Die Covid‑19-Pandemie hat den internationalen Reiseverkehr stark reduziert. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und menschlichen Folgen der Grenzschließungen und Reisebeschränkungen lassen sich noch nicht vollständig abschätzen, sind aber gewaltig. Die Gräben zwischen Staaten des Globalen Nordens, die Reisen kontrollieren und unregulierte Mobilität unterbinden wollen, und des Globalen Südens, die mehr legale Mobilität für ihre Bürgerinnen und Bürger einfordern, werden tiefer. Reisefreiheit ist ein begehrtes Gut, zu dem alle Zugang haben sollten, sowie Gegenstand politischer Verhandlungen. Unilaterale Bestimmungen sollten durch internationale Vereinbarungen, bei dem sich Staaten auf gemeinsame Regeln und Verfahren für ein Vertrauenssystem einigen, ergänzt oder aufgehoben werden. Derweil sollten die Staaten ihre Visaverfahren modernisieren und digitale Identifikationssysteme aufbauen, die Vertrauen schaffen. Das gilt auch für Deutschland, zumal die Regierungskoalition beschlossen hat, die Visavergabe zu beschleunigen.
Viele Bürger und Bürgerinnen der Europäischen Union (EU) müssen inzwischen ihren Impfpass vorzeigen, wenn sie ein Flugzeug besteigen oder eine Grenze passieren. Der Nachweis des Impfschutzes als Zugangsvoraussetzung ist nicht neu; bei Reisen in tropische Länder ist zum Beispiel seit langem eine Gelbfieberimpfung erforderlich, die bislang mithilfe des gelben Impfpasses belegt wird. An Bedeutung gewinnt jedoch die elektronische Dokumentation, etwa in Form von Smartphone-Apps – und das nicht nur im Fall von Impfungen. Reisende nach Nordamerika kennen solche Systeme, die nach den Attentaten vom 11. September 2001 als »Smart Borders Initiative« eingeführt wurden.
Internationale Bemühungen um »intelligente« Grenzen
Diese Sicherheitsmaßnahmen der USA beinhalten neue Sicherheitsstandards für Reisedokumente, die systematische Erfassung von Fluggastdaten (PNR), die Einführung einer elektronischen Einreiseerlaubnis (ESTA), ein Ein- und Ausreiseregister (EES) mit biometrischen Visa sowie ein Screening-System, um die Einreise von Terrorismusverdächtigen zu verhindern. Um dennoch das Reisen zu erleichtern, haben die USA die »Trusted Traveller Programs« ins Leben gerufen. Hierzu gehört unter anderem das »Global Entry«-Programm, bei dem vorgeprüfte Reisende, die nach Ansicht der Behörden nur ein geringes Sicherheitsrisiko darstellen, ihre Überprüfungsinterviews nun auch nach der Ankunft absolvieren können. Die Teilnehmenden dieses Programms können – ebenso wie Personen mit US-Staatsbürgerschaft oder im Besitz einer Greencard – zudem das »PreCheck«-Programm nutzen, das Sicherheitsüberprüfungen an US-Flughäfen beschleunigt.
Die USA sind bei den Bemühungen um »intelligente« Grenzen zweifellos Vorreiter; aber seit 2008 treibt die EU-Kommission ein eigenes Visa-Informationssystem voran, das mit biometrischen Daten arbeitet, sowie ein Ein- und Ausreiseregister und ein System für Fluggastdaten. 2022 soll das European Travel Information and Authorization System (ETIAS) zur Verfügung stehen. Ähnlich wie das US-amerikanische ESTA soll es der Sicherheitsüberprüfung für Reisende aus derzeit über 60 Staaten dienen, die kein Visum für den Schengen-Raum brauchen. In Kürze soll außerdem das elektronische Entry-Exit-System (EES) in Betrieb genommen werden, das die Reisebewegungen von Drittstaatsangehörigen an den Schengen-Außengrenzen automatisch überwachen wird. Mit diesem IT-System sollen Ein- und Ausreisen abgeglichen und potenzielle Visa-Overstayer erfasst werden. Dazu werden bei der Ersteinreise in den Schengen-Raum Datensätze über die Einreisenden angelegt, einschließlich biometrischer Daten.
