Am 29. Oktober 2019 fand im VN-Sicherheitsrat die jährliche offene Debatte über die VN-Agenda 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit statt. Ziel der Agenda ist es unter anderem, Frauen an Friedens- und Sicherheitsmaßnahmen stärker zu beteiligen, ihre Rechte zu schützen und ihre Sichtweisen systematisch in die Bearbeitung von Konflikten einzubeziehen. Die Russische Föderation, ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, hat sich als 1325-Skeptikerin erwiesen. Dabei ist sie in viele internationale Konflikte involviert; folglich gäbe es zahlreiche Anknüpfungspunkte, die Agenda umzusetzen. Deutschland stehen Möglichkeiten offen, die Implementierung in Russland zu unterstützen und so den geschlechtsspezifischen negativen Auswirkungen der Konflikte entgegenzuwirken, an denen der Kreml beteiligt ist.
Die Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit« wurde mit Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1325 am 31. Oktober 2000 ins Leben gerufen. Sie stützt sich auf vier Säulen: (1) Beteiligung von Frauen an Maßnahmen, die Frieden und Sicherheit fördern, (2) Konfliktprävention durch Einbeziehung geschlechtsspezifischer Sichtweisen, (3) Schutz der Rechte von Frauen in Konflikten sowie (4) Bereitstellung geschlechtsspezifischer Nothilfe und Wiederaufbau-Maßnahmen. An Resolution 1325 schließen sich neun Folgeresolutionen an, die einzelne Aspekte vertiefen und gemeinsam als Agenda 1325 bezeichnet werden.
VN-Resolution 1325 gilt als Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung geschlechtsspezifischer Auswirkungen von Konflikten insbesondere auf Frauen und Mädchen. Während Männer an militärischen Auseinandersetzungen stärker beteiligt sind und daher einen Großteil der Todesopfer ausmachen, sind Frauen insbesondere von indirekten Konfliktfolgen betroffen. In Konflikten sinkt ihre Lebenserwartung im Durchschnitt stärker als jene von Männern, weil Frauen in höherem Maße in ihren wirtschaftlichen und sozialen Rechten beschnitten sowie Flucht, Vertreibung und konfliktbezogener sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Untersuchungen zeigen zudem, dass Friedensprozesse unter bestimmten Bedingungen nachhaltigere Ergebnisse haben können, wenn Frauen daran beteiligt werden.
Implementiert wird die Agenda nicht nur auf VN-Ebene. Bislang haben 83 Länder nationale Aktionspläne (NAPs) verabschiedet. Deutschland setzt bereits seinen zweiten NAP um und bereitet sich auf den dritten vor; die Agenda bildet auch einen Schwerpunkt Deutschlands während seiner Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat. Neben Staaten haben auch Regionalorganisationen wie die Europäische Union und subnationale Entitäten wie etwa Gemeinden Aktionspläne verabschiedet. Die Umsetzung der Agenda in den verschiedenen Staaten variiert stark; oft mangelt es an nachhaltiger Finanzierung und hochrangiger politischer Unterstützung.
Russische Position zur Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit«
Auf der einen Seite betonen russische Vertreterinnen und Vertreter bei den VN immer wieder, dass sie ausgewählte Anliegen der Agenda grundsätzlich unterstützen, etwa die Bekämpfung sexualisierter Kriegsgewalt und die Anerkennung von Frauen in der Friedensarbeit. Andererseits hat Russland sich in den vergangenen Jahren vielfach als Kritiker der Agenda positioniert. Die von Deutschland im April 2019 eingebrachte Resolution 2467 wurde nicht einstimmig angenommen, das war das erste Mal bei einer Resolution der Agenda 1325. Russland und China enthielten sich und hatten zuvor sogar eine Gegenresolution eingebracht. Bei der Verabschiedung von Resolution 2493 im Oktober 2019 war die Einigkeit formell zwar wiederhergestellt – gleichzeitig aber machte der Kreml nach Annahme der Resolution einige Punkte kritisch geltend, die er bereits in der Vergangenheit immer wieder moniert hatte. Zwei Positionen treten dabei besonders hervor: die Ablehnung von Menschenrechtsthemen bzw. ihrer Behandlung im VN-Sicherheitsrat sowie das Primat des Nationalstaats.
Menschenrechte als Reizthema. Immer wieder hat der Kreml sich in den letzten Jahren für eine enge Fokussierung der Agenda 1325 ausgesprochen. Die für die Anliegen der Agenda international engagierte Zivilgesellschaft und Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Schweden betonen, dass es bei der Umsetzung der Agenda nötig ist, auch die gesellschaftlichen Ursachen sexualisierter Gewalt und der geringeren Beteiligung von Frauen an Friedens- und Sicherheitsmaßnahmen zu bekämpfen – beispielsweise diskriminierende Geschlechterverhältnisse sowie Geschlechterstereotypen. Dagegen argumentiert der Kreml, dass breitere Diskussionen über die Gleichstellung und über Frauenrechte im Sicherheitsrat von der ursprünglichen Linie der Agenda 1325 abweichen. Seiner Auffassung nach sollten Menschenrechtsangelegenheiten ohnehin nicht im Sicherheitsrat behandelt werden, sondern in spezialisierten VN-Gremien. Diese Argumentation spiegelt die russische Innenpolitik wider, in der Menschenrechte missachtet und zivilgesellschaftliche Organisationen zurückgedrängt und unterdrückt werden.
