Direkt zum Seiteninhalt springen

Libyens zum Staat gewordene Milizen

Dimensionen und Konsequenzen eines Konsolidierungsprozesses

SWP-Aktuell 2023/A 50, 31.07.2023, 7 Seiten

doi:10.18449/2023A50

Forschungsgebiete

Die seit 2011 in Libyen entstandenen bewaffneten Gruppen haben in den letzten Jahren einen Marsch durch die Institutionen vollzogen. Mittlerweile sind ihre Ver­treter sowohl in Armee und Sicherheitsapparat als auch in zivilen Regierungsämtern auf der Spitzenebene angekommen. Zugleich üben sie massiven Einfluss auf die Besetzung von Schlüsselpositionen und die Verteilung staatlicher Mittel aus. Die daraus erwach­sene enge Verquickung privater Interessen mit militärischen Einheiten dürfte Libyens Politik und Sicherheitssektor auf Jahre hinweg ihren Stempel auf­drücken. Auch wenn die Beziehungen zwischen den führenden militärischen Akteu­ren seit Mitte 2022 von pragmatischen Arrangements geprägt sind, bergen sie weiter­hin beträchtliches Konfliktpotential, da Verteilungskonflikte jederzeit in bewaffnete Konfrontationen umschlagen können. Die Konsolidierung der Privatarmeen bedeutet zudem, dass es kaum noch Perspektiven für eine Reform des Sicherheitssektors gibt. Diese Entwicklung stellt europäische Regierungen vor die Frage, wie sie mit immer mäch­tigeren und repressiveren Milizenführern umgehen sollen.

Seit mit dem Sturz Muammar Gaddafis 2011 das staatliche Gewaltmonopol zer­brach, konkurrieren zahlreiche bewaffnete Gruppen darum, das entstandene Vakuum zu füllen. Zu den Verbänden, die sich während des Kampfes gegen das Regime Gaddafis formiert hatten, kamen nach dessen Niederlage unzählige neu gebildete Einheiten hinzu. Fast alle bewaffneten Gruppen agierten unter dem Deckmantel staatlicher Legitimität – ob innerhalb neu geschaffener Institutionen oder schlicht als Einheiten des Innen- oder Verteidigungsministeriums. Tatsächlich vertraten sie jedoch in erster Linie die Interessen ihrer Anführer, Mitglieder oder ihrer sozia­len Basis und entgingen weitgehend der staatlichen Kontrolle. Der Wettstreit dieser Grup­pen um den Zugang zu staat­lichen Geldern, durch die sie sich finanzierten, spielte eine wesentliche Rolle bei der Eska­lation in den zweiten Bürgerkrieg im Jahr 2014, der dem 2011 begonnenen Über­gangsprozess ein Ende setzte und dazu führte, dass sich zwei konkurrierende Regierungen bildeten.

Auch nach dem Abflauen des zweiten Bürgerkrieges waren Konfrontationen zwischen Gruppen, die nominell der Ein­heitsregierung in Tripolis unterstanden, weiter an der Tagesordnung. Während­dessen brachte Khalifa Haftar, der 2014 seine Libysch-Arabischen Streitkräfte (Libyan Arab Armed Forces, LAAF) gegründet hatte, immer mehr Territorium in Ost-, Zentral- und schließlich Südlibyen unter seine Kontrolle. Haftars Versuch, in Tripolis die Macht zu übernehmen, führte 2019 zu einem dritten Bürgerkrieg, endete 2020 aber mit seinem Rückzug und der Einrichtung einer auslän­dischen Militärpräsenz auf beiden Seiten, die seither ein prekäres Kräftegleichgewicht wahrt: Das türkische Militär unterstützt die Regierung in Tri­polis, die russische Gruppe Wagner die Milizen Haftars. Es folgten meh­rere vergeb­liche Versuche unter der Ägide der Verein­ten Nationen (VN), diese Patt­situation durch einen Prozess hin zu Wah­len zu durch­brechen und das Land wieder zu vereinen. Stattdessen konnte die 2021 gebildete so­genannte Regierung der Natio­nalen Einheit von Abdelhamid Dabeiba ihre Macht in Tripolis sichern. Obgleich Haftar die Regie­rung Dabeiba nicht anerkennt und eine Parallelregierung im Osten stützt, ver­bindet ihn eine wachsende Bandbreite von Arrangements mit der Regierung in Tripolis. Von ihr erhält er monatlich große Geld­beträge, und seine Gefolgsleute wurden mit hohen Ämtern bedacht, wie etwa der Leitung der National Oil Corporation (NOC).

