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Modis Indien

Die Bharatiya Janata Party erringt ein klares Mandat für eine zweite Amtszeit

SWP-Aktuell 2019/A 33, 06.06.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A33

Forschungsgebiete

Erwartungsgemäß hat die Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi die Parlamentswahl gewonnen, die im April und Mai 2019 in Indien abge­halten wurde. Nicht erwartet wurde aber, dass die BJP ihre absolute Mehrheit noch ausbauen würde. Dieser deutliche Erfolg ist in erster Linie der Person des Premierministers zu verdanken. Modi hat damit ein klares Mandat für ein »neues Indien«, das künftig wohl stärker von den Werten der hinduistischen Mehrheit geprägt sein wird. Die damit verbundenen innenpolitischen Auseinandersetzungen könnten auch zur Herausforderung für die Grundlagen der indischen Demokratie werden.

Wahlen in Indien halten oft Über­raschun­gen bereit. 2014 hätte niemand für mög­lich gehalten, dass die BJP eine eigene absolute Mehrheit der Sitze erzielt. Ebenso unwahrscheinlich schien es, dass sie diesen Erfolg 2019 sogar noch übertreffen würde.

Nach Ansicht vieler Experten hatte die erste Regierung Modi nur eine gemischte Bilanz vorzuweisen. Einem Wirtschaftswachstum von 6–7 Prozent und niedri­ger Infla­tion standen hohe Arbeits­losigkeit und Pro­bleme im ländlichen Raum gegen­über. Die gesellschaft­liche Pola­risierung hatte sich verschärft. Von 2014 bis 2017 hatten religiös motivierte Ausschreitun­gen um 28 Prozent zugenommen.

Die BJP stellte ihren Wahlkampf ganz auf die Person des Premierministers ab. Modi konzentrierte sich weniger auf wirtschaft­liche Erfolge, sondern eher auf nationalistische Themen. Nach dem Terroranschlag in Kaschmir und den Luftschlägen gegen Paki­stan im Früh­jahr 2019 präsentierte sich Modi als starker Füh­rer, der ent­schlossen gegen Terrorismus vorgeht. Durch seinen Aufstieg vom Teeverkäufer zum Regierungschef verkör­pert er für viele einen Neuanfang jenseits der althergebrachten Partei­en und Dyna­stien, der Korruption und Kasten­zugehörigkeit. So gaben 32 Pro­zent der BJP-Anhänger an, dass sie nicht für die Partei gestimmt hätten, wäre Modi nicht Premier­minister.

Der Erfolg der BJP

Bei der Wahl 2019 gewann die BJP 303 Sitze, 21 mehr als fünf Jahre zuvor; die von ihr geführte National Democratic Alliance (NDA) errang 352. Dagegen konnte die Kon­gresspartei nur 52 Mandate für sich ver­buchen, ihr Wahlbündnis United Progres­sive Alliance (UPA) holte 91 Sitze.

Partei

Anzahl
Sitze

Bharatiya Janata Party (BJP)

303

Indian National Congress (INC)

52

Dravida Munnetra Kazhagam (DMK)

23

Yuvajana Sramika Rythu Congress Party (YSR)

22

All India Trinamool Congress (AITC)

22

Shivsena (SS)

18

Janata Dal (United)

16

Biju Janata Dal (BJD)

12

Bahujan Samaj Party (BSP)

10

Telangana Rashtra Samithi (TRS)

9

Samajwadi Party (SP)

5

Andere Parteien und unabhängige Kandidaten

50

Gesamt

542*

* Die Gesamtzahl der Sitze liegt bei 543. In einem Wahlkreis wurde die Wahl verschoben.

