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Maghrebinischer Wettstreit um Subsahara-Afrika

Algerien und Tunesien wollen Marokko das Feld nicht allein überlassen

SWP-Aktuell 2020/A 83, 27.10.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A83

Forschungsgebiete

Die Covid‑19-Pandemie hat die Beziehungen zu Subsahara-Afrika weit oben auf die magh­rebinische Agenda gesetzt und damit bestehende Tendenzen verstärkt. Marokko hat unter den Maghreb-Staaten die profilierteste Subsahara-Politik vorzuweisen. Eine Rolle spie­len dabei attraktive Wachstumsmärkte in Afrika, Frustration über den be­schränkten Marktzugang in Europa, die Perspektivlosigkeit der Integration im Magh­reb und der Wunsch, die Westsahara möge als marokkanisch anerkannt werden. Marokkos Subsahara-Politik hat Spannungen mit Algerien verschärft und in Tunesien eigene Ambitionen geweckt. Algier als wichtiger Financier und sicherheitspolitischer Akteur in der Afrikanischen Union (AU) sowie »Schutzmacht« der Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara versucht, Rabat auszubremsen. Tunis dagegen setzt auf Nach­ahmung und erhofft sich von engeren Beziehungen zu Afrika mehr Wirtschafts­wachstum. Die Europäische Union (EU) sollte diese Tendenzen als Chance für afrikanische Integration und tri­anguläre EU-Maghreb-Subsahara-Kooperationen verstehen. Dies könnte Marokkos hegemoniale Ansprüche relativieren, Algeriens Gefühl des Bedeutungsverlusts ent­gegenwirken und Tunesiens Wirtschaft stärken – und damit negative Dynamiken des Wettstreits entschärfen.

Die Afrikapolitiken der Maghreb-Staaten unterscheiden sich maßgeblich in ihrer In­tensität, Sichtbarkeit und Motiva­tion sowie ihren Schwerpunkten. Darüber hin­aus spie­geln sie die generellen innen- und außen­poli­tischen Kapazitäten des betreffenden Staa­tes. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der jewei­ligen Vermarktung der eigenen Afrika­poli­tik.

Die progressivste und dynamischste Afrika­politik der drei Länder betreibt seit geraumer Zeit Ma­rokko. Schon König Hassan II. (1961–1999) hatte die Fühler nach Westafrika ausgestreckt. Aber erst unter der Führung seines Sohns, Mohammed VI. (seit 1999), strebt Marokko danach, wirtschaftlich und diplo­matisch eine Schlüs­sel­rolle auf dem afrika­nischen Konti­nent zu spielen. Mohammed VI. hat die Afrikapolitik zur Chefsache ge­macht und unter­füttert sie mit intensiver Reisediplomatie und stra­tegischen Auftritten, etwa beim 5. AU–EU-Gipfel 2017 in Abidjan. Mit seinem Soft-Power-Ansatz, der eine wirtschafts-, ent­wick­lungs-, migra­tions- und religionspoli­tische Komponente umfasst, konnte Ma­rok­ko in den vergangenen Jahren beachtliche Erfolge erzielen. So wurde das Königreich im Januar 2017 nach 33 Jahren wieder in die AU aufgenommen – gegen den Wider­stand von Schwergewichten wie Süd­afrika und Algerien, unterstützt durch zahlreiche kleinere westafrikanische Staa­ten, aber auch Ruanda. Die Vorgängerorganisation hatte Rabat 1984 aus Protest ver­lassen, da sie die West­sahara aufgenommen hatte.

Vor allem wirtschaftlich hat Marokko im letzten Jahrzehnt seine Präsenz in Sub­sahara-Afrika enorm ausgebaut. Es gehört neben Südafrika, Kenia und Nige­ria zu den größ­ten afrikanischen Investoren auf dem Kon­ti­nent, in Westafrika ist es der größte kon­tinentale Investor. Hier halten marokka­ni­sche Versicherungen, Telekommunikations­firmen und Banken hohe Markt­anteile. Nicht nur nach Westafrika exportiert Ma­rok­ko zudem Agrar- und Erneuerbare-Ener­gien-Technologie. Zunehmend orientiert sich das Land auch nach Ost- und Zentral­afrika, etwa Äthiopien, Ruanda und Kamerun. Seit 2017 verfolgt Rabat überdies den Beitritt zur Wirt­schafts­gemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS), bislang indes erfolglos.