Die öffentliche Gesundheit hat im internationalen Mobilitätsmanagement jahrzehntelang nur eine geringe Rolle gespielt. Das hat sich durch die Covid‑19-Pandemie und durch Eindämmungsmaßnahmen wie die Ausweisung von Hochrisiko- und Virusvariantengebieten auf unabsehbare Zeit geändert. Insgesamt ist die internationale Mobilität im Zuge der Corona-Pandemie stark eingebrochen: 2019, im Jahr vor der Pandemie, hatte die globale Luftfahrtindustrie noch mehr als 4,5 Milliarden Passagiere befördert. Im ersten Jahr der Pandemie wurden weltweit mehr als 108.000 Covid‑19-bedingte Reisebeschränkungen verfügt. Die Zahl der Flugpassagiere nahm um 60 Prozent ab. Auch die Zahl neuer internationaler Migrantinnen und Migranten blieb bis Mitte 2020 deutlich hinter vorherigen Schätzungen zurück, und weltweit dürfte die Pandemie deren Gesamtzahl um 2 Millionen reduziert haben.
Durch solche Reisebeschränkungen drohen neue Verwerfungen und eine weitere Vertiefung der Gräben zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden: Der (legitime) Wunsch, die Bevölkerung in den Industrieländern vor Infektionsrisiken zu schützen, kann zu einer pauschalen Schlechterstellung und Diskriminierung von Menschen aus Ländern führen, die nicht die Mittel haben, ihre Bevölkerung so schnell zu impfen, wie die Länder des Globalen Nordens es trotz aller Schwierigkeiten vermögen. Zudem wollen auch Regierungen von Entwicklungsländern ihre Bevölkerung vor Infektionsrisiken schützen. Sie haben jedoch weniger Möglichkeiten dazu – vor allem wegen des mangelhaften Zugangs zu Impfstoffen.
Im Kontext der Pandemie erweisen sich Fragen der Legitimität der Mobilitätskontrollen als besonders dringlich. Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Reformvorschläge zu den Schengen-Vorschriften als ambivalent zu bewerten, mit denen die EU bei einer Pandemie gemeinschaftliche Einreiseverbote verhängen will: Die angestrebte Formalisierung könnte Einreiseverbote verstetigen, aber auch Begründungen für diese erzwingen.
Die Visavergabe als Kern der internationalen Mobilität
Im Mittelpunkt der internationalen Mobilität steht die Visavergabe. Sie dient primär der Regelung von touristischen wie geschäftlichen Reisen, aber ebenso von Aufenthaltszwecken wie der Arbeitsmigration, dem Familiennachzug und der Schutzsuche. Um unerwünschte Zuwanderung zu verhindern, verfolgen die EU-Staaten und viele andere Zielländer eine parallele Strategie: Einerseits greifen sie zu unilateralen Regulierungsmaßnahmen und setzen Kontrolltechnologien ein, andererseits versuchen sie, die Herkunftsländer mit politischem Druck dazu zu bewegen, bei der Reduzierung der irregulären Migration mit ihnen zusammenzuarbeiten. Inzwischen machen jedoch viele Herkunftsländer eine Kooperation bei der Steuerung der Migration davon abhängig, dass ihre Forderungen nach einer erleichterten internationalen Mobilität etwa durch gebührenfreie Visa oder durch generelle Visafreiheit für ihre Bürger ernst genommen und erfüllt werden – wie beispielsweise die Türkei. Sie drängt seit langem auf Visafreiheit mit der EU und verknüpft diese Forderung immer wieder mit der Drohung, die Zusammenarbeit bei der Migrationssteuerung einzustellen.
In den Botschaften und Konsulaten der EU-Mitgliedsländer wurden im Jahr 2020 circa 3,5 Millionen Anträge auf Schengen-Visa für Aufenthalte von bis zu drei Monaten gestellt, ein deutlicher pandemiebedingter Rückgang gegenüber 2019, als es etwa 17 Millionen Anträge waren. Von den 2020 eingereichten Anträgen wurden ungefähr 85 Prozent genehmigt, etwas weniger als im Jahr 2019 (88 Prozent). Allerdings lagen die Ablehnungsraten für Anträge aus einigen Herkunftsgebieten weitaus höher, insbesondere aus Afrika südlich der Sahara. Und auch diese Zahlen bieten nur ein unvollständiges Bild der blockierten Mobilität, denn sie berücksichtigen nur die bearbeiteten Visumanträge; die vielen Fälle abgebrochener oder wegen Aussichtslosigkeit erst gar nicht gestellter Visaanträge werden in den Statistiken nicht erfasst.
