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Europas Energiekrise und der östliche Mittelmeerraum

Über Zielkonflikte zwischen Versorgungssicherheit, Klimaschutz und regionaler Stabilität

SWP-Aktuell 2023/A 10, 09.02.2023, 8 Seiten

doi:10.18449/2023A10

Forschungsgebiete

Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine und der gefährdeten Energie­versorgung Europas gewinnt der östliche Mittelmeerraum wieder an politischer Aufmerksamkeit. Im Fokus stehen dabei einerseits bisher unerschlossene Erdgas­vorkommen und andererseits Perspektiven für eine zukünftige Versorgung mit grünem Strom und Wasserstoff. Doch die Konflikte Griechenlands und der Republik Zypern mit der Türkei bedrohen die Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Die EU steht vor einer dreifachen Herausforderung: Sie muss das kurzfristige Problem der Energie­sicherheit mit der langfristigen Aufgabe der Energiewende zusammendenken, ihren beiden Mitgliedstaaten Griechenland und Zypern zur Seite stehen und gleichzeitig prüfen, inwieweit eine Einbindung der Türkei in laufende und künftige Projekte der regionalen Energiekooperation gelingen bzw. deeskalierend wirken kann.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ver­ändert die energiepolitischen Rahmen­bedingungen weltweit. Die EU will sich von russischen Energieimporten unabhängig machen. Gleichzeitig hält sie an ihren Klimazielen fest. Für die Zusammenarbeit zwischen der EU und den Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers ergibt sich daraus eine neue Gemengelage. Drei eng mit­einander verknüpfte Themenfelder stehen dabei im Vordergrund.

Energiesicherheit, Klimawandel und regionale Stabilität

Zum einen streben die EU-Staaten eine Diversifizierung ihrer Erdgasbezugsquellen an. Hier rückt die Nutzung der Gasvorkom­men im östlichen Mittelmeer wieder ins Blickfeld. Nach Einschätzung des US Geo­logical Survey liegen im östlichen Mittelmeer bis zu 286,2 Billionen Kubikfuß (bzw. 8,1 Billionen Kubikmeter) unerschlossene Erdgasreserven. Die nahe EU gilt in der Region als lukrativer Absatzmarkt. Im Som­mer 2022 unterzeichnete die Europäische Kommission mit den Regierungen Israels und Ägyptens eine Absichtserklärung, der zufolge das Volumen israelischer Gaslieferungen über ägyptische LNG-Terminals erhöht werden soll.

Zweitens will die EU ihren Erdgas­verbrauch durch den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien und grünen Wasser­stoffs reduzieren. Der sonnen- und wind­reiche östliche Mittelmeerraum lässt hoffen, dass die EU in Zukunft grünen Strom und Wasserstoff aus der Region beziehen kann. Die Europäische Kommission kündigte bereits im Mai 2022 an, einen Mittelmeerkorridor für grünen Wasserstoff einzurichten. Besonders mit Ägypten soll die Zusam­menarbeit verstärkt werden. Den Anrainerstaaten gilt die EU als potentieller Finanzier des Ausbaus erneuerbarer Energien. Schon heute stellt Brüssel ihnen Investitionshilfen für den Anschluss an das europäische Stromnetz bereit. Im Oktober 2022 reiste Kadri Simson, die EU- Kommissarin für Energie, zum Start der ersten Bauphase des EuroAsia Interconnectors nach Nikosia. Dabei handelt es sich um ein von der EU teilfinanziertes Unterwasserstromkabel, das Zypern und später auch Israel mit dem griechischen Stromnetz verbinden soll.