Zentraler Treiber dieser Politik ist das Bestreben, neue Märkte für marokkanische Unternehmen zu eröffnen, darunter ins­besondere solche, die von der Königsfamilie kontrolliert werden. Dabei ist der nach wie vor beschränkte Zugang zum EU-Binnen­markt ebenso von Belang wie die geschlossene Grenze und geringe wirtschaftliche Interaktion mit Algerien. Mindestens gleich wichtig für Marokkos sogenannten »Turn to Africa« ist sein Wunsch, dass sein Anspruch auf die West­sahara anerkannt wird. Eng ver­bunden damit ist das regio­nale Kräftemessen mit Algerien – nicht nur weil Alge­rien als »Schutzmacht« der Polisario, der Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara, auftritt. Vielmehr versuchen beide Staaten, Spiel­räume zu nutzen, die sich neu auf­getan haben, unter anderem durch das Ver­schwin­den des libyschen Herrschers Mu’ammar al-Qadhafi, der in Afrika ent­wicklungs- und sicherheitspolitisch sowie diplomatisch überaus aktiv war.

Irritation beim Nachbarn Algerien

Die marokkanischen Erfolge auf dem Kon­tinent im letzten Jahrzehnt können für Algerien fast schon als traumatisch bezeich­net werden – denn Algerien hat die umge­kehrte Entwicklung durchlaufen. In den ersten Jahrzehnten nach der Unab­hängig­keit (1962) genoss Algerien in weiten Teilen Subsahara-Afrikas hohes Prestige, das es sich durch militärische, logistische und finanzielle Unterstützung antikolo­nialer Bewegungen erarbeitet hatte. Auch die enge entwicklungspolitische Koopera­tion mit jungen Staaten Afrikas und das bedeu­tende Engagement in der Bewegung der Blockfreien Staaten trugen zum alge­rischen Standing auf dem Kontinent bei.

Seit dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren, der mit dem Ende der Ordnung des Kalten Krieges zusammenfiel, ist es Algier nicht mehr gelungen, an die ver­gangene Größe bzw. die Politik der »strate­gischen Tiefe« in Afrika anzuknüpfen. Eine partielle Ausnahme bildet der sicher­heitspolitische Bereich: Hier spielt Algerien innerhalb von AU-Institutionen eine rele­vante Rolle; ferner hat Algier sich teils erfolg­reich als Mediator in afrikanischen Kon­flik­ten ein­ge­bracht. Als weniger ertragreich erwiesen sich wirtschaftliche Vorstöße unter Präsi­dent Abdelaziz Boute­flika (1999–2019), zum Beispiel eine ambi­tio­nierte afrikanische Investitionskonferenz in Algier Ende 2016. Algerien ist zwar Grün­dungs­mitglied des AU-Entwicklungs­programms NEPAD (jetzt AUDA), aber bis­her nicht durch über­mäßi­ges Engagement aufgefallen, obwohl es bis vor wenigen Jahren über erhebliche materielle Ressourcen verfügte.

Was Algeriens Engagement in Afrika seit 2013 be­hinderte, war die stark ange­schla­gene Gesundheit Bouteflikas; sie verunmöglichte dessen Reisediplomatie. Dabei hatte er einst als einer der Architekten der frühen Außenpolitik Alge­riens und der Unterstützung antikolonialer Bewegungen gegolten.

Sein Nachfolger, Abdelmadjid Tebbou­ne, kündigte bei seinem ersten AU-Gipfel im Februar 2020 »Algeriens kraftvolle Rück­kehr nach Afrika« an. Diese dürfte einer­seits in dem Bestreben gründen, Marokko das Feld nicht allein zu überlassen. Ande­rer­seits sind es die von außen an das Land heran­getragenen Sicherheitsherausforderungen, die es nach Süden blicken lassen: die Instabilität in Mali, der Zerfall Libyens, der Migrationsdruck an seinen Südgrenzen und die in Algier misstrauisch beäugte euro­päische und US-Militärpräsenz im Sahel.

Eine konturierte Afrikastrategie ähnlich der marokkanischen ist bislang jedoch nicht erkennbar. Die Perspektiven dafür sind nicht sonderlich gut: Die alge­ri­schen Ent­scheidungsträger sind mit erheb­lichen innen- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen beschäftigt – zu deren Lösung sie bis­her keine Strategie vorlegen konnten.

