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Russland und die VN-Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit«

Wie die Bundesregierung die Umsetzung der Agenda in Russland und in Konflikten mit russischer Beteiligung fördern kann

SWP-Aktuell 2019/A 68, 28.11.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A68

Forschungsgebiete

Am 29. Oktober 2019 fand im VN-Sicherheitsrat die jährliche offene Debatte über die VN-Agenda 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit statt. Ziel der Agenda ist es unter anderem, Frauen an Friedens- und Sicherheitsmaßnahmen stärker zu beteiligen, ihre Rechte zu schützen und ihre Sichtweisen systematisch in die Bearbeitung von Konflik­ten einzubeziehen. Die Russische Föderation, ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, hat sich als 1325-Skeptikerin erwiesen. Dabei ist sie in viele internationale Konflikte involviert; folglich gäbe es zahlreiche Anknüpfungspunkte, die Agenda umzusetzen. Deutschland stehen Möglichkeiten offen, die Implementierung in Russland zu unter­stützen und so den geschlechtsspezifischen negativen Auswirkungen der Konflikte entgegenzuwirken, an denen der Kreml beteiligt ist.

Die Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit« wurde mit Verabschiedung der Sicherheits­ratsresolution 1325 am 31. Oktober 2000 ins Leben gerufen. Sie stützt sich auf vier Säulen: (1) Beteiligung von Frauen an Maß­nahmen, die Frieden und Sicherheit för­dern, (2) Konfliktprävention durch Einbezie­hung geschlechtsspezifischer Sichtweisen, (3) Schutz der Rechte von Frauen in Konflik­ten sowie (4) Bereitstellung geschlechts­spezifischer Nothilfe und Wiederaufbau-Maßnahmen. An Resolution 1325 schließen sich neun Folgeresolutionen an, die ein­zelne Aspekte vertiefen und gemeinsam als Agenda 1325 bezeichnet werden.

VN-Resolution 1325 gilt als Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung geschlechtsspezifischer Auswirkungen von Konflikten insbesondere auf Frauen und Mädchen. Während Männer an militärischen Aus­einandersetzungen stärker beteiligt sind und daher einen Großteil der Todesopfer ausmachen, sind Frauen insbesondere von indirekten Konfliktfolgen betroffen. In Kon­flikten sinkt ihre Lebenserwartung im Durch­schnitt stärker als jene von Männern, weil Frauen in höherem Maße in ihren wirtschaftlichen und sozialen Rechten beschnit­ten sowie Flucht, Vertreibung und konflikt­bezogener sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Untersuchungen zeigen zudem, dass Friedensprozesse unter bestimmten Bedin­gungen nachhaltigere Ergebnisse haben kön­nen, wenn Frauen daran beteiligt werden.

Implementiert wird die Agenda nicht nur auf VN-Ebene. Bislang haben 83 Länder nationale Aktionspläne (NAPs) verabschiedet. Deutschland setzt bereits seinen zwei­ten NAP um und bereitet sich auf den dritten vor; die Agenda bildet auch einen Schwerpunkt Deutschlands während seiner Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat. Neben Staaten haben auch Regionalorganisationen wie die Europäische Union und subnationale Entitäten wie etwa Gemeinden Aktionspläne verabschiedet. Die Umsetzung der Agenda in den verschiedenen Staaten variiert stark; oft mangelt es an nachhaltiger Finanzierung und hochrangiger politischer Unterstützung.