Konsolidierung

Ab 2016 war eine zunächst schleppende, später immer deutlicher zutage tretende Konsolidierung der militärischen Landschaft zu beobachten. Sie hat sich während des politischen Stillstands seit 2021 fort­gesetzt. Aus einer Vielzahl kleiner bewaff­neter Gruppen haben sich immer größere Verbände mit umfangreichen Territorien herauskristallisiert.

Vorreiter in dieser Hinsicht war Haftar, der 2014 eine lose Allianz bewaffneter Gruppen mobilisiert hatte, im Laufe der Jahre aber die Kontrolle über seine Ver­bände zunehmend zentralisierte. Zwar schwächte Haftars Niederlage in Tripolis 2020 vorübergehend seine Position im Osten des Landes. Seitdem haben seine Söhne jedoch die militärische, politische und wirtschaftliche Macht weiter in ihren Händen konzentriert. Zahlreiche Verbände der LAAF wurden in Einheiten integriert, die seinen Söhnen unterstehen. Kommandeure, die besonders berüchtigt für Kriegs­verbrechen und daher für Haftar rufschädigend geworden waren, vor allem aber eine eigene Gefolgschaft besaßen, fielen Mord­anschlägen zum Opfer. Diese Zentralisierung der Macht ermöglichte es dem Haftar-Clan auch, die Einnahmen aus illegalen Aktivitäten immer weiter zu monopolisieren. Dazu gehören die gewaltsame Aneig­nung von Grundbesitz, die Übernahme staatlicher Unternehmen und Banken sowie Treibstoff-, Drogen- und Menschenschmuggel. Zugleich stärkten Haftars Söhne loyale Kommandeure in Südlibyen gegenüber opportunistischen Verbündeten und festig­ten so ihre direkte Kontrolle über die Region.

In Westlibyen ist der Konsolidierungsprozess weniger fortgeschritten, aber den­noch unverkennbar. Schon nach der Amts­übernahme von Premierminister Fayez al-Sarraj im Jahr 2016 hatte ein Kartell aus vier Milizen schrittweise kleinere Gruppierungen aus dem Stadtzentrum von Tripolis vertrieben, um den eigenen Einfluss in den staatlichen Institutionen auszuweiten. Während des Krieges um Tripolis (2019/20) erwiesen sich einige westlibysche Milizen als besonders schlagkräftig. Sie genossen nach dem Krieg türkische Ausbildungs- und Ausstattungshilfe, erhielten privilegierten Zugang zu staatlichen Mitteln und stärkten damit ihre Position weiter. Die Milizenlandschaft in Tripolis lichtete sich zusätzlich, als 2022 mehrere bewaffnete Gruppen von ihren Konkurrenten aus der Hauptstadt ver­trieben wurden. Anlass war der damalige Machtkampf zwischen der Regierung Da­beiba und der Gegenregierung unter Fathi Bashagha. Diese Konkurrenz ver­ursachte eine Polarisierung zwischen bewaffneten Grup­pen im Großraum Tripolis und wurde in einer kurzen bewaffneten Auseinandersetzung im August 2022 zugunsten Da­beibas entschieden. Seither werden weite Teile von Tripolis von nur zwei bewaffneten Verbänden kon­trolliert: dem »Apparat für Abschreckung« von Abderrauf Kara und dem »Apparat für Stabilisierungshilfe« von Abdelghani »Ghnewa« al-Kikli.