Die Wahl zeichnete sich durch eine Reihe von Rekorden aus. So erreichte die Wahl­beteiligung einen Spitzenwert von über 67 Prozent. Der Frauenanteil im neuen Par­la­ment ist so hoch wie nie, auch wenn er nur 14,4 Prozent beträgt. Andere Rekorde sind weniger erfreulich. Es war die bislang teuer­ste Wahl, und die BJP profitierte über­durch­schnittlich von der neuen Wahlkampf­finan­zierung. Das neue Parlament wird das reich­ste der Ge­schichte sein. Wäh­rend das Durchschnittseinkommen in Indien unter 10 000 Rupien im Monat (2018) liegt, besit­zen 88 Prozent der Abgeordneten ein Ver­mögen von mehr als 10 Millionen Rupien. Auch hat sich die Kriminalisierung der Poli­tik fortgesetzt. 29 Prozent der Abgeordneten werden schwerer Verbrechen beschuldigt, wie Mord, Vergewaltigung und Ent­führung.

Der Erfolg der BJP 2019 ist vielleicht eine stärkere Zäsur in der politischen Entwicklung Indiens als ihr Wahlsieg 2014. Mit der Wiederholung dieses Erfolgs hat sich die BJP endgültig als wich­tigste nationale Partei etabliert.

So dominiert sie erneut in den bevölkerungsreichen nordindischen Bundes­staaten. Dies erstaunte umso mehr, als sie bei Land­tagswahlen im Dezember 2018 dort drei Bundesstaaten verloren hatte. Zudem hat sie ihren Vormarsch in andere Landesteile fortgesetzt und in wichtigen Bundesstaaten im Osten wie Westbengalen und Odisha Sitze dazugewonnen. Nur im Süden, in Andhra Pra­desh, Tamil Nadu und Kerala, ist die BJP bislang nicht vertreten. Überdies hat sie ihren Stim­menanteil von 31 Prozent (2014) auf über 37 Prozent (2019) ausgebaut. Die von ihr angeführte NDA erzielte insgesamt 45 Prozent.

Für die Kongresspartei ist das Wahl­ergebnis ähnlich niederschmetternd wie fünf Jahre zuvor. Sie gewann nur sieben Sitze mehr als 2014. Dieses Debakel hat eine Dis­kussion über die Zukunft ihres Vorsitzenden Rahul Gandhi entfacht, dem es nicht gelang, die Partei organisatorisch und inhaltlich neu aufzustellen. Sein Kontrahent, BJP-Chef Amit Shah, hat hingegen regionale Allian­zen geschmiedet und nicht gezögert, BJP-Abgeordnete gegen Kandi­daten mit besse­ren Wahlaussichten aus­zutauschen.

Auch die anderen Oppositionsparteien hatten Modi und der BJP nichts entgegenzusetzen. Das Wahlbündnis der Kasten­parteien Bahujan Samaj Party (BSP) und Samaj­wadi Party (SP) in Uttar Pradesh, wo 80 Parla­mentssitze vergeben wurden, konn­te die Dominanz der BJP im größten Bun­des­staat nicht brechen. Die etablierten kom­munistischen Parteien gewannen zu­sammen nur fünf Sitze und werden damit auf natio­naler Ebene weitgehend bedeutungslos sein. Starke Regionalparteien wie DMK, YSR oder AITC haben auf Bundes­ebene nur wenig Gewicht.

Die Wahl 2019 hat auch die Gewiss­heiten vieler Experten erschüttert. So waren wirtschaftliche Aspekte wie Arbeits­losigkeit offenbar nicht ausschlaggebend für die Wahlentscheidung. Zudem hatten Themen wie Säkularismus und Minderheitenschutz keine Chance gegen das selbstbewusste hindu-nationalis­tische Narrativ und die starke Führungs­persönlichkeit Modi. Der große Stimmen­zuwachs der BJP legt nahe, dass ihr Narrativ auch jenseits politisch relevanter Kastenidentitäten Anklang im Wahlvolk gefunden hat.

Das neue Indien

Modis Indien könnte allerdings eine ideolo­gische und institutionelle Herausforderung für die indische Demokratie bilden. Die Wahl wurde auch als Entscheidung über die »Seele Indiens« stilisiert, die nach dem Erfolg der BJP künftig wohl stärker im Sinne der Hindu-Mehrheit definiert wird.

