Während sich die Kluft zwischen EU und Türkei auf politischer Ebene vertieft, findet auf gesellschaftlicher Ebene längst eine Annäherung statt. Kulturelle Einwände gegen den EU-Beitritt sollten daher in den Beitrittsverhandlungen keine Rolle mehr spielen, meint Yaşar Aydın.
Kurz gesagt, 16.09.2013 ForschungsgebieteYaşar Aydın
Während sich die Kluft zwischen EU und Türkei auf politischer Ebene vertieft, findet auf gesellschaftlicher Ebene längst eine Annäherung statt. Kulturelle Einwände gegen den EU-Beitritt sollten daher in den Beitrittsverhandlungen keine Rolle mehr spielen, meint Yaşar Aydın.
Autoritäre Tendenzen in der politischen Führung und die Proteste in der Türkei, die erst jüngst wieder einen Toten gefordert haben, haben die Chancen auf einen EU-Beitritt für das Land noch einmal verschlechtert. Dies obwohl die Proteste zeigen, dass es in der Türkei eine starke, pro-westlich orientierte Zivilgesellschaft gibt, die erst durch die im Jahr 1999 eröffnete Beitrittsperspektive und die folgenden Reformen entstehen konnte. Um diese Zivilgesellschaft als Grundlage einer funktionierenden Demokratie weiter zu stärken, sollte die EU nun entschlossen auf einen Beitritt der Türkei hinwirken.
Entfremdung auf der politischen Ebene
Aufgrund von verzerrten Wahrnehmungen und Populismus auf beiden Seiten hat sich zwischen Europa und der Türkei eine tiefe Kluft aufgetan, die den Beitrittsprozess gefährdet. In Europa haben sich auf der politischen Ebene bereits vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 kulturalistisch ausgrenzende Positionen entwickelt. Der Türkei wurden »kulturelle Andersartigkeit«, »Demokratieunfähigkeit« oder »EU-Untauglichkeit« vorgeworfen. Frankreich und Zypern blockierten bei den Beitrittsverhandlungen die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel. Sie trugen damit dazu bei, dass die anfängliche Europabegeisterung in der Türkei in Skepsis und später in anti-westliche Ressentiments umschlug, von denen sich auch säkular-westlich orientierte Bürger haben beeinflussen lassen. Statt auf weitere Reformen und Demokratisierung zu setzen, um die EU und europäische Regierungen unter Druck zu setzen und so die Beitrittsverhandlungen voranzubringen, ging die türkische Regierung populistisch auf Distanz zur EU. Diese Distanz hat sich angesichts der wirtschaftlichen und außenpolitischen Erfolge der letzten Jahre verstärkt. Und auch der Durchbruch in den Verhandlungen mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) über eine friedliche Lösung des Kurdenproblems sowie die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa haben dazu beigetragen, dass die EU für die Staatsführung an Attraktivität verloren hat.
In Deutschland war es die Vermengung des EU-Beitritts der Türkei mit Fragen der Migration, Integration und Sicherheit, die Ängste schürte und zu falschen Schlussfolgerungen führte. In Medien und Politik wurden für den Fall eines EU-Beitritts Zuwanderungsströme aus der Türkei und damit eine Beeinträchtigung der Integration und öffentlichen Sicherheit (Stichwort »islamistischer Terrorismus«) prognostiziert. Tatsächlich jedoch hat sich die Zuwanderung aus der Türkei nach Deutschland in den letzten Jahren verlangsamt, während umgekehrt die Abwanderung aus Deutschland in die Türkei zugenommen hat. Die Islamdebatte nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 hat kulturalistische Positionen noch verstärkt, die die Türkei außerhalb von Europa verorten.
Annäherung vor allem auf gesellschaftlicher Ebene
Trotz solcher Abgrenzungsbemühungen auf der politischen Ebene findet eine Annäherung statt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert durchläuft die Türkei einen Modernisierungsprozess, der mit der Verleihung des Beitrittskandidatenstatus an das Land 1999 Fahrt aufgenommen hat. Zahlreiche Reformen haben Staat und Gesellschaft demokratisiert, liberalisiert und pluralisiert und damit an das europäische Wertesystem herangeführt. Trotz gelebter Religiosität ist der westliche Habitus der Türkei heute kaum zu übersehen. Auch wenn nicht alle Beitrittsbedingungen erfüllt und alle strukturellen und politischen Probleme gelöst sind, sind seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 beachtliche Fortschritte erzielt worden.
In den letzten Jahren hat sich zudem die Mobilität zwischen Europa und der Türkei intensiviert. Immer mehr Menschen reisen aus touristischen Zwecken aus der Türkei nach Europa und umgekehrt. Auch immer mehr Arbeits-, Bildungs- und Ruhestandsmigranten pendeln regelmäßig zwischen Europa und der Türkei. So sind transnationale soziale Netzwerke und Organisationen entstanden, die in beiden oder mehreren Gesellschaften aktiv sind. Sie intensivieren die grenzüberschreitenden Verflechtungen unterhalb der staatlichen Ebene, eröffnen neue Kooperationsmöglichkeiten und ermöglichen dialogische Begegnungen zwischen den Kulturen. In vielen europäischen Staaten leben transnational orientierte türkische Migranten, die sich zu den jeweiligen Mehrheitskulturen zugehörig fühlen, ohne sich von ihrer Herkunftskultur zu distanzieren. Sie zeigen, dass muslimische Religionszugehörigkeit und europäisches Alltagsleben durchaus vereinbar sind. Kulturelle Einwände gegen den EU-Beitritt erscheinen in diesem Licht längst überholt und dürfen in den Beitrittsverhandlungen keine Rolle mehr spielen.
Beitrittsperspektive trotz autoritärer Tendenzen in der Führung
Politiker, die am 12. September 1963 das Assoziierungsabkommen zwischen Europa und der Türkei unterzeichnet haben, waren in dieser Frage schon einmal weiter: Sie definierten die Idee von Europa nicht kulturell, sondern politisch. Es ist an der Zeit, diese Idee wieder aufzugreifen und der Türkei, losgelöst von kulturellen Erwägungen, eine glaubhafte Beitrittsperspektive zu eröffnen. Dies könnte die pro-westliche Opposition in der Türkei stärken und die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter Druck setzen, auf den Pfad der Demokratisierung zurückzukehren.
Der Text ist auch bei EurActiv.de und Handelsblatt.com erschienen.