Institutionalisierung

Die bewaffneten Verbände, die sich bisher im Konkurrenzkampf der Milizen durch­gesetzt haben, sind in mehrerlei Hinsicht dabei, sich zu institutionalisieren. Da die meisten von ihnen spätestens 2014, oftmals aber schon 2011 entstanden sind, haben sie sich inzwischen stark verstetigt. Ihre Anführer haben sich über die Jahre hinweg beträchtliche Expertise in Kampfhandlungen, Politik und Finanzwesen angeeignet sowie die anfangs oft diffusen Befehlsstrukturen gestrafft. In ihren angestammten Territorien haben sie Klientelnetzwerke in Wirtschaft und ziviler Verwaltung auf­ge­baut, die mittlerweile fest verwurzelt sind.

Die Institutionalisierung zeigt sich auch in den Verbindungen zwischen Milizen und Staat. Von Beginn an bemühten sich die Milizen darum, durch ihre Affiliation zu Institutionen den An­schein zu erwecken, sie repräsentierten die Staatsmacht. Dazu gehörte auch die Wahl ihrer Namen, die möglichst offiziell klingen sollten – weshalb manche Gruppen ihre ursprüng­lichen Bezeichnungen gegen Namen wie etwa »116. Brigade« eintauschten. Weit verbreitet war ferner, Karriere­offiziere pro forma zu Kommandeuren solcher Einheiten zu ernennen, um die herausragende Rolle der eigentlichen Milizenführer zu kaschieren, die keine Militärs waren. Inzwischen sind eben jene Milizenführer meist nicht nur die offiziellen Kom­mandeu­re der Ein­heiten, sondern sind überhaupt an der Spitze der staatlichen Institutionen ange­kommen. Beispiele sind der Innenminister der Regierung Dabeiba, Emad al-Trabelsi, aber auch jener der Gegenregierung im Osten, Essam Buzriba – Bruder des Milizenführers Hassan Buzriba –, sowie dessen Stellvertreter Faraj al-Gaim. Zudem verdanken immer mehr hohe Amtsträger ihre Posten den Milizenführern, die des­wegen mittlerweile den Löwenanteil an unter­schlagenen staatlichen Mitteln ein­streichen. Insofern ist das offizielle Auf­treten der bewaffneten Gruppen immer weniger Tarnung: Sie repräsentieren in­zwischen tatsächlich den libyschen Staat, so wie er heute existiert.

Und schließlich wird der Institutiona­lisierungsprozess darin deutlich, dass sich die bewaffneten Verbände in den letzten Jah­ren zunehmend professionalisiert haben. Sie versuchen, sich als Sicherheitsdienst­leister zu profilieren und dem Ein­druck entgegenzuwirken, sie stellten für die Zivil­bevölkerung vor allem eine Gefahr dar. Anspruch und Realität klaffen hier zwar auseinander, doch zweifellos ist ein Wand­lungsprozess im Gange. Zugute kommt den Milizen in Tripolis dabei, dass die einst ständigen bewaffneten Auseinandersetzungen in der Hauptstadt seit August 2022 fast völlig ausgeblieben sind. In Gesprächen mit dem Autor führten Kommandeure der Ein­heiten dies darauf zurück, dass Unruhe stiftende Gruppen nach und nach ihre Stel­lungen verloren hätten und andere Mili­zen zu dem Schluss gekommen seien, sie müss­ten gemeinsam für Sicherheit sorgen, um ihr Überleben zu gewährleisten.