Aufholbedürfnis in Tunesien

Tunesien schaut seit einigen Jahren eben­falls vermehrt und neidvoll auf die marok­ka­nische Afrikapolitik. Aus Geschäftskreisen, aber auch in Ministerien ist zu hören, Tune­sien könne schließlich vergleichbare oder bessere Expertise anbieten, zum Bei­spiel im IT‑, Immobilien- oder Banken­sektor, bei der technischen Planung großer Infra­strukturprojekte sowie bei Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

Mit dem Ende des Ben-Ali-Regimes 2011 und nach gut zwei Jahrzehnten, in denen Subsahara-Afrika eine geringe Rolle spielte, erwacht Tunesien allmählich aus seinem Dornröschenschlaf. Die 2011 gewählte Über­gangsregierung hat versucht, an das diplo­matische Engagement in Afrika von Präsi­dent Habib Bourguiba (1957–1987) an­zu­knüpfen. Doch geschah dies nur kurz­fristig und wenig strategisch. So konn­te Tunis etwa die Entscheidung der Afrika­nischen Ent­wick­lungsbank (AfDB) von 2013, ihren Sitz nach Abidjan zurückzuverlegen, nicht verhindern.

Dennoch hat sich Tunesien schrittweise wieder stärker Subsahara-Afrika zugewandt. Davon zeugen die Aufnahme, vor­erst als Beobachter, in die ECOWAS 2017 und der Beitritt zum COMESA, dem Gemein­samen Markt Ost- und Südafrikas, 2018. Im Jahr 2017 be­suchte der damalige Premierminister Niger, Mali und Burkina Faso. Der seit Herbst 2020 amtierende neue Pre­mier­minis­ter Hichem Mechichi kün­digte mit Blick auf die afrikanischen Märkte an, wirtschaftliche Diplomatie voranzutreiben.

Letztlich sind es vor allem privatwirtschaft­liche Akteure, die eine deutlichere Aus­richtung auf Afrika forcieren, allen voran der Tunisia–Africa Business Council (TABC). Sie knüpfen Kontakte, organisieren Kon­fe­renzen und betreiben Lobbying, um die für Investitionen und Exporte erforderlichen juristischen und administrativen Rah­men­bedingungen zu schaffen. Dass dies Zeit braucht, liegt an grund­legenden Prob­lemen der jungen Demokratie: einer lang­samen Entscheidungsfindung, einem über­forder­ten Parlament, wenig politischer Kontinuität.

Institutionelles Powerplay

Das selbstbewusste Auftreten Marokkos, die Verteidigung alter Errungenschaften in Alge­rien und das wieder erwachende Inter­esse Tunesiens schlagen sich auch innerhalb der afrikanischen Institutionen und Organisa­tionen nieder. Seit dem Ende des libyschen Diktators Qadhafi 2011 war Alge­rien inner­halb der AU unange­fochten das maghrebinische Schwer­gewicht. Mit seinem Beitritt 2017 erwartet Marokko relevante Positionen und Einfluss in AU-Gremien, ist es doch nun mindestens ähnlich gewichtiger Bei­trags­zahler wie Algerien.

Algerien stellt seit bald zwei Jahr­zehnten den AU-Kommissar für Frieden und Sicher­heit, dem der AU-Friedens- und Sicherheitsrat (PSC) untersteht. In den PSC ist Marokko schon 2018 eingezogen, 2019 hatte es dessen rotierenden Vorsitz inne. In vielen AU-Gre­mien, in denen Rabat prä­sent ist, kommt es zu Tau­ziehen um Formulierungen in Doku­men­ten, die den Westsahara-Konflikt be­treffen (könnten), oder um die Anwesenheit des AU-Mitglieds Republik Sahrawi. Zwar ist es Ma­rok­ko bislang nicht gelungen, die Polisario aus der AU zu verdrängen. Aber Lagerbildun­gen haben sich verstärkt. Ein­fluss­reiche Län­der wie Süd­afrika schlagen sich weiter­hin klar auf die Seite der Polisario, zwölf AU-Mitglieder stützen indes explizit den marokkanischen Anspruch auf die Wes­t­sahara, indem sie seit 2019 im von Marokko besetzten Teil ein Konsulat eröffnet haben.