Primat des Nationalstaats. Ein weiterer Faktor für die russische Ablehnung einer starken Agenda 1325 ist das Primat des Nationalstaats. Dabei geht es auch darum, den Aufbau weiterer Kompetenzen auf internationaler Ebene möglichst zu verhindern. Während der Verhandlungen zur Resolution 2467 im April wirkte der Kreml daran mit, dass im Resolutionstext die Erwähnung von Plänen gestrichen wurde, eine Arbeitsgruppe zu sexualisierter Gewalt und zu Rechten von Überlebenden einzurichten. Der russische VN-Botschafter begründete die Ablehnung unter anderem mit dem Hinweis, die Agenda werde genutzt, um Kompetenzen von VN-Akteuren auszuweiten. Schon 2015 hatte der Kreml den Plan kritisiert, die inzwischen eingerichtete informelle Expertengruppe zu 1325 einzusetzen. Die Einrichtung neuer Gremien, so der Einwand, würde die Effektivität des Sicherheitsrats nicht verbessern. In der Debatte im Oktober bezeichnete der stellvertretende russische VN-Botschafter das Gremium als politisiert.
Umsetzung der Agenda 1325 in Russland
Angesichts ihrer international vertretenen Haltung ist wenig verwunderlich, dass die russische Regierung die Umsetzung der Agenda im Inland kaum vorantreibt. Sie hat weder einen NAP verabschiedet noch gesonderte Berichte über damit verbundene Aktivitäten veröffentlicht. Im Women Peace and Security Index 2019/20 belegt Russland Platz 51. Auf der »Women, Peace and Security«-Scorecard 2010–2016 schneidet das Land schlechter ab als jedes andere ständige Mitglied des VN-Sicherheitsrats. Es wird unter anderem kritisiert, die Bedeutung der Teilhabe von Frauen in der Friedensarbeit zu ignorieren, keinen NAP verabschiedet, seine Militärausgaben erhöht und den Raum für Aktivitäten von Frauen- und solchen Organisationen eingeschränkt zu haben, die sich für Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans-, Queer- und intersexuellen Personen (LGBTQI) einsetzen.
Auch in Russlands aktuellem Bericht zum Stand der Umsetzung der Frauenrechtskonvention (CEDAW) und im Bericht an die VN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) finden sich kaum Referenzen zur Agenda 1325, lediglich einige Angaben zu Veranstaltungen wie dem Eurasischen Frauenforum und zum Anteil von Frauen im diplomatischen Dienst. Auf geschlechterresponsiven Umgang mit Flucht und Migration gehen die Berichte gar nicht ein, obwohl nach offiziellen Angaben mindestens die Hälfte der rund eine Million aus der Ukraine nach Russland Geflüchteten Frauen sind. Hier scheint die Agenda somit nicht explizit berücksichtigt zu werden. Dabei sind gerade Frauen auf der Flucht besonderen Gefahren ausgesetzt: So werden geflüchtete Frauen häufiger Opfer von häuslicher Gewalt, wenn Männer ihren Status als Versorger verlieren und ein soziales Netzwerk fehlt; gleichzeitig können sie insbesondere in schwierigen finanziellen Lagen sexuell ausgebeutet werden. Systematische Daten zu sozialen Problemen und Gewalt im Umfeld der nach Russland geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer liegen nicht vor; allerdings gibt es auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihre Situation von jener der Frauen in anderen Konflikten abweicht.
Russlands hybride Kriegsführung ist mit weiteren Herausforderungen verbunden. So sieht sich der Kreml laut seinem CEDAW-Bericht beispielsweise nicht in der Verantwortung, die Rechte und den Schutz der Frauen in den »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu gewährleisten, da er den Konflikt als »innerukrainisch« betrachtet. Eine ähnliche Problematik besteht in anderen Konfliktgebieten der Region. Im UNECE-Bericht suggeriert der Kreml, dass Russland nicht in bewaffnete Konflikte involviert sei. Darum müsse es auch nicht auf Fragen eingehen, die Maßnahmen betreffen, welche die Rechenschaftspflicht bei Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Frauenrechte in Konflikten verbessern sollen. Abschließend lässt sich feststellen, dass der Kreml die Agenda 1325 im Inland und im Kontext seiner Beteiligung an Konflikten weitestgehend ignoriert.