In Tripolis, das noch vor einigen Jahren von besonders zügellosen Milizen beherrscht wurde, ist die 444. Brigade das neue Modell: eine Einheit, die in den von ihr kontrollierten Gebieten südlich von Tripolis als diszi­pliniert, verlässlich und kompromisslos im Umgang mit Krimi­nalität gilt. Zu diesem Modell, das immer mehr Gruppen nach­ahmen, gehört, dass die Verbände ver­suchen, sich nicht mehr einer bestimmten sozialen Basis zuordnen zu lassen, sondern über den Herkunftsort ihrer Anführer hin­aus zu rekrutieren. Freilich bedeutet dies bei Weitem noch nicht, dass die Ver­bände effektiv der staatlichen Befehlsgewalt unter­stehen, denn die Regierung wäre außerstande, die Kommandeure dieser Einheiten auszuwechseln. Es handelt sich also um Privatarmeen.

Zur Professionalisierung gehört weiterhin, dass die bewaffneten Verbände größe­ren Wert auf die Kompetenzen ihres Perso­nals legen. Das tun sie etwa durch die mili­tärische Ausbildungshilfe, die westlibysche Einhei­ten durch die Türkei und die Ver­bände Haftars durch Jordanien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) genossen haben. Unter Professionalisierung fällt überdies der verstärk­te Einsatz von Mitgliedern der Sicherheitskräfte des Gaddafi-Regimes. Auch in dieser Hinsicht leistete Haftar Pionierarbeit, indem er die Offiziere und Geheimdienstler des alten Regimes in seine Dienste berief und für massive Repression einsetzte. In Westlibyen galt die Anwerbung dieses Per­sonals länger als Tabu, das aber ab 2016 schrittweise überwunden wurde. Als erste Gruppe rekru­tierte der »Apparat für Ab­schreckung« in größerem Ausmaß ehe­malige Geheimdienstmitarbeiter. Später begannen Milizen­führer in Tripolis damit, den Inlands- und Auslandsgeheimdienst samt angestammtem Personal wieder­zubeleben. Das Netzwerk um Abdelghani al-Kikli kontrolliert den Inlandsgeheimdienst; im Auslandsgeheimdienst konkurrieren mehrere Milizen um Einfluss. Unter Anleitung der Milizenführer erfährt die institutionelle Kultur dieser Behörden eine Renaissance: eine feindliche Einstellung gegenüber zivilgesellschaft­lichem Engagement, hinter dem subversive ausländische Einflüsse vermutet werden. Die Dienste und ihre neuen Herren ver­suchen sich als Hüter der libyschen Souve­ränität zu profilieren, indem sie zivilgesellschaft­liche Aktivisten verhaften und an­schließend Videos von Geständnissen veröffent­lichen, die unter Druck abgelegt wurden. So entsteht ein westlibyscher Sicherheitsapparat, in dem sich die politi­sche Kultur des alten Regimes und die persönlichen Interessen der Milizenführer vermischen.

Politisierung

Libyens bewaffnete Gruppen agierten lange nur eingeschränkt als politische Akteure. Sie traten zwar als Vetokräfte bei einzelnen politischen Entscheidungen auf, hatten aber oftmals diffuse Führungsstrukturen und keine klaren politischen Agenden. In die Verhandlungen über die Beendigung der Bürgerkriege von 2014/15 und 2019/20 wurden sie nur indirekt eingebunden. Die Einheitsregierungen, die durch diese Ver­handlungen gebildet wurden, mussten sich anschließend mit den bewaffneten Gruppen arrangieren, indem sie ihnen Posten und Budgets zugestanden. Politisch-militärisch kohärent war einzig Haftar, der seine Kräfte zur libyschen Armee schlechthin erklärte, von Anfang an klar das Ziel Machtübernahme verfolgte und von internationalen Vermittlern stets als zentraler Akteur in Verhandlungsprozesse involviert wurde.