Algerien beherbergt mit dem Terrorismus­forschungszentrum der AU (ACSRT) eine wich­tige AU-Institution. Nun konnten Marokko und Tunesien nachziehen: Das 2018 neu geschaffene Migrationsobservatorium der AU ist in Rabat ansässig, das statis­tische Büro der AU in Tunis. Auch in für Afrika relevanten Positionen innerhalb der Ver­einten Nationen (VN) gelang Marokko 2020 ein Punktesieg: Es stellt den Vorsitzen­den der unabhängigen Untersuchungskommission für Libyen des VN-Menschen­rechtsrats. Alge­riens Kandidat für den Posten des VN-Sonderbeauftragten für Libyen hin­gegen scheiterte, allem Anschein nach an den USA. Dies wiederum zeigt, wie der Ein­fluss der Maghreb-Staaten in Afrika zuweilen über Bande gespielt wird bzw. auch von der Unterstützung externer Akteure abhängt.

Tauziehen um Sicherheitsallianzen

Negative Effekte der algerisch-marokka­ni­schen Konkurrenz sind insbesondere im Sicherheitsbereich erkennbar. Zwar war Alge­rien durch sein Engagement in Bezug auf den AU-Sicherheitsrat und das ACSRT eine der treibenden Kräfte der Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur (APSA). Aber trotz der erheblichen und ge­teilten Sicher­heitsherausforderungen im Sahel-Sahara-Raum beteiligen sich an keiner der multi­lateralen Sicherheitsinitiativen alle drei Maghreb-Staaten gemeinsam, sieht man von der losen Einbindung in die Trans-Sahara Counterterrorism Partnership der USA ab. Vielmehr versuchen Algerien und Marokko, sich separat zu profilieren.

2010 hat Algier in Tamanrasset mit CEMOC ein Gemeinsames operationelles Generalstabskomitee ins Leben ge­ru­fen, um mit Mali, Mauretanien und Niger Terrorismus im Sahel zu bekämpfen und die Sicher­heits­kapazitäten dieser Staaten aufzu­bauen. Ma­rokko und Tunesien ihrerseits engagieren sich in der noch von Qadhafi gegründeten CEN-SAD, der Gemein­schaft der Sahel-Saha­ra-Staaten, die auch eine Sicherheitsdimension hat. Aber weder CEN-SAD noch CEMOC spielen im Sahel eine bedeutende Rolle. Sichtbarer sind Initia­ti­ven, bei denen exter­ne Akteure involviert sind, wie die G5‑Sahel.

Zwar konnte Algerien im Bereich der Konfliktbeilegung in der Vergangenheit Erfolge verbuchen, etwa mit dem Accord d’Alger für Mali 2015. Doch in jün­gerer Zeit macht Marokko Algerien auch diese Rolle streitig. So wurde 2015 im marokkanischen Skhirat das Abkommen zur Etablierung der VN-gestützten Regierung in Libyen unter­zeichnet. Im Herbst 2020 ver­handel­ten liby­sche Konfliktparteien abermals in Marokko, obwohl sich Algerien, zeit­weise zusammen mit Tunesien, den Libyern wiederholt als Mediator angeboten hatte und bei wich­ti­gen Konfliktparteien An­sehen genießt. Hier zeigt sich einmal mehr die stärkere Strategie- und Handlungsfähigkeit der vom König bestimmten marokkanischen Politik. Selbst in Mali, wo sich Algerien nach dem Coup d’État im August 2020 schnell als Ver­mitt­ler zu positionieren beabsichtigte, er­schien Marokko bald und bot seine Hilfe an.

Tunesien wiederum versucht vor allem, sich beim Peace-Keeping einen Namen zu machen. 2019 nahm das kleinste Land des Maghreb an fünf Missionen der VN in Sub­sahara-Afrika teil, etwa an der MINUSMA in Mali. Marokko war 2019 in drei Missionen engagiert, mit teils großen Kontingenten. Algerien schließ­lich macht im November 2020 mit einer Verfassungsänderung den Weg frei für eine Beteiligung seines Militärs an internatio­nalen Peace-Keeping-Einsät­zen, von denen die Mehrheit in Afrika statt­findet. Dies könnte einen maghrebinischen Überbietungswettbewerb lostreten – mit möglicherweise positiven Effekten.

Ungleicher Wirtschaftswettbewerb

Der Sektor, in dem sowohl Algerien als auch Tunesien am meisten Aufholbedarf haben, ist die Wirtschaft. Nicht nur ist Casa­blanca gemessen am Volumen der größte Finanz-Hub auf dem Kontinent. Beim Han­del mit und den Investitionen in Sub­sahara-Afrika liegt Marokko eindeutig vorn (siehe Graphik).