Russische Position zur Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit«

Auf der einen Seite betonen russische Ver­treterinnen und Vertreter bei den VN im­mer wieder, dass sie ausgewählte Anliegen der Agenda grundsätzlich unterstützen, etwa die Bekämpfung sexualisierter Kriegs­gewalt und die Anerkennung von Frauen in der Friedensarbeit. Andererseits hat Russ­land sich in den vergangenen Jahren viel­fach als Kritiker der Agenda positioniert. Die von Deutschland im April 2019 ein­gebrachte Resolution 2467 wurde nicht einstimmig angenommen, das war das erste Mal bei einer Resolution der Agenda 1325. Russland und China enthielten sich und hatten zuvor sogar eine Gegenresolution eingebracht. Bei der Verabschiedung von Resolution 2493 im Oktober 2019 war die Einigkeit formell zwar wiederhergestellt – gleichzeitig aber machte der Kreml nach Annahme der Resolution einige Punkte kritisch geltend, die er bereits in der Ver­gangenheit immer wieder moniert hatte. Zwei Positionen treten dabei besonders hervor: die Ablehnung von Menschen­rechtsthemen bzw. ihrer Behandlung im VN-Sicherheits­rat sowie das Primat des Nationalstaats.

Menschenrechte als Reizthema. Immer wieder hat der Kreml sich in den letzten Jahren für eine enge Fokussierung der Agenda 1325 ausgesprochen. Die für die Anliegen der Agenda international enga­gierte Zivilgesellschaft und Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Schweden betonen, dass es bei der Umsetzung der Agenda nötig ist, auch die gesellschaft­lichen Ursachen sexualisierter Gewalt und der geringeren Beteiligung von Frauen an Friedens- und Sicherheitsmaßnahmen zu bekämpfen – beispielsweise diskriminierende Geschlechterverhältnisse sowie Ge­schlechterstereotypen. Dagegen argumen­tiert der Kreml, dass breitere Diskussionen über die Gleichstellung und über Frauen­rechte im Sicherheitsrat von der ursprünglichen Linie der Agenda 1325 abweichen. Seiner Auffassung nach sollten Menschenrechtsangelegenheiten ohnehin nicht im Sicherheitsrat behandelt werden, sondern in spezialisierten VN-Gremien. Diese Argu­mentation spiegelt die russische Innen­politik wider, in der Menschenrechte miss­achtet und zivilgesellschaftliche Organisa­tionen zurückgedrängt und unterdrückt werden.

Primat des Nationalstaats. Ein weiterer Faktor für die russische Ablehnung einer starken Agenda 1325 ist das Primat des Nationalstaats. Dabei geht es auch darum, den Aufbau weiterer Kompetenzen auf in­ternationaler Ebene möglichst zu verhindern. Während der Verhandlungen zur Resolution 2467 im April wirkte der Kreml daran mit, dass im Resolutionstext die Er­wähnung von Plänen gestrichen wurde, eine Arbeitsgruppe zu sexualisierter Gewalt und zu Rechten von Überlebenden einzurich­ten. Der russische VN-Botschafter begrün­dete die Ablehnung unter anderem mit dem Hinweis, die Agenda werde genutzt, um Kompetenzen von VN-Akteuren aus­zuweiten. Schon 2015 hatte der Kreml den Plan kritisiert, die inzwischen eingerichtete informelle Expertengruppe zu 1325 ein­zusetzen. Die Einrichtung neuer Gremien, so der Einwand, würde die Effektivität des Sicherheitsrats nicht verbessern. In der Debatte im Oktober bezeichnete der stell­vertretende russische VN-Botschafter das Gremium als politisiert.

Umsetzung der Agenda 1325 in Russland

Angesichts ihrer international vertretenen Haltung ist wenig verwunderlich, dass die russische Regierung die Umsetzung der Agenda im Inland kaum vorantreibt. Sie hat weder einen NAP verabschiedet noch gesonderte Berichte über damit verbundene Aktivitäten veröffentlicht. Im Women Peace and Security Index 2019/20 belegt Russland Platz 51. Auf der »Women, Peace and Secu­rity«-Scorecard 2010–2016 schneidet das Land schlechter ab als jedes andere ständige Mitglied des VN-Sicher­heitsrats. Es wird unter anderem kritisiert, die Bedeutung der Teilhabe von Frauen in der Friedensarbeit zu ignorieren, keinen NAP verabschiedet, seine Militärausgaben erhöht und den Raum für Aktivitäten von Frauen- und sol­chen Organisationen eingeschränkt zu haben, die sich für Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans-, Queer- und intersexuellen Personen (LGBTQI) einsetzen.