Spätestens seit dem Machtkampf zwischen den Regierungen Dabeiba und Bashagha nehmen westlibysche Milizenführer ebenfalls eine explizit politische Rolle wahr. Möglich wurde dies nicht zuletzt durch den Konsolidierungsprozess, mit dem etwa ein Dutzend Kommandeure immer mehr militärische Macht in ihren Händen konzentrierte und damit auch immer mehr politisches Gewicht erlangte. Seit dem Frühjahr 2022 trifft sich eine kleine Gruppe von ihnen regelmäßig mit den Söhnen und anderen Vertretern Haftars. Bei diesen Gesprächen geht es um die Verteilung von Posten und Geldern, aber auch um fundamentalere Fragen zum zukünftigen politischen Prozess und Be­dingungen für etwaige Wahlen. Ein Teil­nehmer an den Verhandlungen erklärte dem Autor gegenüber, man habe verstanden, dass man selbst die politische Initiative ergreifen müsse – man könne Libyens Politiker nicht einfach weitermachen lassen, um dann im Falle einer Eskalation den Kopf hinhalten zu müssen.

Eine Konsequenz dieser Verhandlungen ist die Besetzung hoher Ämter mit Perso­nen, die von den Gewaltakteuren benannt wurden und deren Interessen vertreten. Darunter befinden sich etwa der Vorsitzende der NOC, der Vorstand der General Electricity Company of Libya, der Innen­minister sowie zahlreiche andere. West­libysche Kommandeure üben außerdem wachsenden Druck auf Parlamentarier aus, wie es auch Haftar schon seit Jahren tut, um politische Verhandlungen zu beein­flussen.

Konsequenzen

Die Entwicklung der bewaffneten Verbände macht es notwendig, gängige Denkweisen über Libyens Sicherheitssektor zu überprüfen. Zu Recht wurden diese Verbände bis­her als Milizen verstanden, das heißt als Gruppen, die trotz ihres offiziellen Status keine eigentlichen staatlichen Einheiten sind, da sie Partikularinteressen vertreten. Die Institutionalisierung dieser Gruppen und die massive Einflussnahme ihrer An­führer auf höchster Ebene zeigen aber, dass die Milizen zum Staat geworden sind. Die groben Konturen des Sicherheitssektors dürften auf Jahre hinweg fortbestehen: eine militärische Landschaft, die von konkurrierenden Machtpolen geprägt ist und deren Führungsfiguren ihr militärisches Gewicht einsetzen, um politische und finanzielle Gewinne zu erzielen.

Staatliche Oberhoheit über Privatarmeen unrealistisch

Auf internationaler Ebene gilt die Wiedervereinigung der libyschen Armee weiter als ein wichtiges Politikziel. Einhergehen soll sie mit Prozessen der Sicherheitssektor­reform (security sector reform) sowie der Ent­waffnung, Demobilisierung und Wieder­eingliederung (disarmament, demobilisation, reintegration) von Milizionären. Dahinter steht die Vorstellung, man könne die gegen­wärtige Politisierung der bewaffneten Ver­bände überwinden, professionelle Sicherheitskräfte aufbauen und unzuverlässige Gruppen zerschlagen. Allerdings ist es nicht mehr realistisch, staatliche Oberhoheit über die Privatarmeen zu errichten. Mit einer Wiedervereinigung der militärischen Ver­bände unter gemeinsamen Befehlsstrukturen wäre kaum etwas erreicht, denn ihre effektive Unterordnung ist ausgeschlossen. Der Konkurrenzkampf ihrer Anführer ginge unvermindert weiter. Als Milizen gebrandmarkt, die entwaffnet und demobilisiert werden sollen, werden in dieser Situation nur die Verlierer. Die zentralen Akteure benötigen ihre Waffengewalt, um ihren politischen Einfluss zu sichern und wo möglich auszubauen.

Konfliktdynamiken

Seit Mitte 2020 sorgt die Stationierung des türkischen Militärs und der russischen Gruppe Wagner für eine Pattsituation. Die Annäherung zwischen der Türkei und den Regionalmächten Ägypten und VAE hat die Hürden für eine erneute militärische Eska­lation weiter erhöht. Ohne diese Rahmenbedingungen wäre es undenkbar, dass Milizenführer in Ost und West in wachsendem Maße kollegiale Beziehungen pflegen.