Die marokkanischen Exporte haben sich zwischen 2005 und 2019 ver­vierfacht. Tune­sien konnte im selben Zeit­raum seine Ex­por­te mehr als verdoppeln. Beide Staaten weisen große Handels­bilanzüberschüsse gegen­über Sub­sahara-Afrika auf. Algerien dagegen impor­tiert deutlich mehr aus Sub­sahara-Afrika, als es dorthin exportiert. Immerhin ist seit eini­gen Jahren sein Export­volumen markant gestie­gen und eine sprung­hafte Zunahme seiner Importe aus dem südlichen Afrika zu ver­zeichnen. Bei­des spricht für wachsende Handelsbeziehun­gen zu einigen Staaten Subsahara-Afrikas.

Am Ungleichgewicht zugunsten Marokkos dürfte auch die 2019 lan­cierte pan­afri­ka­nische Freihandelszone (AfCFTA), an der sich alle drei Maghreb-Staaten beteiligen und die schrittweise in Kraft treten soll, vor­erst kaum etwas ändern. Tunesien und Alge­­rien haben (noch) keine Wirtschaftsstrategie für Subsahara-Afrika. Eine weitere Hürde ist die Abwesenheit von Doppelbesteuerungs­abkommen und Devisenausfuhrbeschränkungen. Algerien hat zudem den Nachteil einer wenig diversifizierten Exportwirtschaft und wenig kompetitiver Dienstleistungen – ob der von einem Minister im Herbst 2020 für den Export vorgeschlagene öffentliche Bausektor eine Ausnahme bildet, ist unklar. Tunesien hat in den vergangenen Jahren mit der Eröff­nung von zwei neuen Bot­schaf­ten und vier Handelsbüros in Afrika immer­hin konkrete Schritte unternommen.

Konnektivität als Schlüssel

Sowohl Algerien als auch Tunesien haben erkannt, dass Marokkos wirtschaftliche Erfolge in Subsahara-Afrika unter anderem in einer vorausschauenden Politik der Kon­nektivität gründen. Als Folge sind neue Flug­linien von Tunesien nach Subsahara-Afrika eingerichtet und ein algerisch-mau­re­tani­scher Grenzübergang geöffnet wor­den. Letz­teres hat Algier als Schritt zur intensiveren Kooperation mit ganz Westafrika gepriesen. Ferner hat Algerien 2020 seinen Teil der Trans­sahara-Autobahn fertiggestellt; sie soll bis nach Nigeria füh­ren, Tunesien ist gleich­falls an sie angeschlossen. Ob diese Route, wenn sie dereinst im Sahel vollendet ist, eine zentrale Verkehrsader sein wird, hängt maßgeblich von der Stabilität und Sicher­heit im Sahel-Sahara-Raum ab.

Marokkos gute Verkehrsverbindungen nach Subsahara-Afrika dürften auf lange Sicht konkurrenzlos bleiben, schon auf­grund der geographischen Lage des Landes. Casablanca ist mit Abstand der größte Flug-Hub im Maghreb, Marokko ist das über Seewege am besten verbundene Land Afri­kas; Tanger Med hat sich – ge­messen am Containerumschlagsvolumen – als größter Hafen Afrikas etabliert, liegt am Atlantik und gleichzeitig nah am Mittelmeer. Die Seewege von Algerien nach Subsahara-Afrika sind lang, die von Tunesien noch länger. Tune­sien hat überdies den Nachteil, dass alle Landwege ent­weder über libysches oder algerisches Terri­torium führen. Das heißt, Exportieren ist ent­weder gefährlich oder angewiesen auf die Koope­rations­bereitschaft Algeriens. Für Tunesiens Export­fähigkeit nach Süden ist der Ausbau des Flugverkehrs und der Häfen unumgänglich, trotz des vergleichsweise langen Seewegs.

Rivalitäten existieren auch mit Blick auf die Energietransport-Infrastruktur. Seit Jahr­zehn­ten gibt es Pläne für eine algerisch-nige­ria­nische Gaspipeline. Konkreter scheint indes ein 2016 von Marokko und Nigeria unter­zeichnetes Abkommen für eine Pipe­line von Nigeria ans Mittelmeer zu sein.

Inwieweit solche Infrastrukturprojekte voranschreiten, hängt nicht zuletzt von der Unterstützung durch nichtafrikanische Staaten ab. Hier kommt insbesondere China ins Spiel, das erkennbar in trilateralen Kooperationen mit Nord- und Subsahara-Afrika denkt. Damit beeinflusst es den maghrebinischen Wettstreit um die Funk­tion als »Tor zu Afrika«. Bislang war Alge­rien sogenannter »umfassender strategischer Partner« Pekings im Maghreb. In jün­gerer Zeit fokus­siert sich China aber ver­stärkt auf Marokko, zum Beispiel als Pro­duk­tionsstätte und Exportbasis von Fahr­zeugen für ganz Afrika. Auch Russ­land, traditionell Partner Alge­riens, zeigt Inter­esse an Marokko für trilate­rale Koope­ra­tionen mit Subsahara-Afrika.