Drittens lassen sich energiewirtschaft­liche Projekte im östlichen Mittelmeerraum nur unter Beachtung ihrer sicherheitspolitischen Implikationen realisieren. Griechenland und die Republik Zypern sehen sich mit einer expansionistischen Politik der Türkei konfrontiert. Ein Gegenstand des Konflikts ist der Verlauf der Seegrenzen der exklusiven maritimen Wirtschaftszonen zur Ausbeutung regionaler Erdgasvorkommen. Doch geht es der Türkei nicht nur um Bodenschätze, sondern mindestens ebenso sehr um regionale Vorherrschaft. In den vergangenen Jahren eskalierte die Situation immer wieder, etwa als die Türkei Tiefseebohrungen in der ausschließlichen Wirt­schaftszone (AWZ) der Republik Zypern sowie Untersuchungen des Meeresbodens in unmittelbarer Nähe der griechischen Inseln Kastellorizo und Kreta in Auftrag gab. Im Sommer 2020 kam es vor der Insel Kastel­lorizo, die nur wenige Kilometer vom tür­kischen Festland entfernt ist, beinahe zu einem Scharmützel zwischen griechischen und türkischen Kriegsschiffen. Die ungelös­ten Konflikte mit der Türkei erschweren bis heute eine Ausweitung der Erdgaszufuhr aus dem östlichen Mittelmeer. Sie drohen auch den raschen Ausbau der erneuerbaren Energien und der entsprechenden Infrastruktur zu bremsen. Es stellt sich daher die Frage, wie die Türkei, die aus Sicht der EU als größte Militärmacht in der Region der Störenfried ist, für eine Zusammenarbeit bei regionalen Energieprojekten gewonnen werden kann.

Erdgasimporte aus dem östlichen Mittelmeer

Was die Versorgung der EU mit Erdgas be­trifft, geht es um schnelle Lösungen, da rus­sische Ressourcen kurzfristig ersetzt werden müssen. Nach Szenarien des Oxford Insti­tute for Energy Studies wird Erdgas in eini­gen EU-Staaten in den kommenden Win­tern knapp und somit teurer sein. Doch die EU will nicht nur kurzfristig Sicherheit in der Energieversorgung, sie strebt auch die Dekarbonisierung ihres Energiesektors an. Den Zielen der Europäischen Kommission folgend soll der Verbrauch von Erdgas auf dem Weg zur Klimaneutralität bereits bis 2030 um 30 Prozent gedrosselt werden. Die aktuelle Suche nach alternativen Gaslieferanten ist daher vorwiegend kurz- bis mittel­fristig angelegt. Es geht um den raschen Ausbau bereits vorhandener Infra­struktur und die Maximierung ihrer Leis­tungsfähigkeit. Neue Lieferverträge sollen keine langfristigen Laufzeiten enthalten und nicht mit der Finanzierung neuer Erd­gaspipelines ver­knüpft sein. Projekte, die hohe Infrastrukturinvestitionen erfordern, nicht innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre starten können und Zeitspannen von mindestens zwanzig bis dreißig Jahren voraussetzen, um sich zu rentieren, wider­sprechen der Klimapolitik, so wie Brüssel sie ausgerufen hat.

Für die Gasfelder im östlichen Mittelmeer, die bisher nicht über Pipelines an das europäische Versorgungsnetzwerk an­geschlossen sind, ist innerhalb dieses Rah­mens nur eine Erhöhung der bereits beste­henden Flüssiggas(LNG)-Lieferungen denk­bar. Das betrifft die erschlossenen Gasfelder Israels und die ägyptischen Verflüssigungsanlagen Idku und Damietta. Laut Charles Ellinas, Analyst beim Global Energy Center des Atlantic Council, beträgt die maximale Exportkapazität der beiden LNG-Terminals 48 Millionen Kubikmeter pro Tag. Bei voller Auslastung entspricht dies einem jährlichen Volumen von rund 17 Milliarden Kubik­metern Gas. Der Bezug von Gas über die ägyptischen LNG-Anlagen erfolgt nicht über langfristige Lieferverträge, sondern läuft kurzfristig über den Spotmarkt. Dabei ste­hen die Europäer in einem globalen Wett­bewerb, der von volatilen Nachfrage- und Preisdynamiken geprägt ist. 2021 wurden rund 2 Milliarden Kubikmeter Gas von Israel über die ägyptischen Terminals in die EU transportiert. Für 2022 wurde eine Steigerung auf etwa 5 Milliarden Kubik­meter angestrebt. Mit diesen zusätzlichen Liefermengen aus dem östlichen Mittelmeerraum könnten kurzfristig jedoch nur etwa 3 Prozent der russischen Zufuhren von 2021 kompensiert werden. 2021 lieferte Russland rund 155 Milliarden Kubikmeter Erdgas an die EU. Nach Ansicht von Exper­ten ist in der Region frühestens zwischen 2025 und 2026 mit einer Erschließung weiterer Erdgasfelder zu rechnen. Solange die Europäische Kommission jedoch eine strukturelle Senkung der europäischen Erdgasnachfrage anpeilt, dürften sich kaum Firmen finden, die bereit sind, für neue Infrastrukturen Investitionen in Millionenhöhe zu tätigen.