Dennoch birgt die entstandene Ver­quickung von militärischer Macht mit poli­tischen und finanziellen Interessen Eska­lationspotential. Wer wie viel bekommt, hängt vom jeweili­gen militä­rischen Gewicht ab. Daher wer­den Vertei­lungskonflikte immer auch die Möglichkeit von Fehlkalkulationen mit sich bringen, wenn sich die Konkurrenten gegenseitig mit dem Einsatz von Waffen drohen. Auch aus weiter reichenden Arrangements zwischen den Gewaltakteuren ergibt sich mittelfristig die Gefahr er­neuter bewaffneter Konflikte. Durch ihren Zugang zu staat­lichen Mitteln könnten einzelne bewaffnete Verbände immer mächtiger und so für ihre Rivalen zu einer wachsenden Bedrohung werden. Das gegenwärtige Kräftegleich­gewicht sollte also keineswegs als gegeben angenommen werden.

Anhaltende Konflikte dürften zudem mit dem weiteren Konsolidierungsprozess verbunden sein, der insbesondere westlich von Tripolis noch am Anfang steht. Außer­dem könnten manche der mächtigsten Einheiten zerfallen, falls sie ihre Anführer verlieren. Besonders folgenreich wäre das vermutlich bei Haftars Ableben, denn ob dessen Söhne seine Verbände zusammenhalten können, ist unsicher.

Militarisierung der Politik

Mit dem Aufstieg der Milizenführer dürfte der Primat des Militärischen in der politi­schen Landschaft Libyens auf Jahre hinweg zementiert sein. Das hat auch Implikationen für das Ziel der VN und westlicher Regierungen, die Legitimitäts­krise der staat­lichen Institutionen durch Wahlen zu be­enden. Angesichts der geballten militärischen und finanziellen Macht, die Gewaltakteure heute in ihren Händen vereinigen, sind sie in der Lage, enormen Einfluss auf jeglichen Wahlgang auszuüben – und ihre jetzt offen zutage tretenden politischen Ambitionen legen nahe, dass sie genau das tun würden. Deutlich wurde das schon beim Anlauf auf die Wahlen, die für Dezember 2021 geplant waren, aber nicht stattfinden konnten. Ein wesentlicher Grund für ihr Scheitern war, dass Haftar für das Präsidentenamt kandi­dieren wollte, zugleich aber das Wahlergebnis hätte mani­pulieren können, da er rund zwei Drittel des Staatsgebiets kontrol­liert.

Sollten irgendwann Wahlen abgehalten werden, ist also zu erwarten, dass die Milizen­führer sich entweder selbst zur Wahl stellen oder ihre eigenen Kandidaten ins Rennen schicken – und ihnen dann durch Einschüchterung und Manipulation zum Sieg verhelfen. Darüber hinaus ist denkbar, dass Gewaltakteure politische Parteien gründen und sich ihr Konkurrenzkampf dann auch zwischen den Fraktionen eines neu gewählten Parlaments abspielt. Auch diese Entwicklung hat mit der Grün­dung der Partei al-Karama, die sich im Lager Haftars verortet, schon begonnen.

Rein zivile Kräfte dürften es dagegen auf Dauer schwer haben. Die Repression, die den Osten auf Haftars Betreiben schon fest im Griff hält und nun auch im Westen um sich greift, wird politische Mobilisierung bei vielen verhindern, die sich nicht selbst durch Waffengewalt schützen können.

Die Frage des Umgangs

Westliche Diplomaten und die VN pflegten lange einen Umgang mit den Milizen­führern, der sich zwischen Haftar im Osten und den Akteuren im Westen stark unter­schied. Haftar galt spätestens seit seinem Empfang durch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 als international hoffähig. Westliche Amtsträger verliehen Haftar durch zahlreiche Treffen internationale Legitimität, verlangten ihm aber im Gegenzug dafür nichts ab. Milizenführer in Westlibyen kamen hingegen nur äußerst selten in den Genuss öffentlich bekannt­gegebener Treffen mit westlichen Diplo­maten.