Kampf um die Herzen

Tunesische und algerische Versuche, Ma­rok­ko das Feld bei Soft-Power-Ansätzen nicht allein zu überlassen, sind noch beschei­den – wie an der externen Kom­mu­nikation abzu­lesen ist. So hat Algerien einen Schulden­erlass von über 3 Milliarden US-Dollar für 14 afrikanische Staaten zwischen 2013 und 2018 medial kaum ausgeschlachtet. Rabats Lieferung von Covid‑19-Schutz­ausrüstung »made in Morocco« nach Sub­sahara-Afrika wurde hingegen international viel beachtet.

Aber auch jenseits der Außendarstellung verfolgt Marokkos Subsahara-Strategie einen deut­lich raffinierteren Ansatz. Zum einen findet in Marokko viel mehr Forschung zu Afrika statt; schon 1987 gründete der da­malige König ein Institut für Afrikastudien und eine wachsende Zahl marokkanischer Think-Tanks beschäftigt sich mit Subsahara-Afrika und Marokkos Rolle in Afrika.

Zum andern äußert sich die Strategie in konkreten Politiken. In der Entwicklungs­politik etwa hat Rabat seit längerem einen Süd-Süd-Schwerpunkt, der klassische Ent­wicklungshilfe wie Wasserprojekte umfasst. Hier versucht Algerien nachzuziehen. Im Frühjahr 2020 verkündete der algerische Präsident die Gründung einer Entwicklungs­agentur für Afrika. Die Tunesische Agentur für technische Zusammenarbeit (ATCT) deckt Afrika bisher nur über ein Büro in Maure­tanien ab. Sie erhält in ihren Afrika­aktivitäten aber zunehmend externe Unter­stützung, zum Beispiel von der Deutschen Gesellschaft für Inter­nationale Zusammenarbeit (GIZ) oder der Türkischen Kooperations- und Koordinationsagentur (TİKA).

Auch in der Bildungspolitik steht Marokko konkurrenzlos da. Es zählte 2019 über 17 000 Studierende aus Subsahara-Afrika, wovon circa die Hälfte ein marokkanisches Stipendium hatte. Algerien beherbergt seit 2014 mit deutscher Unterstützung eine Fakultät der Panafrikanischen Universität (PAU), allerdings mit relativ wenig Studen­ten; die offizielle Gesamtzahl afrikanischer Studie­render in Algerien lässt sich nicht eruieren. In Tunesien halbierte sich gar die Zahl der Studierenden aus afrikanischen Ländern von 12 000 (2010) auf 6 500 (2018).

In der Religionsdiplomatie haben die Nach­barstaaten Marokko nichts ent­gegen­zu­setzen. Rabat bildet Imame aus rund zehn afrikanischen Staaten aus. Oftmals nutzt es seine Sufiorden, allen voran die Tidja­niya, die in Westafrika Millionen von Anhängern hat, als Türöffner. Führer der marokkanischen Tidjaniya haben den König und Wirt­schafts­delegationen nach Sub­sahara-Afrika beglei­tet. Ein Besuch des marokkanischen Außen­ministers in Mali nach dem Coup d’État 2020 galt auch dem lokalen Führer der Tidjaniya. Während das Grab des Ordens­gründers im marokkanischen Fez zur Pilger­stätte für Gläubige aus Subsahara-Afrika geworden ist, ist es Algier nicht gelungen, aus dessen Geburtsort in Algerien symbolisches Kapital zu schlagen.

Nicht zuletzt hat Marokko mit seiner Mig­rationspolitik die anderen Maghreb-Staa­ten in den Schatten gestellt. So hat es seit 2014 Zehntausenden irregulären Migrieren­den aus Subsahara-Afrika durch soge­nannte Regularisierung temporäre Aufenthalts­genehmigungen ermöglicht und damit den Zugang zum Arbeitsmarkt, Gesundheits­wesen und Bildungssystem. Selbst wenn diese Politik auf dem Papier überzeugender wirkt als in der Umsetzung, hat sie Marokko Goodwill in Subsahara-Afrika verschafft und lässt Algerien und Tunesien im Ver­gleich dazu weniger gut aussehen. Dabei hat Tunesien ebenfalls einen Meilenstein gesetzt, indem es 2018 als erstes arabisches Land ein Gesetz gegen Rassismus verabschie­dete. Letztlich sind tunesische Maßnahmen genauso wie algerische oft nicht sichtbar genug. Marokko verkauft das, was es tut, einfach besser – nach innen und außen.