Zyprisches Gas: Exportoptionen und Konfliktlinien

In den vergangenen Monaten rückten auch die Gasvorkommen vor Zypern wieder in den Fokus der öffentlichen Debatte. Am 22. August 2022 verkündete der Energiekonzern ENI die Entdeckung des Gasfelds Cronos-1 in der AWZ der Republik Zypern. Das Unternehmen schätzt das Gesamt­volumen des Funds auf circa 70 Milliarden Kubikmeter. Vor Cronos-1 hatten inter­nationale Konzerne wie ENI, TOTAL und ExxonMobil in der AWZ der Republik Zypern zwischen 2011 und 2019 mit Aphro­dite, Calypso und Glaucus bereits drei wei­tere Gasfelder entdeckt. Im Dezember 2022 gab ENI außerdem bekannt, das Gasfeld Zeus-1 gefunden zu haben, das eine ähn­liche Größe wie Cronos-1 aufweisen soll. Bis zu 600 Milliarden Kubikmeter unerschlossenes Gas liegen nach Angaben der Kon­zerne vor der Küste der Insel.

Die Republik Zypern könnte dem Vorbild Israels folgen, das einen Teil seiner Gas­vorkommen in verflüssigter Form über Ägypten auf den europäischen Markt ver­schifft. Doch zuvor müsste eine Pipeline gebaut werden, welche die zyprischen Gas­felder mit den ägyptischen LNG-Terminals verbindet. Aktuelle Pläne und Überlegungen zur Entwicklung des Aphrodite-Gas­felds weisen in diese Richtung. Der US-Kon­zern Chevron und seine beiden Partner, der israelische Konzern NewMed Energy und Shell, haben ein Abkommen über die Er­schließung von Aphrodite unterzeichnet. Zunächst sollen in der ersten Hälfte des Jahres 2023 weitere Bohrungen folgen, um die Gesamtgröße der Lagerstätte zu bestim­men, die nach aktuellen Schätzungen der Partner rund 124 Milliarden Kubikmeter Gas enthalten könnte. Darüber hinaus in­tensivierten Israel und die Republik Zypern ihre Gespräche über ein Abkommen zur gegenseitigen Gewinnbeteiligung. Denn das Aphrodite-Gasfeld liegt zu einem geringen Anteil in der AWZ Israels. Bislang behinderten die strittigen Nutzungsrechte die Ent­wicklung der Ressourcen.

Daneben gibt es jede Menge politischer Hindernisse. Auf der Insel selbst streiten die griechischen und türkischen Zyprer, das heißt die Republik Zypern und die nur von der Türkei anerkannte »Türkische Republik Nordzypern«, über eine Aufteilung der Gewinne, die durch eine internationale Vermarktung ihrer Gasvorkommen erzielt werden könnten. Außerdem erkennt die Türkei die Verträge der Republik Zypern mit Ägypten und Israel zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer AWZ nicht an. Vielmehr behinderte Ankara seit 2011 wiederholt die Suche nach Erdgas in der AWZ der Repu­blik Zypern, so etwa im Februar 2018, als die türkische Marine ein Forschungsschiff von ENI zur Umkehr zwang. Ankara glaubt jedoch, von den anderen Anrainerstaaten verlangen zu können, dass sie den Vertrag anerkennen, den die Türkei mit den von ihr wirtschaftlich und politisch abhängigen türkischen Zyprern über die gegenseitige Abgrenzung ihrer AWZ geschlossen hat. Die durch diesen Vertrag konstruierte AWZ der türkischen Zyprer kollidiert nicht nur im Norden der Insel mit der AWZ der Repu­blik Zypern, sondern reicht weit in die süd­lichen Gewässer der Insel.