Ganz anders sieht die Mobilität für Deutsche aus: Deutsche Reisende stehen im weltweiten Passport-Ranking ganz oben, sie haben hervorragende Reisemöglichkeiten und Zugang zu fast allen Staaten, ohne Visaprozeduren durchlaufen zu müssen. So liegt Deutschland im Henley Passport Index derzeit weltweit auf Platz 2, gemeinsam mit Südkorea; seine Bürger und Bürgerinnen können in 190 Staaten visumfrei einreisen. Höhere Bewertungen hatten nur die Pässe von Singapur und Japan (192 Staaten). Menschen aus afrikanischen, nahöstlichen und südasiatischen Ländern haben es im Vergleich dazu deutlich schwerer: Afrikanische Pässe erlauben in der Regel visumfreies Einreisen nur in 20 bis 25 Prozent der Staaten, meist lediglich in afrikanische Nachbarländer.
Ayelet Shachar, ehemalige Direktorin des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen, weist mit ihrer These zur »birthright lottery« auf die Privilegien und Benachteiligungen hin, die aus dem Erwerb einer Staatsangehörigkeit resultieren. Sie argumentiert, der Erwerb der politischen Mitgliedschaft heutzutage entspreche demjenigen von Privateigentum in alten Zeiten.
Ordre Public oder strukturelle Diskriminierung?
In der EU bestimmt die Visum-Verordnung von 2001, dass die Visumpflicht als Standardmechanismus des EU-Mobilitätssystems zu verstehen ist und eine eventuelle Befreiung davon nur eine einseitig gewährte Ausnahme und ein Privileg bedeutet. Die zuletzt im Sommer 2021 überarbeitete Fassung der Verordnung führt zudem aus, dass jede Art von Missbrauch der Visumbefreiung bekämpft werden muss, »sofern die betreffenden Personen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung (›ordre public‹) und die innere Sicherheit des betroffenen Mitgliedstaates darstellen«. Bei mangelhafter Kooperation der Herkunftsländer kann die Visabefreiung ausgesetzt werden. Hierfür werden Schwellenwerte wie etwa die folgenden definiert: wenn das betreffende Herkunftsland mehr als die Hälfte der EU-Rückübernahmeersuchen ablehnt oder wenn weniger als 4 Prozent der Asylanträge aus diesem Land anerkannt werden.
Die Verordnung enthält den Hinweis, dass ein höherer Migrationsdruck verhindert werden soll, und es ist offensichtlich, dass die EU-Staaten das europäische Mobilitätsregime als Instrument der Migrationssteuerung betrachten. Auch der 2009 in Kraft getretene und zuletzt 2019 novellierte Schengen-Visakodex erlaubt es, die Visavergabe als Instrument zu nutzen, um gute Kooperation bei der Rückübernahme zu belohnen bzw. mangelnde zu sanktionieren.
Für Nanjala Nyabola, eine Publizistin aus Kenia, die im Mai 2019 im Auswärtigen Amt in Berlin eine der Eröffnungsreden der »Future Affairs«-Konferenz zum digitalen Wandel hielt, ist das Visaregime der entwickelten Länder struktureller Rassismus mit dem Ziel, die Menschen des Globalen Südens von der globalen Mobilität auszuschließen. Die Visavergabe reflektiere neokoloniale Strukturen. Es ist davon auszugehen, dass weite Teile der Eliten in Afrika, der arabischen Welt und in Südasien Nyabolas Position teilen. Die dortige Presse, aber auch Reiseblogs, kritisieren nicht nur die Visapolitik des Globalen Nordens, sondern ebenfalls die Verfahren in den Botschaften und an den Grenzen. Vorwürfe eines institutionellen Rassismus und Racial Profiling werden erhoben. Viele Wortmeldungen beklagen den demütigenden Charakter der Prozeduren, die Antragsteller und Reisewillige durchlaufen müssten. Solche Wahrnehmungen sind keine gute Voraussetzung, um den Globalen Süden für eine Kooperation zu gewinnen, die indes notwendig ist, um die Herausforderungen von Migration und Flucht zu bewältigen.