Grenzen der Afrikapolitiken

Unabhängig von der Konkurrenz unter­einander stoßen die Afrikaambitionen der Maghreb-Staaten an Grenzen:

Einerseits werden die Afrikapolitiken der Regierungen von den Gesellschaften nicht mitgetragen; Letztere schauen in der Regel eher nach Europa oder in die ara­bische Welt. In Marokko ist die Afrikapolitik das Stecken­pferd des Königs, findet aber in den Parteien kaum Widerhall. Zivilgesellschaftliche Akteu­re beklagen, dass in erster Linie Groß­unternehmer im Dunstkreis der Mon­archie profitierten und in Marokko keine Trickle-down-Effekte des Afrikaengagements fest­zu­stellen seien. Auch in Algerien ist Indif­fe­renz mit Blick auf Sub­sahara-Afrika an der Tagesordnung. Lediglich wenige Eliten aus der Unabhängigkeitsbewegung, zivil­gesell­schaft­liche Akteure und visionäre Unterneh­mer stützen die Afrikapolitik. In Tune­sien pro­pa­gieren primär dynamische privat­wirt­schaft­liche Eliten die Hin­wendung nach Süden.

Andererseits treffen die maghrebinischen Ambitionen auch bei Regierungen und Bevöl­kerungen in Subsahara-Afrika auf Hindernisse. Dabei spielt der im Maghreb verbreitete Rassismus eine Rolle, den die wachsende Migration aus Subsahara-Afrika zutage gefördert hat. Personen aus Sub­sahara-Afrika sehen sich nicht selten Dis­kri­minierung und Gewalt ausgesetzt – selbst von offi­zieller Seite. In Mali und Niger kam es seit 2018 wiederholt zu Demonstrationen gegen die rabiate algerische Abschie­bungs­politik. Die Maghreb-Staaten ris­kie­ren, als Handlanger europäischer Ab­schot­tungs­politik wahrgenommen zu werden.

Die Grenzen seiner Afrikapolitik bekommt Marokko seit 2017 zu spüren: Die Sorge westafrikanischer Staaten vor dessen wirtschaftlicher Übermacht und seinem zuweilen dominanten Auftreten hat seine Aufnahme in die ECOWAS bislang ver­hin­dert. Grundsätzlich wird in Subsahara-Afrika am Willen der Maghrebiner gezwei­felt, sich voll integrieren, also auf eine Sonderstellung verzichten zu wollen, unter anderem in der Han­delspolitik mit Europa. Auf der Wahlliste für die AU-Kommissare 2021 steht nur ein Marokkaner auf wenig aus­sichtsreichem Platz und weder Algerier noch Tunesier – dies dürfte auch daran liegen, dass viele AU-Mitglie­der gegen­über den Maghreb-Staaten Vorbehalte haben.

Denen zum Trotz dürften die Maghreb-Staaten von dem größer gewordenen Bedürf­nis profi­tieren, afrikanische Lösungen für Afrika zu finden. Wegen der Lockdowns und Transport­behinderungen infolge der Covid‑19-Pan­demie fordern innerafrikanische Stimmen verstärkt, Abhängigkeiten von externen Akteuren zu reduzieren und rein kontinentale Lieferketten aufzubauen. Gerade Marokko scheint sehr entschieden, hier eine wichtige Rolle einzunehmen und die attraktiven Märkte Sub­sahara-Afrikas nicht einfach außerkontinentalen Akteuren wie China, Russland, der Türkei sowie euro­päischen Staaten zu überlassen.

EU: Positive Dynamiken fördern

EU-Politik gegenüber dem Maghreb ist bis­her hauptsächlich im Rahmen der Nachbar­schafts- oder Mittelmeerpolitik erfolgt. Darüber hinaus kooperieren ein­zelne EU-Staaten, darunter Deutsch­land, teilweise eng mit einzelnen Maghreb-Staaten. Der wachsende Fokus sowohl des Maghreb als auch Europas auf Subsahara-Afrika eröffnet neue Perspek­tiven für alle Akteure. Voraus­setzung dafür ist, dass deutsche und euro­päi­sche wirtschaftliche und poli­tische Akteure ihre Politiken stärker mit Blick auf den gesamten Kontinent und dessen Inte­gration konzeptualisieren; ferner dürfen sie das Interesse des Maghreb an Afrika nicht als Konkurrenz zum Inter­esse an Europa oder zum eigenen Interesse an Afrika ver­stehen. Ansätze dazu existieren, etwa im Rahmen des G20 Compact with Africa (CwA).

