Bin Zayid seit Mitte der 2000er Jahre auf eine Diversifizierung der Wirtschaft des ölreichen Emirats setzt und sich zu diesem Zweck mehrerer Staatsfonds bedient.

Als die Covid-19-Krise auch Saudi-Arabien erfasste, wurden Zweifel an diesem Ent­wicklungsmodell immer lauter. Doch das Königreich hält unbeirrt Kurs. Klares An­zeichen dafür ist vor allem, dass der PIF gerade in der Krise Mil­liarden in Beteiligun­gen an internationalen Unterhaltungs-, Tourismus- und Energie­unternehmen und in die Digitalwirtschaft investierte. Dass auch die Megaprojekte von »Vision 2030« weiter­verfolgt werden, lässt sich Äußerungen des Finanzministers entnehmen, der Bau von Neom werde sich aufgrund der Covid-19-Krise lediglich etwas verzögern. Die Am­bitionen des Kronprinzen sind also un­gebrochen, doch ist kaum zu sehen, wo das Geld für Projekte wie Neom künftig her­kommen soll, wenn die Ölpreise nicht auf Dauer steigen. Setzt sich der gegenwärtige Trend über einige Jahre fort, werden die immer noch hohen Devisenreserven schnell aufgebraucht sein.

Ruinöser Krieg im Jemen

Die finanziellen Probleme Saudi-Arabiens gehen auch auf die aggressive Regional­politik des Kronprinzen zurück, die sich allerdings schon vor seinem Aufstieg ab­zeichnete. Seit 2011/12 hat sich der Konflikt zwischen dem Königreich und Iran dra­ma­tisch verschärft und Züge eines regio­nalen »Kalten Krieges« angenommen. Die Führung in Riad stellte sich der iranischen Expansion zunächst in Syrien und an­schließend im Jemen entgegen, weil sie eine Einkreisung befürchtete und glaubte, einen iranischen Anspruch auf Hegemonie im Nahen Osten kontern zu müssen. Seit 2015 ist der Jemen zum wichtigsten Austragungsort des Kon­flikts zwischen den beiden Regionalmächten geworden. Die für Saudi-Arabien enorm hohen Kosten entpuppten sich seit Frühjahr 2020 erstmals als Problem.

Zu Beginn ihrer Jemen-Intervention im März 2015 schien die saudi-arabische Regie­rung keine genaue Vorstellung zu haben, wie lange der Krieg dauern würde. Erklärtes Ziel war es, die Huthi-Rebellen, die im Sep­tember 2014 die Macht in Sanaa übernommen hatten und im Frühjahr 2015 auch in Aden standen, aus der Hauptstadt zu ver­treiben und die international an­erkannte Regierung von Präsident Abdrabbuh Man­sur Hadi wieder einzusetzen. Da es der Koali­tion mit Saudi-Arabien an der Spitze von vornherein an Bodentruppen fehlte, entstand trotz ihrer waffentechnischen Überlegenheit ein Patt, das bis 2018 anhielt. Erst als Saudi-Arabien, die VAE sowie jeme­nitische Einheiten und Milizen eine ge­mein­­same Offensive auf die Hafenstadt Hudaida an der Westküste des Jemen starteten, schöpfte Riad Hoff­nung auf ein siegreiches Ende des Krieges. Über Hudaida läuft die Versorgung des nord­jemenitischen Hochlands. Deshalb glaubten die Verbündeten, nach Ein­nahme der Stadt die Huthis zu Verhandlungen und idealerweise zum Rück­zug aus Sanaa zwingen zu können. Dass dies nicht gelang, lag in erster Linie am Druck des US-Kon­gresses, der nach dem Mord an dem saudi-arabischen Jour­nalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 auf ein Ende des Krieges und eine Verhandlungs­lösung drängte. Ende des Jahres brachen Saudi-Arabien und die VAE den Angriff ab, nach­dem sie schon Teile der Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

Die Lage verschlechterte sich aus saudi-arabischer Sicht, weil die VAE im Juli 2019 einen raschen Rückzug aus dem Jemen ankündigten. Offenbar sah die Führung in Abu Dhabi keine Möglichkeit mehr, die Huthis zu schlagen. Außerdem setzte sie im Konflikt mit Iran auf Entspannung, nach­dem die Situation seit Frühjahr 2019 drama­tisch eskaliert war. Für die VAE besonders gefährlich waren Attacken mit Haftminen auf Öltanker im Golf von Oman nahe der emiratischen Küste im Mai und Juni. Nur Iran kam als Urheber in Frage, und die Angriffe sollten der Führung in Abu Dhabi offensichtlich demonstrieren, wie verwund­bar die Ölexporte der VAE waren. Das Kalkül ging auf, und der Rückzug aus dem Jemen wurde zum ersten Signal in Rich­tung Teheran, dass die Emirate ihre Politik änderten und fortan um Entspannung bemüht waren.