Zwischen Mai 2019 und Dezember 2020 beauftragte die Türkei ihren staatlichen Energiekonzern TPAO, in den genannten Seegebieten Erdgasbohrungen durchzuführen, die der Europäische Rat als »rechts­widrig« bezeichnet. Diese politischen Kon­flikte stellen nicht nur ein Risiko für die Stabilität und Sicherheit der Region dar, sondern wirken sich auch negativ auf die Bereitschaft international tätiger Energiefirmen aus, in regionale Projekte der Erd­gasförderung zu investieren.

Die Vereinbarung zur Seegrenze zwischen Israel und Libanon: Ein Vorbild für die Region?

Gemäß der Vereinbarung erhält Israel das alleinige Recht auf die Erschließung des Karish-Gasfelds. Im Gegenzug ist der Libanon befugt, die Lizenz für die Förderung des Qana-Feldes zu vergeben. Da dieses Erd­gasfeld teilweise über die libanesische AWZ hinaus in die israelische Zone reicht, soll Israel im Rahmen einer Zusatzvereinbarung mit Total, dem betreibenden französischen Unternehmen, an den Ein­nahmen beteiligt werden.

Das türkische Außenministerium begrüßte in einer Presseerklärung das Abkom­men und warb dafür, den Streit zwischen den zyprischen Volksgruppen über die Ver­teilung der Erlöse künftiger Gasexporte in einem vergleichbaren Format beizulegen. Eine Bereitschaft, auch nur indirekt mit der Republik Zypern, welche die Türkei nicht anerkennt, zu verhandeln, ließ Ankara je­doch nicht erkennen. Deshalb wäre mit einer Einigung der griechischen und türki­schen Zyprer auch nur einer von mehreren ineinandergreifenden Konflikten rund um die zyprische AWZ gelöst. Denn Ankara beansprucht zudem für sich selbst eine maritime Wirtschaftszone, die weit in die der Republik Zypern hineinreicht.

Zwar erkennt die Türkei als einziges Mit­glied der Vereinten Nationen die Republik Zypern nicht an, doch das Beispiel Israel–Libanon zeigt, dass Staaten auch ohne gegenseitige Anerkennung in beiderseitigem Interesse miteinander verhandeln und Lösungen finden können.

Eine Einigung zwischen der Republik Zypern und der Türkei über den Verlauf ihrer Seegrenzen oder zumindest über För­der- und Nutzungsrechte bestimmter Gas­felder würde nicht nur die Erschließung der Lagerstätten im Süden der Insel, sondern auch alternative Lieferrouten ermöglichen. Israelische und möglicherweise auch zypri­sche Gasvorkommen könnten über eine Unterwasserpipeline, die durch die AWZ der Republik Zypern verläuft, in die Türkei exportiert werden. Für die Türkei eröffnete sich dadurch die Aussicht auf große Men­gen günstigen Erdgases, die ihre Abhängigkeit von russischen Importen verringern würden. Auch könnte die gesamte Insel Zypern mit Erdgas versorgt werden und sich gleichzeitig internationale Absatzmärkte erschließen.