Ideologischer Taktgeber im Hintergrund ist das Nationale Freiwilligenkorps (Rash­triya Swayamsevak Sangh, RSS), dem auch Modi entstammt. Der RSS vertritt das Kon­zept »Hindutva«, dem zufolge die Werte der Hindu-Mehrheit das poli­tische System be­stimmen sollen. Diese religiöse Konno­tation schlug sich im Wahlprogramm der BJP nie­der, etwa in Forderungen nach dem Bau eines Tempels in der Stadt Ayodhya, nach der Ein­füh­rung eines ein­heitlichen Zivil­rechts sowie nach der Abschaffung der ver­fassungs­recht­lichen Sonder­stellung von Jammu und Kasch­mir. Zudem bildet der RSS das orga­nisatorische Rück­grat der BJP und ist damit maß­geblich für ihren Wahl­erfolg verantwortlich.

Der erfolgreiche Populismus des Regierungschefs folgt bekannten Strategien. Seit 2014 gibt es eine starke Zentralisierung der Macht auf das Büro des Premier­minis­ters. Modi unter­hält einen direkten Draht zu hohen Büro­kraten in den Ministerien. Seine erste Presse­konferenz überhaupt be­suchte er am Ende seiner ersten Amtszeit, be­antwortete dort aber keine Fragen. Statt­dessen setzt er auf unmittelbare Kommu­nikation mit seinen Anhängern, sei es über Radio, Twit­ter, seine eigene App oder ande­re soziale Medien. Modi pflegt zudem einen Anti-Eliten-Diskurs, der sich nicht nur gegen die Gandhi-Dynastie der Kongress­partei richtet, sondern zunehmend auch gegen Delhis elitäre Zirkel.

Mit der neuen Machtfülle wird wohl auch die Aushöhlung staatlicher Institutionen fortschreiten, die seit 2014 zu beobachten ist. Die einst als unabhängig angesehene Wahl­kommission zog in der Wahl 2019 viel Kritik auf sich, weil sie Verstöße von Regie­rungsmitgliedern gegen den Wahlkodex oft spät oder nur milde tadelte. Gegenstand politischer Auseinandersetzungen waren auch schon die Zentralbank, die Bundes­polizei- und die Statis­tikbehörde.

Setzt sich der Siegeszug der BJP auf Lan­desebene fort, könnte sie 2021 auch eine Mehrheit im Oberhaus erreichen, dessen Zusammensetzung von den Landesregierungen bestimmt wird. Dann wäre der Weg für tiefgreifende Verfassungsänderungen frei, zum Beispiel im Hinblick auf den Säkularismus, also die religiöse Neutralität des Staates in Indien. Spätestens an die­sem Punkt könnte es zu Konflikten mit dem Obersten Gericht kommen. Eine Kontro­verse könnte aber auch schon früher ein­setzen, sollte die Regierung Modi erneut versuchen, das Ver­fahren der Besetzung von Richterposten zu ändern.

Alte und neue politische Herausforderungen

Modis neues Mantra »Unterstützung, Ent­wicklung, Vertrauen für alle« und sein Appell für ein »inklusives Indien« sollen die Angst religiöser Minderheiten vor einer Dominanz der Hindus mildern. Neben den Themen Zivilrecht, Ayodhya und Kaschmir gibt es noch andere Bereiche, in denen die BJP einen Wandel will. Der neue Innen­minister, BJP-Par­teichef Amit Shah, hatte im Wahlkampf Einwanderer aus Bangladesch als »Termiten« bezeichnet und an­ge­kündigt, ein natio­nales Bürgerregister ein­zurichten. Ein solches Register war 2018 bereits in Assam eingeführt worden, um gegen illegal eingewanderte Muslime aus Bangladesch vorzugehen. Die Regierung könnte auch versuchen, über ihre natio­nalen Sozial­programme mehr Einfluss auf die Bundesstaaten zu erhalten.