Für Saudi-Arabien war die Kehrtwende der VAE besonders gefährlich, weil die Huthis schon seit 2017 saudi-arabisches Territorium bis hin nach Riad mit Raketen angriffen und den Beschuss ab Frühjahr 2019 intensivierten. Mit Drohnen und Marschflugkörpern, die der Iran geliefert hatte, attackierten die Huthis im Juni den Flughafen von Abha im Südwesten des Königreichs. Im August traf es ein Ölfeld nahe der emiratischen Grenze. Die Vorfälle führten allen vor Augen, dass die Huthis sich zu einer Bedrohung für die Sicherheit Saudi-Arabiens entwickelt hatten und Ziele weit jenseits der jemenitischen Grenze treffen konnten. Nun steckte die saudi-arabische Führung in einem Dilemma: Mit dem Rückzug der VAE schwand jede Hoff­nung auf einen Sieg. Es wäre einer schweren Nieder­lage gleichgekommen, hätte Riad den Konflikt in der Situation von 2019 beendet. In den Vorjahren hatte die saudi­sche Füh­rung gebetsmühlenartig wiederholt, dass es ihr darum gehe, die Entstehung einer »jemenitischen His­bollah« an ihrer Südgrenze zu verhindern. Gemeint war eine gegnerische Organisation unter iranischem Einfluss, die wie die libanesische Gruppierung gegenüber Israel in der Lage war, ihren mächtigen Nachbarn mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen zu bedrohen. Nach mehr als vier Jahren Krieg hatten sich die Huthis aber zu genau solch einer Organisation entwickelt. Für den Fall, dass Saudi-Arabien den Krieg nicht beendete, drohten die Angriffe auf Saudi-Ara­bien schwere Schäden an Ölanlagen und in den großen Bevölkerungszentren anzu­richten, ohne dass das saudi-arabische Mili­tär über wirksame Gegenmittel verfügte.

Deshalb begann die saudi-arabische Füh­rung mit den Huthis im November 2019 in Oman indirekte Ge­spräche, die während der Corona-Krise fortgesetzt wurden. Ab Frühjahr 2020 wurden auch die hohen Kosten des Krieges zum Problem. In den Jahren zuvor hatte Saudi-Arabien kein Inter­esse an einer schnellen Beendigung des Konflikts gezeigt. Offenbar glaubte die Füh­rung in Riad bis 2019, auch eine längere militärische Auseinandersetzung finan­­zieren zu können. Dabei waren die Auf­wendungen des Königreichs für den Jemen-Krieg gewaltig: Schätzun­gen zufolge handel­te es sich um jährlich 60 Milliar­den Dollar und mehr. Dies musste das Kosten-Nutzen-Kal­kül des Kronprinzen in der Krise beein­flussen. Die Zahl der saudi-arabischen Luft­angriffe ging zwar schon 2019 deutlich zurück, doch eine Lösung des Konflikts zeichnete sich nicht ab. Bis Juni 2020 war unklar, ob die Krise den Kronprinzen zu einer neuen, zurückhaltenderen Sicherheits­politik zwingen würde. Nachrichten über unvermindert fortgesetzte Waffen­käufe in den USA sprachen dagegen.

Kontinuität unmöglich

Die ersten Reaktionen der saudi-arabischen Führung auf die Covid-19-Krise weisen dar­auf hin, dass Riad, soweit irgend möglich, auf Kontinuität setzt. Der Kronprinz führt sein wirtschaftliches Reformprogramm ebenso fort wie die aggressive Regionalpolitik, die in erster Linie gegen Iran gerichtet ist, aber im Jemen-Krieg ihren sichtbarsten Ausdruck findet. Die ersten Maßnahmen, etwa die Verschiebung von Projekten im Kontext von »Vision 2030«, und etliche Berichte über stornierte Aufträge im Bau­sektor zeigen, dass die Regierung bereit ist, das Tempo der Veränderungen zu redu­zieren. Auf der anderen Seite belegen die zahl­reichen Investitionen, dass Riad die Diversifizierung weiter vorantreibt, auch wenn die Kosten angesichts wachsender Schulden und schwindender Reserven sehr hoch erschei­nen. Ähnlich ambivalent ist das Bild in der Sicherheitspolitik. Einerseits sind die Jemen-Verhand­lungen ein Indiz dafür, dass der Kronprinz Entspannungs­politik gegenüber den Huthis und Iran be­treibt. Andererseits lassen die fort­gesetzten Käufe von Waffen und Munition vermuten, dass Bin Salman die Sicherheit des König­reichs dauerhaft bedroht sieht.