Voraussetzung dafür wäre die Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft aller Konfliktparteien. Unter den derzeitigen politischen Umständen, die gegenwärtig wegen der Wahlen, die 2023 in Griechenland, der Türkei und der Republik Zypern anstehen, noch zugespitzt sind, erscheint ein Kurs der Annäherung in den nächsten Monaten jedoch nicht wahrscheinlich. Ab­zuwarten bleibt, ob sich nach den Wahlen ein Zeit­fenster für diplomatische Initiativen öffnet. Betrachtet man den außenpolitischen Kurs, den die Türkei in den letzten Jahren eingeschlagen hat, spricht indes wenig dafür, dass das Land sein konfron­tatives Vorgehen gegenüber den beiden EU‑Mitgliedstaaten Griechenland und der Republik Zypern aufgeben wird.

Störenfried Türkei: ein möglicher Kooperationspartner?

Im Streit in der Ägäis verschärfte die Türkei ihre Rhetorik gegenüber Griechenland zu­letzt erheblich: Im Sommer 2022 zog sie erstmals die Souveränität Griechenlands über dessen ostägäische Inseln in Zweifel. Mit Blick auf den ungelösten Zypernkonflikt hat sich Ankara von den Vorgaben der Ver­einten Nationen und dem auch von der EU und den USA verfolgten Ziel verabschiedet, eine bikommunale und bizonale Föderation zu schaffen. Stattdessen arbeitet die Türkei auf eine sogenannte Zweistaatenlösung und die internationale Anerkennung der »Türki­schen Republik Nordzypern« hin. Es meh­ren sich die Stimmen, die vor einer revisio­nistischen Politik Ankaras warnen. Die Türkei hat nun schon mehrmals eine Revi­sion des Vertrags von Lausanne zur Sprache gebracht, in dem nach Ende des Ersten Weltkriegs und des anschließenden Kriegs um Anatolien am 24. Juli 1923 ihre Gren­zen festgeschrieben wurden. Zwar bemüht sich Ankara seit Anfang 2021 um eine Nor­malisierung seiner Beziehungen mit den anderen Ländern der Region. Die Eiszeit mit Ägypten wurde beendet, mit den Vereinigten Arabischen Emiraten begann eine wirt­schaftliche Zusammenarbeit, und auch zu Israel gibt es wieder diplomatische Be­zie­hungen. Doch ist es der türkischen Regie­rung bislang nicht gelungen, die ihr gegen­über skeptische Front, bestehend aus Israel, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emi­raten sowie Griechenland und der Republik Zypern, aufzubrechen. Weder hatte sie mit ihren Bemühungen Erfolg, mit Israel unter Ausschluss der Republik Zypern eine Part­nerschaft im Gashandel einzugehen, noch konnte Ägypten davon überzeugt werden, ein gemeinsames Seegrenzabkommen zu verhandeln, das die türkische Position ge­stärkt, Griechenland und die Republik Zypern aber außen vor gelassen hätte. Seit langem will die Türkei eine Drehscheibe für den Transfer von Gaslieferungen in die EU werden und damit weiter an regionalem Einfluss gewinnen. Türkische Diplomaten verweisen immer wieder auf die günstige Lage des Landes, um Erdgas aus dem öst­lichen Mittelmeer, dem Nahen Osten und dem Kaukasus in die EU zu transportieren. Solange Ankara jedoch im östlichen Mittel­meer den Störenfried gibt, wird das Land sein Potential nicht ausschöpfen können. Stattdessen bleibt die Türkei von überregio­nal angelegten Projekten des Erdgashandels abgeschnitten, während Ägypten sich zum zentralen Umschlagplatz für den Export entwickelt.