Auch in Russlands aktuellem Bericht zum Stand der Umsetzung der Frauenrechts­konvention (CEDAW) und im Bericht an die VN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) finden sich kaum Referenzen zur Agenda 1325, lediglich einige Angaben zu Veranstaltungen wie dem Eurasischen Frauenforum und zum Anteil von Frauen im diplomatischen Dienst. Auf geschlechter­responsiven Umgang mit Flucht und Migra­tion gehen die Berichte gar nicht ein, ob­wohl nach offiziellen Angaben mindestens die Hälfte der rund eine Million aus der Ukraine nach Russland Geflüchteten Frauen sind. Hier scheint die Agenda somit nicht explizit berücksichtigt zu werden. Dabei sind gerade Frauen auf der Flucht besonderen Gefahren ausgesetzt: So werden geflüch­tete Frauen häufiger Opfer von häuslicher Gewalt, wenn Männer ihren Status als Ver­sorger verlieren und ein soziales Netzwerk fehlt; gleichzeitig können sie insbesondere in schwierigen finanziellen Lagen sexuell ausgebeutet werden. Systematische Daten zu sozialen Problemen und Gewalt im Um­feld der nach Russland geflüchteten Ukrai­nerinnen und Ukrainer liegen nicht vor; allerdings gibt es auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihre Situation von jener der Frauen in anderen Konflikten abweicht.

Russlands hybride Kriegsführung ist mit weiteren Herausforderungen verbunden. So sieht sich der Kreml laut seinem CEDAW-Bericht beispielsweise nicht in der Verantwortung, die Rechte und den Schutz der Frauen in den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu gewährleisten, da er den Konflikt als »innerukrainisch« betrachtet. Eine ähnliche Problematik besteht in ande­ren Konfliktgebieten der Region. Im UNECE-Bericht suggeriert der Kreml, dass Russland nicht in bewaffnete Konflikte involviert sei. Darum müsse es auch nicht auf Fragen ein­gehen, die Maßnahmen betreffen, welche die Rechenschaftspflicht bei Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Frauenrechte in Konflikten verbessern sollen. Abschließend lässt sich feststellen, dass der Kreml die Agenda 1325 im Inland und im Kontext seiner Beteiligung an Konflikten weitestgehend ignoriert.

Die Rolle der russischen Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft spielt üblicherweise eine große Rolle bei der Weiterentwicklung und Umsetzung der Agenda. Angesichts der amtlichen russischen 1325-Skepsis wäre ihr Engagement besonders wichtig. Tatsächlich gibt es in Russland jedoch nur wenige Orga­nisationen, die sich die Anliegen der Agenda zu eigen machen – insofern wiegt die Un­terdrückung dieser Organisationen beson­ders schwer. Zwei der bekanntesten sind die Union der Donfrauen sowie die Solda­ten­mütter von Sankt Petersburg. Walentina Tscherewatenko, Vorsitzende der Don­frauen, wurde strafrechtlich verfolgt, weil sie versucht habe, die Registrierungs­vorschrif­ten des Gesetzes über »auslän­dische Agenten« zu umgehen. Sie selbst vermutete ebenso wie unter anderem die anerkannte zivilgesellschaftliche Organi­sation Memorial, dass es sich dabei um poli­tische Verfolgung handelte, die sich gegen ihr Engagement für die Lösung des Kon­flikts in der Ukraine richtete. Nach einer breiten Bekundung nationaler und inter­nationaler Solidarität, auch durch die Bun­desregierung, wurde die Anklage gegen sie schließlich fallengelassen. Die Arbeit der Soldatenmütter wurde durch die repressive Gesetzgebung zur Zivilgesellschaft ebenfalls eingeschränkt. Zwischen 2014 und 2015 waren die Soldatenmütter als »ausländischer Agent« registriert. Ungeachtet dessen nutzen sie weiterhin strategisch ihre Rolle als Mütter, um auf vermeintliche Miss­stände im Militär aufmerksam zu machen: Im Jahr 2015 stellten sie fest, dass russische Wehrdienstleistende unter Vorwänden gezwungen wurden, Arbeitsverträge zu unterzeichnen, die es ermöglichten, sie offi­ziell zu »Übungen« in die Region Rostow zu schicken – die an die ukrainischen Kon­fliktgebiete grenzt.