Elemente eines internationalen Regelwerkes
Diskriminierende Mobilitätsregelungen werden nicht zuletzt deshalb zur Migrationssteuerung eingesetzt, weil es den Staaten an Vertrauen in die Identitätsdokumente und Visaentscheidungen anderer Regierungen mangelt. Wenn der israelische Historiker und Publizist Yuval Noah Harari davon spricht, dass Vertrauen »vielleicht der wichtigste Treibstoff, das wichtigste Kapital einer jeden menschlichen Gesellschaft« ist, dann bezieht er das sowohl auf kleine Gemeinschaften als auch auf Länder und die internationale Politik insgesamt. Um Vertrauen zu schaffen, wäre eine Besinnung auf den Multilateralismus förderlich.
Für ein Regelwerk zur Gestaltung der internationalen Mobilität sind zwei Elemente vonnöten: Zum einen multilateral ausgehandelte Zielvorgaben, Strategien und Verfahren, zum anderen digitale Technologien, die Mobilität erleichtern – aber kein Selbstzweck sein dürfen, sondern politischen Zielvorgaben folgen müssen. Die Notwendigkeit eines politischen Regelwerkes ergibt sich unter anderem aus der Gefahr, dass Technologien als Ersatz für solche Regelwerke genutzt werden können – etwa wenn wichtige Akteure wie die USA auf bestimmte Techniken setzen, diese von internationalen Organisationen wie der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) übernommen werden und andere Staaten mitziehen müssen, um nicht abgehängt zu werden.
Baustein 1: Politische Zielbestimmungen
Grenzüberschreitende Mobilität ist immer noch ein Politikfeld, in dem – abgesehen von Gebieten mit interner Freizügigkeit wie dem Schengen-Raum – nationales Souveränitätsdenken größere Bedeutung hat als multilaterale Bemühungen um eine gemeinsame und für alle Beteiligten vorteilhafte Regelung. Im Mittelpunkt der derzeitigen Mobilitätsregelungen steht der Unilateralismus – was unter anderem hinter dem Ziel des 2018 auch von Deutschland angenommenen Globalen Pakts für sichere, geordnete und reguläre Migration zurückbleibt, die internationale Zusammenarbeit im Bereich Migration zu verbessern.
Sucht man nach historischen Beispielen für eine Veränderung von Mobilitätssystemen, kann man Lehren aus dem politischen Wandel in Europa vom Kalten Krieg bis zur Wende von 1989 ziehen. Auch dieser Wandel wurde von einer politischen Absichtserklärung befeuert: 1975 hatten die Vertreter von 35 Staaten aus West und Ost die Schlussakte der »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) in Helsinki unterzeichnet, die viele Erleichterungen der grenzüberschreitenden Mobilität vorsah, insbesondere für familiäre Kontakte. Außerdem sollten Reisegesuche aus persönlichen oder beruflichen Gründen ermöglicht und Konferenzen, Jugendaustausch und Tourismus gefördert werden.
Selbstverständlich ist diese spezifische historische Konstellation nicht einfach auf heutige Zustände übertragbar: Während die Länder des Warschauer Pakts keine freie Bewegung für ihre Bevölkerung zulassen wollten, sah der Westen gerade in der freien Bewegung einen Hebel für Veränderung, vornehmlich für intersystemare Kontakte, die wiederum zu politischer Entspannung und dem Abbau von Bedrohungsperzeptionen führen sollten. Als der Eiserne Vorhang fiel, war das Resultat auch nicht völlige Reisefreiheit; diese blieb an Visa und (Übergangs-)Regelungen zum Arbeitsaufenthalt geknüpft.