Anders als einige EU Staaten muss sich die Türkei kurzfristig nicht um ihre Ener­gie­sicherheit sorgen. Die türkisch-russi­schen Energiebeziehungen sind nach wie vor intakt, und die Türkei profitiert davon, dass sie sich den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht anschließt. Der Anteil Russlands an den türkischen Gasimporten lag 2021 bei 44,9 Prozent. Ein großer Teil des türkischen Verbrauchs wird weiterhin durch Lieferungen aus Russland gedeckt. Die Öleinfuhren aus Russland haben sich zuletzt sogar verdoppelt. Doch aufgrund des Bevölkerungswachstums und des zu­nehmenden Energiebedarfs der Wirtschaft wird der Gasverbrauch der Türkei weiter steigen. Im Oktober 2021 unterzeichnete Ankara das Pariser Abkommen. Das Land will bis 2053 klimaneutral werden. Um seine Ziele zu erreichen, muss die Türkei eine Strategie für den Kohleausstieg ent­wickeln. Erdgas könnte hierbei eine wich­tige Rolle spielen. Damit der zu erwartende höhere Erdgasbedarf der Türkei nicht die Abhängigkeit von Russland vergrößert, liegt es im türkischen Interesse, die Einfuhren noch stärker zu diversifizieren. Ein Weg dahin, den die Türkei in den letzten Jahren schon eingeschlagen hat, ist der Ausbau der Flüssiggasimporte, die inzwischen rund 23,5 Prozent des türkischen Erdgasbedarfs decken. Hier steht die Türkei im globalen Wettbewerb um Gas aus den USA, Ägypten und Katar. Daher ist auch die türkische Wirt­schaft von den Energiepreissteigerungen betroffen. Ankara steht vor einer Grund­satzentscheidung: Entweder wird sich die Türkei weiter gegen ihre westlichen Nach­barn positionieren und sich Russland und China annähern. Oder sie setzt auf einen Ausgleich mit dem Westen, was europäische Unterstützung bei der Versorgungs­sicherung und Transformation im Energiebereich verspricht, aber ohne Deeskalation und Kooperation im östlichen Mittelmeer nicht zu haben sein wird.

Erneuerbare Energien auf Zypern

Für Zypern stellt sich die Frage, wie der Ausbau erneuerbarer Energien inselweit organisiert werden kann. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen schlug in einem Interview im August 2022 vor, eine bikommunal ver­waltete Solaranlage in der UN-Pufferzone zu errichten, die beide Volksgruppen mit Ökostrom versorgen würde. Das von der UN kontrollierte Gebiet ist 180 Kilometer lang und erstreckt sich über eine Fläche von 346 Quadratkilometern. Die Zone ist weitgehend ungenutzt und bietet reichlich Platz für den Aufbau von Solarpanelen und Stromspeichern. Obwohl die Insel das Ge­biet mit der höchsten kontinuierlichen Sonneneinstrahlung in der EU ist, lag die Republik Zypern im Jahr 2020 beim Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung noch auf dem vorletzten Platz. Im Jahr 2021 machten regenerative Energien 18,4 Prozent der gesamt Primärenergie­versorgung aus. Ihr Anteil im Strommix lag im selben Zeitraum bei 14,8 Prozent. Eine inselweite Kooperation im Bereich er­neuerbarer Energien in der UN-Pufferzone böte die Chance, die zyprische Energietrans­formation zu beschleunigen.

Seit 2019 sind die Stromnetze der beiden Inselhälften miteinander verbunden. Bei Stromausfällen wird die Synchronisation der Netze genutzt, um eine konstante Strom­versorgung zu gewährleisten. Mit dem Aus­bau erneuerbarer Energien könnte bizona­ler Stromhandel die Stabilität der Stromnetze noch erhöhen. Dies wäre die Grund­lage für weitere gemeinsame Projekte, zum Beispiel im Bereich der Elektromobilität durch den Aufbau von Ladestatio­nen oder in Form von Maßnahmen zur Elektrifizie­rung des Industrie- und Wärmesektors.