Zu ändern begann sich das im Jahr 2022, als mit Emad al-Trabelsi ein Milizenführer westlichen Repräsentanten als Innen­minister entgegentrat. Im Frühjahr 2023 begann der VN-Sonderbeauftragte Abdoulaye Bathily zudem, wichtige Komman­deure aus Ost- und Westlibyen zu Treffen des gemein­samen Militärkomitees hinzuzuziehen, das die Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens überwachen soll. Erklärtes Ziel Bathilys ist, sicherzustellen, dass die Milizenführer einen Wahlgang ermög­lichen. Auch wenn er dafür bislang nur vage Zusagen erhielt, lobte er die Gewalt­akteure öffentlich für ihren »patrio­tischen Geist« – ein Lob, von dem die eigentliche politische Klasse nur träumen konnte.

Wenngleich damit die internationale Legitimierung auch der westlibyschen Milizenführer begonnen hat, so bleibt doch ein qualitativer Unterschied zum Umgang mit Haftar. Letzterer wird sogar noch stärker von den Europäern hofiert, seitdem sein Machtzirkel die Migrationsroute von Ostlibyen nach Italien ausgebaut und damit direkten Druck erzeugt hat. Die kriminellen Machenschaften seines Clans scheinen für Haftars Beziehungen mit europäischen Staaten ebenso wenig ein Hindernis zu sein wie seine mutmaßliche Verantwortung für massive Kriegsverbrechen und seine Allianz mit der Gruppe Wagner.

Die dauerhafte Verfestigung der Machtstrukturen, die sich um die Milizen gebildet haben, erfordert ein Umschwenken im Umgang mit ihren Anführern. Zwar ist es ihrem Einfluss angemessen, dass sie nun auch direkt in internationale Vermittlungsversuche einbezogen werden. Eine vertane Chance ist es jedoch, ihnen durch öffent­liche Treffen Legitimität zu verleihen, ohne ihnen dafür Zugeständnisse etwa im Be­reich Menschenrechte abzuringen. Statt­dessen sollten sich europäische Regierungen darum bemühen, der weitgehenden Straf­losigkeit libyscher Gewaltakteure Grenzen zu setzen. Das VN-Sanktions­regime fällt dabei aufgrund der Differenzen im Sicher­heitsrat als Instrument aus. Die Ermittlungen des Internationalen Straf­gerichtshofs sind wichtig, bleiben aber auf einige wenige Tatverdächtige beschränkt.

Dagegen könnte die Möglichkeit von Sanktionen auf EU-Ebene wesentlich stärker genutzt werden. Allerdings erfordert das von Deutschland und gleichgesinnten Regierungen, ihr politisches Gewicht ein­zusetzen, um skeptische Mitgliedstaaten zu überzeugen: besonders Italien und Malta, aber hinsichtlich Sanktionen gegen den Haftar-Clan auch Frankreich. Europäische Sicherheitsbehörden sollten zudem schärfer prüfen, ob im Ausland befindliche Ver­mögenswerte libyscher Akteure aus krimi­nellen Aktivitäten stammen. Vor allem aber sollten europäische Regierungen das Streben der Milizenführer nach Respek­tabilität und Legitimität als Hebel nutzen, um ihr Verhalten zu beeinflussen. Eine öffentliche und namentliche Ver­urteilung von Akteuren, die für exzessive Gewaltakte, Repression oder die großangelegte Unter­schlagung öffentlicher Gelder verant­wortlich sind, würde Signale an all ihre »Berufsgenossen« senden.

Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

Alle Rechte vorbehalten

Das Aktuell gibt die Auf­fassung des Autors wieder.

SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfah­ren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018

DOI: 10.18449/2023A50