Gleichwohl würde ein ähnlicher Prozess wie die Helsinki-Konferenz – der im Idealfall in einen »Globalen Pakt für Internationale Mobilität« münden könnte – die bestehenden völkerrechtlichen Regeln und politischen Vereinbarungen zu Migration und Flucht sinnvoll ergänzen. Ein solcher Prozess könnte von der Vision einer modernisierten und regelbasierten internationalen Mobilität zum Vorteil aller Beteiligten getragen werden – und dem Vorwurf entgegenwirken, dem Norden ginge es nur um die Reduzierung irregulärer Zuwanderung.
In einem so gearteten Mobilitätsregime würden sich, ähnlich wie in der Schlussakte von Helsinki, die Unterzeichnerländer dazu bekennen, die internationale Mobilität für die Staatsangehörigen aller Länder, einschließlich der Länder des Globalen Südens, zu erleichtern und dabei Diskriminierung auszuschließen. Die Staaten würden sich zudem politisch verpflichten, technologische Innovationen, insbesondere digitale Identitäts- und Vertrauenssysteme, zu entwickeln und einzusetzen, um die technischen Voraussetzungen für legale und regelkonforme globale Mobilität zu schaffen.
Baustein 2: Digitale Technologien
Ein solches regelgestütztes internationales Mobilitätssystem ließe sich nur mithilfe der Digitalisierung umsetzen. Derzeit bestimmen immer noch die Instrumente des 19. und 20. Jahrhunderts die Kontrolle des internationalen Reisegeschehens – mit hohem Aufwand, Unsicherheit, Fälschungs- und Korruptionsanfälligkeit: Reisepass und Sichtvermerk, Stempel und Aufkleber, persönliche Vorsprache und Zettelwirtschaft. Für eine Modernisierung könnten die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie hilfreich sein. So hat die rasche Einführung eines digitalen (wenn auch nicht fälschungssicheren) Impfzertifikats in den EU-Staaten gezeigt, dass die Digitalisierung zur Aufrechterhaltung der Freizügigkeit beitragen kann.
Die Pandemie hat aber ebenso offenbart, dass die bisherigen Instrumente zu schwerfällig sind, um auf sich rasch verändernde Rahmenbedingungen zu reagieren, und dass das Vertrauen in die traditionellen Steuerungsinstrumente gering ist. Für ein neues Mobilitätssystem ist es daher entscheidend, die Zertifizierungs- und Identifizierungsinstrumente zu modernisieren.
Dass eine solche Modernisierung auch hierzulande nötig ist, verdeutlicht der Nationale Normenkontrollrat (NKR) der Bundesregierung regelmäßig, seit 2016 unter anderem in seinen jährlichen Monitorberichten zum Stand der Digitalisierung in Deutschland. Wie sie im nationalen Rahmen gelingen könnte, wird ebenfalls aufgezeigt: Der Rat fordert von der Verwaltung datenbasierte Entscheidungen und sieht sie als einen Dienstleister, der auf Bedürfnisse reagiert und eine Qualitätsmessung staatlicher Leistungen aus der Betroffenenperspektive zulässt.
Zweifellos hat der NKR ein nationales Mandat und seine Empfehlungen beziehen sich auf Deutschland. Überträgt man trotzdem sein Kernanliegen, nämlich dass die Interessen der Betroffenen wahrgenommen werden müssen, auf die internationalen Mobilitätsregelungen, stellt sich heraus, dass die bisherige Fixierung auf die Nationalität als entscheidendes Kriterium für die Visaerteilung ein Problem ist. Würden Visaentscheidungen stattdessen vornehmlich auf andere Merkmale gestützt, wie Beruf, Qualifikation, Alter, Unbescholtenheit und Gesundheit, wäre ein internationales Mobilitätsregime wirkungsvoller und fairer.
Das Mobilitätsregime der Zukunft muss auf digitalen Vertrauenssystemen beruhen, die fälschungssicher die Identität von Personen und Attributen bescheinigen. Als Beispiel kann – trotz der oben angeführten Bedenken – das digitale Impfzertifikat der EU dienen: Es bestätigt die Identität der geimpften Person, die Zulassung des Impfstoffs, die sachgerechte Verimpfung durch einen autorisierten Arzt und die Kompetenz des Ausstellers des Zertifikats.