Offiziellen Zahlen zufolge lag die Infla­tionsrate in Zypern im Jahr 2022 bei 8,4 Pro­zent. Allein die Strompreise stiegen im ersten Halbjahr um 32 Prozent. Die extre­men Preissteigerungen sind Folge der fast vollständigen Abhängigkeit Zyperns von Energieimporten. Bislang werden fast 90 Prozent des zyprischen Stroms in drei Kraftwerken erzeugt, die teures importiertes Schweröl verwenden. Die Beschleunigung der Energiewende in Zypern ist damit nicht nur klimapolitisch, sondern auch ökonomisch geboten.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Integration der Insel in ein transnationales Stromnetz. Die Europäische Kommission kündigte im Januar 2022 an, im Rahmen des Infrastrukturförderprogramms Con­necting Europe Facility 657 Millionen Euro bereitzustellen, um das zyprische Stromnetz über ein Unterseekabel via Kreta mit dem europäischen Festland zu verbinden und so die Isolation Zyperns im Strom­sektor zu überwinden. Bisher offen ist dabei, ob auch der von der Türkei besetzte Teil der Insel davon profitieren wird. Aus rechtlicher Sicht ist unklar, ob eine Aus­dehnung des europäischen Stromgebiets auf den Norden Zyperns möglich ist. Die Stromleitungen auf beiden Inselhälften müssten wohl modernisiert werden, um für einen ausgeweiteten Stromhandel kom­patibel zu sein.

Politisch gesehen gäbe es gute Gründe für die Integration der türkischen Zyprer in das europäische Stromnetz.

Erstens böte dies eine Gelegenheit, die beiden Seiten erneut zur Zusammenarbeit zu bewegen. Seit dem Scheitern der Frie­densverhandlungen von Crans-Montana im Sommer 2017 wurden die Konsultationen nicht wiederaufgenommen.

Ankara besteht auf der Anerkennung der »Türkischen Republik Nordzypern« als Vor­bedingung für Gespräche zur Vertiefung jeglicher Kooperation, eine Position, die für die EU nicht verhandelbar ist. Derzeit liegen auch alle Dialoge über vertrauensbildende Maßnahmen auf Eis. Weder die türkischen Zyprer noch die Türkei haben bisher ernsthaft auf die Vorschläge der Republik Zypern reagiert. Nikosia hatte angeboten, die Zollbehörde im Hafen von Famagusta unter die Zuständigkeit der EU zu stellen, um den türkischen Zyprern den direkten Handel mit der EU zu ermöglichen, und den Flughafen Tymbou/Ercan im Nor­den an die Vereinten Nationen zu über­geben, damit er für internationale Flüge genutzt werden kann.

Zweitens stellte das Angebot, die türkischen Zyprer in den europäischen Strom­raum zu integrieren, einen Test dafür dar, ob es der Türkei bei ihrem Drängen auf eine Zweistaatenlösung wirklich um das Wohlergehen dieser Volksgruppe oder doch eher um geostrategische Ziele, sprich um Nordzypern als unsinkbaren Flugzeugträger und Marinestützpunkt geht. In der Ver­gangenheit hat die Türkei den EuroAsia Interconnector als ein gegen sie gerichtetes Projekt betrachtet, das sie in der Region isoliere. Ankara beklagte, dass es bei den Planungen außen vor gelassen worden sei, obwohl die vorgesehene Route des Unter­wasserstromkabels auch durch Gewässer führt, die die Türkei beanspruche, und drohte, die Anlage zu verhindern. Dabei ist eine Ausweitung des Stromhandels unter allen Anrainerstaaten des östlichen Mittel­meerraums, einschließlich der Türkei, sowohl in deren eigenem Interesse als auch im Interesse der EU. Der Anschluss der tür­kischen Zyprer an den EuroAsia Inter­connector wäre ein starkes Signal in Rich­tung Kooperation.

Perspektiven für die Zusammen­arbeit im Energiesektor

Angesichts der prekären Versorgungslage im europäischen Erdgassektor und der großen Menge bisher unerschlossener Vor­kommen im östlichen Mittelmeerraum sollte die EU ihre klimapolitisch begründete Ablehnung neuer Infrastrukturen zur Ver­marktung der Ressourcen überdenken. Ohne die Erschließung neuer Erdgasfelder und die Schaffung zusätzlicher Transport­infrastrukturen wird die Region nur einen geringen Beitrag zur Versorgungssicherheit der EU leisten können und sich ihr Beitrag dazu auf die Maximierung des bestehenden Handels mit Ägypten und Israel beschränken. Es ist daher zu überlegen, ob ein Im­port zyprischer Erdgasvorkommen mittel­fristig hilfreich wäre, um kurzfristige Maß­nahmen, wie den im vergangenen Jahr 2022 verstärkten Rückgriff einiger EU-Staaten auf die als besonders klimaschädlich geltende Kohleverstromung, nicht zu verstetigen.