Afrikanische Integration könnte sich mittelfristig als Motor für die von der EU erwünschte, aber bislang erfolglose maghre­binische Integration erweisen. Erfolgreiche (wirtschaftliche) Integration auf dem Kon­tinent dürfte auch den Maghreb stabilisieren und liegt somit im Interesse der EU.

Für die EU impliziert die Unterstützung solcher vielversprechender Entwicklungen erstens, verstärkt auf trilaterale Wirtschafts- und Entwicklungskooperationen zu setzen. Konkret kann dies zum Beispiel heißen, maghrebinische Expertise zu nutzen und von ihr zu lernen, nämlich in von Deutschland und der EU unterstützten Wirtschaftspartnerschaften und Entwicklungsprojekten in Subsahara-Afrika. Die Maghreb-Staaten kön­nen hier dabei helfen, finanzielle wie technologische Brücken zwischen Europa und Afrika zu bauen bzw. auszubauen.

Daher liegt es zweitens für exporterfahrene Staaten wie Deutschland nahe, den bei­den »Nachzüglern« Tunesien und Algerien tech­nische Expertise anzubieten, wenn es dar­um geht, Strategien zu erarbeiten und die Infrastruktur für den Export lokal pro­du­zierter Güter nach Afrika auszubauen. Da­von würden nicht zuletzt deutsche und europäische Produzenten im Maghreb pro­fitieren, denen sich dadurch Märkte mit insgesamt rund 1 Milliarde potentiellen Konsumierenden eröffnen. Ein entsprechen­des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziertes Projekt für tunesische Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) läuft bereits. Trilaterale Kooperation kann zudem bedeuten, gemeinsam die Voraus­setzungen zu schaffen, um Tunesien als Hub für IT und die Ausbildung von Gesund­heitsfachkräften in Afrika zu positionieren – in beiden Bereichen ist Tunis mit führend auf dem Kontinent. Der Zeitpunkt, um Algerien Unterstützung zum Export von Expertise und Gütern anzubieten, ist güns­tig: Algier ist derzeit zugleich an Exportdiver­sifizierung und am Ausgleich seines Handels­bilanzdefizites mit Afrika interessiert. Die Regierung steht unter großem Handlungs- und Erfolgsdruck.

Drittens müssen europäische Akteure poten­tiell negative (Neben-)Effekte euro­päi­scher Politiken im Maghreb eindämmen. Beim Migrationsmanagement gilt es, an die Reputation der Maghreb-Staaten zu den­ken, die eng mit der Behandlung Geflüchteter aus Subsahara-Afrika verknüpft ist. Überdies ist zu beachten, dass das von Europa getrie­bene neue Grenzmanagement in Afrika inner­afrikanische Integration nicht behin­dern darf. Ebenso sollte Europa die afri­ka­nischen Bemühungen um die AfCFTA ernst neh­men. Beim Verhandeln der bi­late­ralen Freihandelsabkommen mit Marokko und Tunesien sind deren mögliche Folgen für die afrikanische Integration zu berücksichtigen.

Viertens ist wichtig, maghrebinischem Nullsummendenken entgegenzuwirken. Die EU sollte nicht entweder Marokkos oder Alge­riens oder Tunesiens Afrikapolitik fördern, sondern die jeweiligen konstruktiven An­sätze. Dies gilt auch für die friedens- und sicherheitspolitischen Engagements der Maghreb-Staaten in Subsahara-Afrika. Im Westsahara-Konflikt ist weiterhin die Linie der Vereinten Nationen zu unterstützen und nicht auf Alleingänge von Frank­reich oder Spanien einzuschwenken.

Wenn Europa sich als dezidierter Unterstützer der Annäherung von Nord- und Subsahara-Afrika etabliert und trianguläre Kooperationen forciert, hat es geo­politisch viel gewonnen: Die europäisch-afrikanische Achse würde gestärkt und der Spielraum für andere externe Akteure – wie China, Indien, die Türkei, die Golfstaaten – nicht wie bislang kontinuierlich wachsen.

Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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