Solche »Vertrauenssysteme« fördert die Bundesregierung bereits durch ihre Forschungspolitik. Sie sollen künftig die Basis für vertrauenswürdige digitale Interaktionen und den Zugang zu digitalen Diensten sichern, etwa Telemedizin und digitale Rezepte, die Gig-Economy, Online-Banking und E-Government-Dienste. Während diese Absichten hauptsächlich auf die einheimische Bevölkerung zielen, sollte die Bundesregierung diesen Ansatz auch bei Reisenden aus Drittstaaten verfolgen.
Die Rolle privater Dienstleister
Privatwirtschaftliche Unternehmen haben bereits wichtige Funktionen im internationalen Mobilitätsmanagement übernommen. Dies muss nicht in Widerspruch zu staatlicher Souveränität und Kontrolle stehen. Im Gegenteil, Staaten haben den Privatsektor hinzugezogen, um Unterstützung bei ihren konsularischen Dienstleistungen, aber auch bei der Grenzsicherung zu erhalten. Das betrifft vor allem die Fluggesellschaften: Unter Androhung hoher Geldstrafen bei Unterlassung erledigen sie relevante Aufgaben der Mobilitätskontrolle für die Staaten, deren Flughäfen sie anfliegen. Inzwischen haben sich kommerzielle Migrationsdienstleister wie CIBT (aus den USA) und der Marktführer VFS Global (in Indien gegründet, in Dubai ansässig) etabliert, die von Staaten beauftragt werden, Teile der Visabearbeitung oder Zulieferfunktionen zu übernehmen. Technologiefirmen bieten die dafür notwendige Hardware, Software und Datenanalyse an.
In allen Fällen agieren die Unternehmen als Datenbroker, das heißt, sie verfügen über große Datenmengen über abgelehnte und genehmigte Visumanträge, regulär Reisende und irreguläre Migranten. Dies führt zuweilen zu Kontroversen, da nicht klar ist, unter welche Jurisdiktion diese Dienstleister fallen und welche Rechtswege bei Beschwerden bestehen. Die EU hat aber zumindest darauf hingewiesen, dass ihre Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) auch für Unternehmen gilt, die Visa-Dienste für Staatsangehörige von Drittstaaten wahrnehmen und dass die Unternehmen ein angemessenes Schutzniveau für personenbezogene Daten sicherstellen müssen.
Gegenwärtig testen die Regierungen Kanadas und der Niederlande gemeinsam mit dem Technologieunternehmen Accenture und dem Weltwirtschaftsforum (WEF) ein »Known Traveller Digital Identity-System« (KTDI) für Flugreisen. In diesem System speichern die Reisenden biometrische und kryptografische Daten über sich ab, zum Beispiel auf ihre Mobiltelefone. Auf Anforderung und nach eigenem Ermessen geben sie den Behörden Zugang zu diesen verifizierten persönlichen biometrischen, biografischen und historischen Reisedaten, um ihnen die Risikobewertung und ein Pre-Screening zu ermöglichen. Mit KTDI lassen sich Reisen abbilden und verfolgen, wobei Reisende über mobile Geräte mit Behörden und privaten Unternehmen interagieren, indem sie historische und Echtzeitdaten (»Identitätsattribute«) bereitstellen.
Ähnliche Ziele werden mit dem Projekt »Hotel Check‑in für Firmenreisende« angestrebt, mit dem die Bundesregierung den Aufbau einer Infrastruktur für den sicheren Austausch von Identitätsattributen testen lässt, und zwar gleichermaßen für digitale Identitäten von Menschen, Institutionen und Dingen (Internet of Things). Pilotprojekte könnten klären, ob sich dieser Ansatz nicht auch auf Angehörige von Drittstaaten anwenden ließe.
Die Einbindung der Privatwirtschaft in ein internationales Mobilitätsregime wäre unverzichtbar. Fluglinien, Hotelketten, Banken und Finanzdienstleister sowie Versicherungen müssten gemeinsam mit Konsulaten und Meldeämtern auf einer Plattform agieren, die Reisenden aus Drittstaaten nach international vereinbarten Regeln nicht nur Dienstleistungen anbietet und diese abwickelt, sondern ebenfalls verifizierte Identitätsattribute auszustellen vermag.