Generell sollte der Fokus jedoch auch weiterhin auf den Möglichkeiten der regio­nalen Nutzung der Vorkommen liegen. Diese könnten den lokalen Bedarf decken, als Backup für den Ausbau erneuerbarer Energien dienen, Ausgangspunkt für neue regionale Kooperationsformate sein und insgesamt als Beitrag zur Deeskalation wirken. Denkbar ist etwa die gemeinsame Erschließung israelischer und zyprischer Gasvorkommen für den türkischen Markt. Dazu bietet es sich an, in Track-Two-Pro­zessen mit türkischen und zyprischen Stakeholdern zu sondieren, welche Lehren aus der Vereinbarung zur Seegrenze zwi­schen Israel und dem Libanon gezogen werden können. Daran knüpft sich auch die Frage, wer die Rolle der USA als Ver­mittler übernehmen könnte. Theoretisch wären die USA als internationale Ordnungs­macht die erste Wahl. Vorstellbar wäre aber auch ein Zusammenschluss großer EU-Staaten, die in der Region aktiv sind, etwa Deutschlands, Frankreichs und Italiens.

Hinzu kommt, dass es ohne regionale Kooperation keinen massiven Ausbau er­neuerbarer Energien geben wird. Voraussetzung dafür ist wiederum politische De­eskalation.

Auf Zypern selbst kann nur inselweite Zusammenarbeit zu einer rascheren Trans­formation des Energiesektors führen. Da­rüber könnte auch die Türkei für gemein­same Projekte der Energieversorgung zu gewin­nen sein. Wenn man beim Ausbau des trans­nationalen Stromhandels die türkischen Zyprer in das EuroAsia-Inter­connector-Projekt einbindet, böte sich damit eine Gelegenheit, den Kooperationswillen der EU-Staaten zu betonen und den der Türkei zu testen. Bilaterale Formate wie die deutsch-türkische Energiepartnerschaft könnten dazu genutzt werden, Ideen und Initiativen zu lancieren. Berlin und Ankara haben kürzlich eine Wasserstoffkoopera­tion vereinbart, die zwar noch am Anfang steht, aber Potentiale bietet, mit der Türkei bei der Energiewende voranzukommen.

Im östlichen Mittelmeer sollte sich die EU für das Erreichen ihrer energiewirtschaft­lichen Ziele jedoch nicht allein von der Kooperationsbereitschaft der Türkei ab­hängig machen. Es ist daher sinnvoll, in der Region auch transnationale Projekte der Energieversorgung zu unterstützen, die nicht un­mittelbar von den Konflikten zwischen der Türkei auf der einen und Griechenland und der Republik Zypern auf der anderen Seite betroffen sind. Besondere Beachtung gilt hier der künf­tigen Entwicklung der grie­chisch-ägyptischen Koopera­tionsvorhaben, die im Energiesektor sowohl für den Erdgas- als auch für den Wasserstoffhandel gemeinsame Lieferketten vor­sehen. Auch ein Seekabel für den direkten Stromtransfer zwischen den beiden Län­dern wird diskutiert. Das Hauptinteresse der EU ist jedoch ein für alle Anrainer­staaten offener Ansatz für neue Koopera­tions­formate.

Moritz Rau war von Oktober 2019 bis Dezember 2022 in verschiedenen Funktionen für die SWP tätig. Unter anderem war er Stipendiat am CATS (Centre for Applied Turkey Studies) und Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dieses SWP-Aktuell entstand im Rahmen eines Projekts zu den Perspektiven der Energiezusammenarbeit im östlichen Mittelmeerraum.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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