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Neue Gefahr für den Open-Skies-Vertrag: Nach den USA will auch Russland aussteigen

Kurz gesagt, 19.01.2021 Forschungsgebiete

Nach den USA kündigt nun auch Russland seinen Ausstieg aus dem Vertrag über den Offenen Himmel an. Dies würde die Sicherheitsarchitektur Europas weiter destabilisieren. Nur ein Engagement auf höchster politischer Ebene könnte Russland noch zum Einlenken bewegen, meint Wolfgang Richter.

Am 15. Januar 2021 hat das russische Außenministerium die Absicht bekanntgegeben, den Vertrag über den Offenen Himmel (OHV) zu verlassen. Sobald die Kündigung formell zugestellt wird, verbleiben sechs Monate, bis der Austritt wirksam wird. Russland folgt damit den USA, die unter der Trump-Administration am 22. November 2020 aus dem OHV ausgetreten sind.

Der Vertrag erlaubt gemeinsam geplante und ausgeführte Beobachtungsflüge über den Hoheitsgebieten der 33 Vertragsstaaten im OSZE-Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Er bezweckt, die Einhaltung von Rüstungskontrollvereinbarungen zu verifizieren und die Transparenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten zu gewährleisten.

Mit dem Austritt Russlands hätte der OHV seinen strategischen Zweck verloren. Die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur, die schon lange erodiert, würde eines ihrer letzten Instrumente verlieren, die direkte militärische Kontakte und Vertrauensbildung ermöglichen und für Stabilität in Europa sorgen können.

Die Trump-Administration hat den Austritt der USA aus dem OHV mit russischen Implementierungsdefiziten begründet. Moskau habe unzulässige Flugstreckenbegrenzungen über Kaliningrad und in einem schmalen Streifen an den Grenzen Georgiens vorgenommen. Doch hatten auch die USA russische Flüge über Alaska und den pazifischen Inseln eingeschränkt. Zwar teilten die Nato-Verbündeten die Bedenken Washingtons, machten jedoch keinen substantiellen Vertragsbruch geltend. Die Bemühungen Deutschlands, Frankreichs und anderer Alliierter, die USA im OHV zu halten, blieben erfolglos.

In Russland konkurrieren zwei Interessengruppen

Auf das europäische Interesse, den Vertrag weiterhin gemeinsam mit Russland zu implementieren, hat Moskau ambivalent reagiert. Dort konkurrieren quer durch Außenministerium, Generalstab, Akademie der Wissenschaften und Duma zwei Interessengruppen. Die eine beansprucht für Russland, stets auf strategischer Augenhöhe mit den USA zu agieren und keine ungleichen Verträge zu tolerieren. Denn die Nato-Verbündeten könnten bis zu 42 Beobachtungsflüge pro Jahr über Russland durchführen, während es selbst nicht über den USA fliegen dürfe. Die andere Gruppe will den OHV weiter implementieren und sich auf die Sicherheitskooperation mit Europa konzentrieren. Dafür sollten zwei Bedingungen erfüllt werden:

Erstens müssten die anderen Vertragsstaaten russische Beobachtungsflüge ohne Einschränkungen, also auch über europäischen US-Militärbasen, zulassen. Zweitens sollten sie zusichern, keine Erkenntnisse aus den Beobachtungsflügen über Russland an die verbündeten USA weiterzugeben.

Beide Forderungen hat Russland bei zwei OHV-Konferenzen im Juli und Oktober 2020 sowie bei der Flugquotenverteilung für das Jahr 2021 mit Nachdruck vertreten. Die Vertragspartner haben dem inhaltlich nicht widersprochen, unterstrichen aber zutreffend, dass dies schon aus dem Vertragstext und den Folgebeschlüssen der OH-Beratungskommission (OSCC) hervorgehe. Gleichwohl bekannten sich alle 33 Vertragsstaaten dazu, den OHV weiter zu implementieren.