Ethische Fragen
Ein ethisches Problem, das alle »Wallets« betrifft, in denen einzelne Personen Informationen zu ihrer Identität abspeichern, ergibt sich aus dem Machtgefälle zwischen den Vertretern staatlicher Organe und den Dateninhabern, in diesem Fall den Reisenden. So ist fraglich, ob Letztere die Kontrolle über ihre persönlichen Daten erhalten und ob ihnen zugestanden wird, diese nur freiwillig und nach eigenem Ermessen weiterzugeben – angesichts von Einwanderungs- und Kontrollpraktiken, die persönliche Daten einfordern und Beamte mitunter dazu ermächtigen, nach Passwörtern zu fragen oder sogar den Inhalt von Handys, Computern und anderen Geräten herunterzuladen.
Dieses Machtungleichgewicht besteht zweifelsfrei. Hier muss mit verbindlichen und einklagbaren Regeln gegengesteuert werden. Das gilt auch für die Daten von Reisenden, die bei Behörden und privaten Dienstleistern gespeichert sind. Heute sind sie für die Betroffenen bzw. die Inhaber nicht zugänglich: Biometrische Daten werden bei der konsularischen Dienststelle oder bei dem Unternehmen, an das diese Dienstleistung ausgelagert wurde, gespeichert. Das digitale Ich der Reisenden ist fremdbestimmt.
Im Vereinigten Königreich haben zivilgesellschaftliche Organisationen das Innenministerium verklagt. Der Vorwurf: Die Algorithmen der vom Ministerium angewandten künstlichen Intelligenz seien rassistisch und diskriminierend. Solche Gefahren dürfen nicht unterschätzt werden. Gleichzeitig gilt, dass digitale Prozesse, wenn sie richtig konzipiert sind, den Einfluss diskriminierender Vorurteile in der Entscheidungsfindung verringern können.
Gerade wenn digitale Technologien eingesetzt werden sollen, wird eine ethische Diskussion über die Details des Mobilitätssystems notwendig. Ein Kritikpunkt wird lauten, dass ein digitales Identitäts- und Vertrauenssystem, das auf dem Machtungleichgewicht zwischen ärmeren und reicheren Nationen beruht, nicht die Mobilität von Menschen aus ärmeren Ländern erleichtern wird. Einwände wie dieser sind ernst zu nehmen, weil wahrscheinlich auch weiterhin reisewillige Personen zurückgewiesen werden, ohne dass der Verdacht auf diskriminierende Vorurteile ausgeräumt werden kann, seien es die von natürlichen Personen oder von Algorithmen.
Darüber hinaus müssen weitere grundlegende Fragen geklärt werden: Wie soll mit dem Spannungsverhältnis zwischen der Verfügungsgewalt der Reisenden über ihre Daten und der Erfordernis umgegangen werden, dass ein Vertrauenssystem über genügend Daten verfügen muss, um wirksam zu sein? Wann hat jemand »ausreichendes Vertrauen« erlangt – oder schafft der Ausbau von Zertifizierung und Identifizierung eine »Misstrauensspirale«, einen nicht gedeckelten Bedarf an immer mehr, besser verifizierten, aber nie ausreichenden Daten? Wie lässt sich ein »Kernbereich« definieren, in dem keine Daten erfasst werden, beispielsweise Bankkonten? Wie kann verhindert werden, dass die Verfügungsgewalt von einer rechenschaftspflichtigen Person auf eine Maschine übergeht, wenn künstliche Intelligenz eingesetzt wird und die Entscheidungsfindung automatisiert erfolgt? Reichen dafür die Garantien des Artikel 22 DSGVO aus? Und: Wie lassen sich wirksame Einspruchs- und Widerspruchsverfahren gestalten?