Möglichkeiten für deutsches Engagement

Im NAP 2017–2020 bekräftigt die Bundes­regierung ihre Absicht, sowohl bi- als auch multilateral für die Umsetzung der Agenda 1325 einzutreten. Zivilgesellschaftliche Akteure fordern zumeist, dass die Agenda umfassend im feministischen Sinne um­gesetzt werden solle, womit dominante Praktiken von Sicherheits- und Militär­politik insgesamt hinterfragt würden. In Russland ist dies weder in Zusammenarbeit mit dem Kreml noch mit der Zivilgesellschaft realistisch. Immerhin könnte die Bundesregierung sich auf die grundsätz­liche Zustimmung des Kremls zu ausgewähl­ten Anliegen der Agenda beziehen und sich auf diese Weise »pragmatisch« für die (Teil-) Umsetzung der Agenda in Russland und in Konflikten mit russischer Beteiligung starkmachen.

Bilateral hat Deutschland in der Vergangenheit in besonderem Maße zur Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte in Konfliktgebieten sowie zur Stärkung von Akteurinnen beigetragen, die sich für Frauen und Mädchen einsetzen – auch, um der Ein­engung der Handlungsspielräume für die Zivilgesellschaft entgegenzuwirken. So könnte die Bundesregierung über ihre Aus­landsvertretungen auch intensiver mit Vertretern und Vertreterinnen der russi­schen Zivilgesellschaft zu Themen der Agenda 1325 zusammenarbeiten; zum Bei­spiel bei Flucht und Migration, Friedens­erziehung und dem Abbau von Geschlechter­stereotypen. Wegen der restriktiven Gesetzgebung ist eine direkte Förderung russischer Organisationen schwerlich mög­lich. Zumindest bestünde für deutsche In­stitutionen aber die Option, russische Nicht­regierungsorganisationen und Aktivistin­nen verstärkt nach Deutschland oder zu internationalen Foren einzuladen und so ihre Einbindung in internationale 1325-Netzwerke zu unterstützen.

Multilateral könnte die Bundesregierung sich beispielsweise auf den Gender-Aktions­plan der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beziehen, welche sich darin zur Stärkung der Beteili­gung von Frauen in Friedensprozessen be­kennt, und die Idee fördern, ein Mediatorinnennetzwerk im OSZE-Raum einzurichten. Darüber hinaus sollten Entscheidungs­trägerinnen und Entscheidungsträger sich dafür engagieren, dass Partizipation von Frauen und deren Schutz auf die Agenda kommen, wenn über Konflikte mit russi­scher Beteiligung auf internationalem Parkett diskutiert wird. In vielen Konflikt­bearbeitungsforen, bei denen Russland ein zentraler Akteur ist – etwa die trilaterale Kontaktgruppe zur Ukraine oder die Genfer Gespräche zu Georgien –, sind Frauen kaum vertreten. Wo immer möglich sollten sich deutsche Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger dafür einsetzen, dass Frauen und Frauenorganisationen einen Platz am Verhandlungstisch erhal­ten – oder, wenn das misslingt, sich dafür starkmachen, dass ihre Positionen in Ver­handlungen mit einfließen.

Sonja Schiffers ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364