Doch am 11. Dezember 2020 leitete die russische Delegation der OSCC einen Beschlussentwurf zu, der den bisherigen Wortlaut der OSCC-Entscheidung zum Schutz sensibler Daten revidieren soll. Es solle erklärt werden, dass unter keinen Umständen Daten an Nichtvertragsstaaten weitergegeben werden dürfen, die bei OH-Flügen gewonnen werden. Dies hätte zur Folge, dass auch die bisher zulässigen Ausnahmen – etwa im Rahmen des Krisenmanagements auf Anforderung internationaler Organisationen – aufgehoben würden. Die Absicht der zuständigen OSCC-Arbeitsgruppe, den Entwurf routinemäßig am 25. Januar 2021 zu behandeln, wertete Moskau als unzureichende Reaktion der Vertragspartner. Am 22. Dezember 2020 forderte das russische Außenministerium die anderen Vertragsstaaten ultimativ auf, dem russischen Entscheidungsvorschlag bis zum 1. Januar 2021 zuzustimmen und entsprechende rechtsverbindliche Zusicherungen zu geben. Anderenfalls müsse Russland die Vertragskündigung einleiten.

Europäer für Klärung im Rahmen üblicher Verfahren

In einer gemeinsamen Antwort vom 30. Dezember erklärten die Außenminister von 16 Vertragsstaaten, darunter Deutschland und Frankreich, dass sie den OHV in vollem Umfang implementieren und offene Fragen in den zuständigen Arbeitsgruppen lösen wollen. Zudem verwiesen sie darauf, dass das russische Interesse bereits durch den Vertragstext und die relevanten OSCC-Beschlüsse gewahrt sei. Demnach sind Ausnahmen für die Datenweitergabe nur dann zulässig, wenn Beobachtungsflüge besonderen internationalen Zwecken dienen und vorher im Konsens vereinbart werden. Doch boten sie an, das russische Anliegen auf einem vorgezogenen Treffen im Januar zu diskutieren. Ein Ultimatum lehnten sie allerdings ab.

Eine einvernehmliche politische Erklärung wäre noch immer möglich. In Moskau hat sich jedoch offenbar das Lager durchgesetzt, das der politischen »Augenhöhe« mit den USA mehr Bedeutung beimisst als der Sicherheitskooperation mit den Europäern. Sie scheint Europa nicht als eigenständige politische und militärische Größe wahrzunehmen, sondern nur als Profiteur der militärischen Macht der USA. Russland begibt sich somit der Chance, sich als Rüstungskontrollmacht zu präsentieren, von der US-Politik unter Präsident Trump abzusetzen und unter Beweis zu stellen, dass die Sicherheitskooperation mit Europa in diesem Segment auch ohne die USA funktionieren kann. Damit brüskiert Moskau diejenigen in Europa, die für Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung eintreten, und verschärft ihre Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit Russland.

Der künftige US-Präsidenten Joe Biden wird sich durch die jüngste Moskauer Volte nicht beeindrucken lassen. Denn der Wiedereintritt in den OHV hat für ihn weder Priorität, noch dürfte er im Senat die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit erzielen. Dass Moskau kurz vor seiner Amtsübernahme die Atmosphäre trübt, bevor Biden seine erklärte Absicht umsetzen kann, zur Sicherheitskooperation und Rüstungskontrolle zurückzukehren, ist unklug. Denn zumindest die Verlängerung des Vertrags über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen (New START), der anderenfalls am 5. Februar 2021 ausläuft, liegt auch im Interesse Moskaus.

Die abrupte Abkehr vom OHV hat der russische Präsident bereits in seiner Erklärung vom 17. Dezember angedeutet. Eine Revision dieser Entscheidung kann daher nicht mehr durch Routineverfahren auf der Arbeitsebene erreicht werden, sondern nur durch das Engagement auf höchster Regierungsebene. Dies verlangt vor allem deutschen und französischen Führungswillen.