Die Absage der Pilgerfahrt Ende Juli 2020 dürfte aber auch den optimistischsten Pla­nern in Riad verdeutlichen, dass die Wirt­schafts- und Finanzkrise des Königreichs die Regierung zwingen wird, Prioritäten zu setzen. Der religiöse Tourismus ist nach dem Öl die wichtigste Einnahmequelle des Königreichs. Endet der Jemen-Krieg nicht bald, wird zu wenig Geld für »Vision 2030« verfügbar sein. Allerdings steht zu erwar­ten, dass Saudi-Arabien auch nach einem Ende der Kämpfe seine Aufrüstung der letzten Jahre fortsetzt. Dafür spricht schon die Tatsache, dass Iran mit seinen Angriffen auf die saudische Ölinfrastruktur im Sep­tember 2019 öffentlich gemacht hat, wie ver­wundbar das Königreich ist. Aus diesen Gründen dürfte Saudi-Arabien in den näch­sten Jahren hohe Haushalts­defizite erzeu­gen, so dass auch seine Reser­ven schnell aufgebraucht sein könnten.

In der Krise erweist sich, dass die Reformen des Kronprinzen zu spät kommen und zu einseitig auf staatlicher Intervention beruhen. Schon seit den 1980er Jahren war bekannt, dass die Öleinnahmen allein nicht aus­reichen würden, um genug Arbeitsplätze für die damals noch schneller als heute wachsende Bevölkerung Saudi-Arabiens zu schaffen. In der Hochpreisphase von 2005 bis 2014 waren die Anreize für Reformen zu gering, doch die strukturellen Pro­bleme verschärften sich, da die Bevölke­rungs­zahl sich weiter erhöhte. Erst Bin Sal­mans Auf­stieg und der Verfall des Ölpreises 2015 er­möglichten zielgerichtete Veränderungen. Doch der Handlungsspielraum war wesent­lich kleiner als zu früheren Zeiten, weil das Bevölkerungswachstum anhielt und die seit 2011 schwe­lenden Krisen in der Region viel Geld koste­ten – zum Beispiel Unter­stützungszahlungen für bedrängte Verbün­dete wie Ägypten, Marokko, Jordanien und Bahrain oder der Krieg im Jemen. Überdies konzentrierte sich Bin Salman zu sehr auf staatliche Inter­ventionen. Wie in den VAE wollte er mit Milliardeninvestitionen einen Privatsektor schaffen, der un­abhängig von Öleinnahmen ist. Das mag in den VAE ansatzweise gelungen sein, doch die Diver­sifizierung dort begann Jahrzehnte früher, und die Be­völkerungszahl ist weitaus gerin­ger, näm­lich knapp 10 Mil­lionen, davon rund eine Million Staats­bürger. Die ökono­mischen Folgen der Covid-19-Krise offen­baren, dass für den anvisierten wirtschaft­lichen Umbau Saudi-Arabiens (mit seinen 34 Mil­lionen Einwohnern, darunter etwa 26 Millio­nen Staatsbürger) das Geld wahr­scheinlich nicht reichen wird.

Ob die wirtschaftlichen Probleme des Jahres 2020 die Stabilität des Landes be­ein­trächtigen, lässt sich hingegen noch nicht absehen. In Phasen niedriger Ölpreise wäh­rend der 1980er und 1990er Jahre entwickel­­te sich in Saudi-Arabien eine starke islami­stische Opposition. Auch jetzt ist damit zu rechnen, dass viele Saudis mit Unmut auf die hohe Arbeitslosigkeit und die Kürzung von Subventionen reagieren. Doch seit dem Aufstieg Bin Salmans ist der Spielraum für Opposition stark geschrumpft. Der Kron­prinz forciert rück­sichtslose Repression, so dass es kaum mehr möglich ist, abweichende Meinungen öffentlich zu äußern. Er hat auch die alleinige Kontrolle über alle Sicher­heitskräfte, so dass ein Staats­streich unwahrscheinlich ist – es gibt zumindest keine Anzeichen für Unzufriedenheit in deren Reihen. Gefahr für das Regime droht nur dann, wenn Bin Salman als zentraler Akteur ausfällt. Faktisch hat er sich zum Allein­herrscher aufgeschwungen und wird König werden, sobald sein Vater stirbt oder den Thron freiwillig aufgibt. Die Onkel und Cousins des Kronprinzen sind mit dieser Situation alles andere als einverstanden, spielen seit 2017 aber keine politische Rolle mehr – weil sie ihre Ämter verloren haben und teils sogar unter Hausarrest stehen.

Auch für Deutschland ist die Wirtschafts­krise in Saudi-Arabien ein Problem. Nicht nur ist das Land neben den Vereinigten Arabischen Emiraten der wichtigste Export­markt im Nahen Osten. Es ist außer­dem die mit Abstand wichtigste Führungsmacht der arabischen Welt, ohne die eine Lösung vieler regionaler und globaler Pro­bleme nicht möglich ist – man denke nur an die Energie- und Klimapolitik, die Be­kämpfung des islamistischen Terrorismus und den israelisch-palästinensischen Kon­flikt. Die aggressive Außenpolitik des Kronprinzen zwischen 2015 und 2019 mag eine Zusam­menarbeit erschwert haben. Doch dies ändert nichts daran, dass das Land prowest­lich orientiert und ein Partner Deutschlands ist.

Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364