Zu den grundsätzlichen ethischen Aspekten gehört ferner der Einwand, dass Millionen Menschen im Globalen Süden aufgrund mangelnder sozioökonomischer Möglichkeiten und begrenzten Zugangs zu digitalen Ressourcen wahrscheinlich keinen ausreichend hohen Vertrauensgrad erlangen werden und damit auch weiterhin von Reisen nach Deutschland und in die EU ausgeschlossen bleiben. Dem steht entgegen, dass auch in Deutschland und den anderen OECD-Ländern die ungleiche Verteilung von Ressourcen die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger einschränkt: Ein hohes Passport-Ranking hilft wenig, wenn man sich das Reisen nicht leisten kann. Letztlich geht es darum, technische Lösungen zu entwickeln, die den politischen Modernisierungsvorgaben entsprechen, aus ethischer Sicht Persönlichkeitsrechte sicherstellen, dem Datenschutz Vorrang geben und mit Kapitel 3 der DSGVO übereinstimmen sowie jeden und jede mit Rechten ausstatten wie zum Beispiel auf transparente Entscheidungen, Widerspruch, Berichtigung und Entschädigung.
Politische Einwände
Neben diesen ethischen Fragen müssen politische Einwände diskutiert werden. Zu diesen gehört das Argument, dass Regierungen Entscheidungen über den Zugang zum Staatsgebiet generell als Kernbereich staatlichen Handelns betrachten und hier keine Kompetenzen aufgeben wollen. Dagegen steht, dass mit einem modernisierten Reisesystem noch keine Entscheidungen über längerfristige Aufenthalte etwa zu Arbeitszwecken getroffen würden; derartige Entscheidungen blieben die »domaine reservée« der Staaten. Angegangen würde aber das Problem, dass ein für den Globalen Süden frustrierendes Reiseregime kontraproduktiv ist, weil es auch die Zusammenarbeit bei anderen Themen behindert. Hingegen würde ein transparenter Prozess mit dem Ziel, die globale Mobilität für alle zu erleichtern, Kooperation vor Unilateralismus setzen und neue Möglichkeiten für Zusammenarbeit schaffen, um irreguläre Migration und die ungerechtfertigte Weiterwanderung von Asylsuchenden besser zu bewältigen.
Grundsätzlich wäre eine internationale Mobilitätspolitik auch wirtschaftlich für alle beteiligten Akteure vorteilhaft, so dass zu erwarten ist, dass sich genügend Länder für ein solches Vorhaben finden würden. Und Deutschland hätte den politischen Spielraum und die technische Kompetenz, einen Beitrag für die Modernisierung der internationalen Mobilität zu leisten – und den Willen dazu, wie der Koalitionsvertrag im Hinblick auf die Visaerteilung zeigt.
Handlungsempfehlungen
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Die Bundesregierung sollte die Entwicklung einer nationalen Strategie zur Modernisierung der internationalen Mobilität mit digitalen Mitteln initiieren und dazu Partner in Wirtschaft, Technologie und Zivilgesellschaft mobilisieren.
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Außerdem wäre seitens der Regierung zu prüfen, ob ein Vertrauenssystem mit digitaler Plattform in öffentlich-privater Partnerschaft und als Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet werden kann.
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Überdies sollte die Bundesregierung den Anstoß für einen internationalen Politikdialog geben, der in Verhandlungen über einen »Globalen Pakt für Internationale Mobilität« münden könnte und der die Schwächen von technischen Prozessen wie »Trusted Traveller« benennt.
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Wirtschaft, Dienstleister und Sozialpartner sollten sich erstens an dem Strategiedialog beteiligen, zweitens am Aufbau einer digitalen Plattform, die mit Dienstleistungen (z. B. Versicherung, Zahlungsverkehr, Reise und Touristik, Konsumentenberatung) die Mobilitätspolitik unterstützt, sowie drittens an den Aufsichtsgremien eines Vertrauenssystems mit digitaler Plattform.
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Schließlich ist es wichtig, die Zivilgesellschaft in diesen Dialog einzubeziehen und dass sie an den Aufsichtsgremien eines Vertrauenssystems mitwirkt. Zudem könnte sie eine digitale Plattform mit zivilgesellschaftlichen Angeboten zur Information, Beratung und Zusammenarbeit betreiben. Nicht zuletzt könnte sie sich über diese Plattform mit ausländischen zivilgesellschaftlichen Akteuren zu Themen der internationalen Mobilität austauschen.
Dr. Steffen Angenendt ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen der SWP.
Karl Steinacker ist Digital Advisor im International Civil Society Centre, Berlin.
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doi: 10.18449/2022A10