Wirtschaftspolitisch steht die Regierung altbekannten Herausforderungen gegenüber. Trotz des hohen Wirtschaftswachstums werden seit Jahren zu wenig Arbeitsplätze geschaffen. Die 2014 von Modi ins Leben gerufene Initiative »Make in India« hat zwar in der Verteidigungsindustrie einige Erfolge gebracht, doch hat sich der Anteil des verarbeitenden Sektors am Bruttosozialprodukt bislang nicht entscheidend vergrößert. Mit ihrer neuen Mehrheit könnte die Regierung verzögerte Reformvorhaben wieder angehen, etwa den Land­erwerb für Unternehmen oder die Arbeitsgesetzgebung. Auch die neue Regierung wird die Exportförderung vorantreiben, wo­bei für Indien vor allem Dienstleistungen und nicht Güter im Vor­dergrund stehen.

Allerdings befürwortet der RSS traditionell eher eine protektionistische Wirtschafts­politik. So hat die Regierung Modi seit 2014 kein Freihandelsabkommen unterschrieben. Der wachsende internationale Trend zu mehr Protektionismus kommt dem RSS daher gelegen.

Der neue Außenminister Subrahmanyam Jaishankar, einst Staatssekretär im Außen­ministerium, steht wie Modi für eine stärke­re internationale Rolle Indiens. Die strate­gische Partnerschaft mit den USA ist durch bilaterale Handelsstreitig­kei­ten sowie Washingtons Sanktionen gegen Russland und Iran belas­tet, die wichtige Partner Indiens sind. Zwar kooperieren die USA und Indien mit Australien und Japan in der Quadrilateralen Initiative (Quad), haben aber eine un­terschiedliche Sicht auf das geostrategische Konzept des Indopazifik. Die USA betrach­ten es als Instrument zur Ein­dämmung Chinas, während Modi eng mit Beijing zusammenarbeiten will.

Beim informellen Gipfeltreffen im Früh­jahr 2018 in Wuhan hat Modi gute persön­liche Beziehungen zum chinesischen Präsi­denten Xi Jinping aufgebaut. Der »Geist von Wuhan«, der auch eine Folge der schwierigen Beziehungen zu den USA ist, hat das Verhältnis zu China nach der Doklam-Krise 2017 deutlich verbessert. So hat China im Mai 2019 nach vielen Jahren endlich zuge­stimmt, Masood Azhar, den Führer der paki­stanischen Ter­rorgruppe Jaish-e-Mohammed, in den Vereinten Nationen auf die Liste »globaler Terroristen« zu setzen. Die Grup­pe hatte im Februar 2019 einen schweren An­schlag in Kaschmir verübt.

Abzuwarten bleibt, ob die neue Regierung unter Modi die Gesprächsofferten aus Pakis­tan annimmt. Bisher ist Indien nicht gewillt, Gespräche zu führen, solange es Ter­roranschläge gibt. Beijings Entscheidung zu Azhar ist zum einen das Signal an Paki­stan, dass China dessen Politik der Unter­stützung für Terroristen nicht mehr duldet. Zum anderen könnte sie Indien mittel­fristig die Chance eröffnen, den Dialog mit Paki­stan wieder aufzunehmen.

Ausblick

Deutschland und Europa werden sich da­rauf einstellen müssen, dass Indien sich in­folge des Wahlergebnisses stärker religiös-nationalistisch ausrichten wird. Modis neue Machtfülle gibt ihm ein starkes Mandat, die indische Demokratie gemäß den Vorstellungen der Hindu-Mehrheit umzugestalten. Damit deuten sich alte und neue innen­politische Konflikte an, etwa über den Säku­larismus, den Schutz von Minderheiten oder das Ver­fahren zur Be­set­zung des Ober­sten Gerichts.

Trotz guter politischer und wirtschaft­licher Beziehungen sowie gemeinsamer außenpolitischer Interessen vor allem im Umgang mit China könnten daher neue Reibungspunkte im Verhältnis Indiens zu Deutschland und Europa entstehen. Diese beträfen zum Bei­spiel die Arbeit west­licher Nichtregierungsorganisationen, die sich für religiöse Min­derheiten einsetzen. Auch die wirtschaft­lichen Bezie­hungen könnten schwie­riger werden, falls nicht die libe­ra­len, sondern die protektionistischen Kräfte mehr Einfluss auf die indische Wirtschaftspolitik gewin­nen.

Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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