Die Rolle der russischen Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft spielt üblicherweise eine große Rolle bei der Weiterentwicklung und Umsetzung der Agenda. Angesichts der amtlichen russischen 1325-Skepsis wäre ihr Engagement besonders wichtig. Tatsächlich gibt es in Russland jedoch nur wenige Organisationen, die sich die Anliegen der Agenda zu eigen machen – insofern wiegt die Unterdrückung dieser Organisationen besonders schwer. Zwei der bekanntesten sind die Union der Donfrauen sowie die Soldatenmütter von Sankt Petersburg. Walentina Tscherewatenko, Vorsitzende der Donfrauen, wurde strafrechtlich verfolgt, weil sie versucht habe, die Registrierungsvorschriften des Gesetzes über »ausländische Agenten« zu umgehen. Sie selbst vermutete ebenso wie unter anderem die anerkannte zivilgesellschaftliche Organisation Memorial, dass es sich dabei um politische Verfolgung handelte, die sich gegen ihr Engagement für die Lösung des Konflikts in der Ukraine richtete. Nach einer breiten Bekundung nationaler und internationaler Solidarität, auch durch die Bundesregierung, wurde die Anklage gegen sie schließlich fallengelassen. Die Arbeit der Soldatenmütter wurde durch die repressive Gesetzgebung zur Zivilgesellschaft ebenfalls eingeschränkt. Zwischen 2014 und 2015 waren die Soldatenmütter als »ausländischer Agent« registriert. Ungeachtet dessen nutzen sie weiterhin strategisch ihre Rolle als Mütter, um auf vermeintliche Missstände im Militär aufmerksam zu machen: Im Jahr 2015 stellten sie fest, dass russische Wehrdienstleistende unter Vorwänden gezwungen wurden, Arbeitsverträge zu unterzeichnen, die es ermöglichten, sie offiziell zu »Übungen« in die Region Rostow zu schicken – die an die ukrainischen Konfliktgebiete grenzt.
Möglichkeiten für deutsches Engagement
Im NAP 2017–2020 bekräftigt die Bundesregierung ihre Absicht, sowohl bi- als auch multilateral für die Umsetzung der Agenda 1325 einzutreten. Zivilgesellschaftliche Akteure fordern zumeist, dass die Agenda umfassend im feministischen Sinne umgesetzt werden solle, womit dominante Praktiken von Sicherheits- und Militärpolitik insgesamt hinterfragt würden. In Russland ist dies weder in Zusammenarbeit mit dem Kreml noch mit der Zivilgesellschaft realistisch. Immerhin könnte die Bundesregierung sich auf die grundsätzliche Zustimmung des Kremls zu ausgewählten Anliegen der Agenda beziehen und sich auf diese Weise »pragmatisch« für die (Teil-) Umsetzung der Agenda in Russland und in Konflikten mit russischer Beteiligung starkmachen.
Bilateral hat Deutschland in der Vergangenheit in besonderem Maße zur Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte in Konfliktgebieten sowie zur Stärkung von Akteurinnen beigetragen, die sich für Frauen und Mädchen einsetzen – auch, um der Einengung der Handlungsspielräume für die Zivilgesellschaft entgegenzuwirken. So könnte die Bundesregierung über ihre Auslandsvertretungen auch intensiver mit Vertretern und Vertreterinnen der russischen Zivilgesellschaft zu Themen der Agenda 1325 zusammenarbeiten; zum Beispiel bei Flucht und Migration, Friedenserziehung und dem Abbau von Geschlechterstereotypen. Wegen der restriktiven Gesetzgebung ist eine direkte Förderung russischer Organisationen schwerlich möglich. Zumindest bestünde für deutsche Institutionen aber die Option, russische Nichtregierungsorganisationen und Aktivistinnen verstärkt nach Deutschland oder zu internationalen Foren einzuladen und so ihre Einbindung in internationale 1325-Netzwerke zu unterstützen.
Multilateral könnte die Bundesregierung sich beispielsweise auf den Gender-Aktionsplan der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beziehen, welche sich darin zur Stärkung der Beteiligung von Frauen in Friedensprozessen bekennt, und die Idee fördern, ein Mediatorinnennetzwerk im OSZE-Raum einzurichten. Darüber hinaus sollten Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sich dafür engagieren, dass Partizipation von Frauen und deren Schutz auf die Agenda kommen, wenn über Konflikte mit russischer Beteiligung auf internationalem Parkett diskutiert wird. In vielen Konfliktbearbeitungsforen, bei denen Russland ein zentraler Akteur ist – etwa die trilaterale Kontaktgruppe zur Ukraine oder die Genfer Gespräche zu Georgien –, sind Frauen kaum vertreten. Wo immer möglich sollten sich deutsche Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger dafür einsetzen, dass Frauen und Frauenorganisationen einen Platz am Verhandlungstisch erhalten – oder, wenn das misslingt, sich dafür starkmachen, dass ihre Positionen in Verhandlungen mit einfließen.
Sonja Schiffers ist Gastwissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A68