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Die Frage der Gemeinschaftskompetenzen aus deutscher und französischer Sicht

Arbeitspapier 36, 15.08.2002, 3 Seiten

Zusammenfassung

Wer macht was in Europa, wer soll für was verantwortlich sein? Wo sind die Grenzen der Befugnisse der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber dem Bürger? Die Erklärung von Laeken sucht nach einer präziseren Abgrenzung der Kompetenzen im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip. Es geht um die Verteilung und Begrenzung der Macht in der Europäischen Union, zugleich aber auch um den Erhalt von Handlungsspielräumen für Mitgliedstaaten, ihre Länder, Regionen und Bürger.

Die nationalen Debatten um diese zentralen Verfassungsfragen Europas haben in Deutschland und Frankreich unterschiedliche Intensität, Akzente und Motive. In Deutschland liegt der Ursprung der Sorge der Länder darin, die für ihre Existenz und Legitimität essentiellen politischen Handlungsspielräume zu verlieren. In Frankreich dagegen bestehen Bedenken bezüglich der Übertragung des deutschen föderalen Modells auf die Union einerseits, und die Sorge um die Erhaltung der nationalen Souveränität andererseits. In beiden Ländern verbindet sich die Debatte mit der Überzeugung, dass es um die Kernfrage einer europäischen Verfassung geht und das Ziel vor allem mehr Klarheit und Rechtssicherheit sein muss. Gemeinsam ist dabei auch das Votum für eine Systematik der der Union zugewiesenen Kompetenzen mit der Unterscheidung zwischen ausschließlichen, geteilten/konkurrierenden, Koordinierungs-/ Ergänzungskompetenzen etc. Ein Kompetenzkatalog nach deutschem Muster steht indessen nicht mehr zur Debatte. Überlegungen zu einer prozeduralen Abstützung der Kompetenzabgrenzung, sei es durch den Europäischen Gerichtshof , sei es durch ein neues Kompetenz- bzw. Verfassungsgericht, sei es durch ein eher politisch / parlamentarisches Kontrollgremium gibt es in gleicher Weise in beiden Ländern.

Trotz aller Definitionsprobleme und alternativen Ordnungsmodelle erscheint es auf dieser Grundlage möglich, eine Kompetenzordnung zu entwerfen, die im Rahmen eines die drei Säulen der EU verschmelzenden Verfassungs(vertrags-)textes das geltende Recht vereinfachend zusammenfasst und zugleich präzisiert. Es beruht auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und folgenden Strukturprinzipien:

  • In Anlehnung an das geltende Recht werden bestimmte Kategorien der Recht-setzungskompetenzen unterschieden und in einem einführenden Kapitel jeweils mitsamt den zur Verfügung stehenden Handlungsinstrumenten definiert.
  • Diesen Kategorien werden die betreffenden Politikbereiche zugeordnet, wobei die Handlungsbefugnisse und ihre Grenzen in einer gegenüber dem geltenden Recht stark vereinfachten Form und Sprache beschrieben werden.
  • Besondere Regeln gelten für die Handlungs- bzw. Beschränkungsverbote und Harmonisierungskompetenzen, die sich auf die Herstellung und das Funktionieren des Binnenmarktes und die Sicherung des Wettbewerbs beziehen.
  • Für den Vollzug des europäischen Rechts wird die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten festgelegt, wobei spezielle Exekutiv- oder Konkretisierungsbefugnisse der EU (Kommission) einer ausdrücklichen Ermächtigung bedürfen.

Mit der so erreichten Systematisierung der Kompetenzzuweisungen unabdingbar verbunden wäre die politische Absicherung des Handlungsspielraums der Mitgliedstaaten bei der Ausübung der der Union zugewiesenen Kompetenzen gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sowie die Klärung der Frage, was mit den sehr differenzierten Bestimmungen des geltenden Vertragsrechts zu den einzelnen Politikbereichen geschehen soll. Zu letzterem wird übereinstimmend empfohlen, das bislang geltende Vertragsrecht, soweit es der neuen Verfassung nicht widerspricht als "Organgesetz" weiter in Geltung zu halten. Organgesetze müssten im Rang zwischen Verfassung und Sekundärrecht stehen und der Abänderung mit qualifizierter Mehrheit des Rates und Zustimmung des Europäischen Parlaments unterworfen sein.

Geteilt sind die Meinungen über den Vorschlag, die politische Kontrolle der Subsidiarität und der Einhaltung der Kompetenzgrenzen durch den europäischen Gesetzgeber einem Parlamentarischen Subsidiaritätsausschuss zu übertragen. Hat er neben der Rechtskontrolle durch den EuGH eine Funktion? Ist eine - präventive - Rechtskontrolle durch den EuGH vorzugswürdig? Sollten in ihm auch die Länder/Regionen vertreten sein? Der Vorschlag eines Klagerechts der Regionen zum EuGH in Fällen möglicher Eingriffe in die ihnen vorbehaltenen Kompetenzen dürfte dabei noch am wenigsten kontrovers sein. Dasselbe gilt umgekehrt für die Erhaltung der für die Integration nötigen Flexibilität durch die Beibehaltung der Kompetenzen nach Art. 95 und 308 EGV. Dass hier eine Präzisierung im Sinne der Rechtsprechung nützlich wäre, ist nicht bestritten, ob hiermit Harmonisierungsmaßnahmen zur Herstellung der Wettbewerbsgleichheit ausgeschlossen oder ausdrücklich erfasst sein sollen, ist zu klären. Nur aufgeworfen sind auch die Fragen einer stärkeren Einbeziehung der Regionen in den Entscheidungsprozeß der Union, sowie schließlich der Flankierung der Sachkompetenzen der Union durch eine fiskalische Zuständigkeit und vor allem finanzielle Verantwortlichkeit der Union gegenüber dem Bürger für die von ihr veranlassten Kosten (europäische Steuer).

II. Vorschläge für den Konvent (I. Pernice)

Wie die Frage der Grundrechte ist die Kompetenzfrage eine Schlüsselfrage jeder Verfassung, denn mit ihr stellt sich das Problem der Gewaltenteilung und der Teilung der Souveränität zwischen der nationalen und der europäischen Ebene. Aus diesem Grunde nehmen alle politischen Diskurse in der europäischen Verfassungsdebatte darauf Bezug. Es handelt sich um den ersten inhaltlichen Punkt, den der Verfassungskonvent zu behandeln hat. Dennoch braucht das Rad nicht neu erfunden zu werden, die Verträge beinhalten einen detaillierten, gelegentlich zu detaillierten und zu komplexen Kompetenzkatalog, und die Staatsrechtslehre beschäftigt sich seit mindestens 35 Jahren mit dem Problem. Als einer der ersten hat sich Vlad Constantinesco in seiner 1974 erschienenen Doktorarbeit "Compétences et pouvoirs dans les Communautés européennes" mit diesem Thema beschäftigt.

In der künftigen Verfassung der Europäischen Union, die die drei Säulen des geltenden Primärrechts abdecken und einen - zumindest - für die politischen Akteure, wenn nicht auch für die Unionsbürger lesbaren, transparenten und verständlichen Text vorlegen muss, gilt es daher ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Vereinfachung und der notwendigen Systematik einerseits und der Differenzierung und der erforderlichen Präzision bei den Definitionen der Handlungsbefugnisse, die den europäischen Institutionen zugewiesen werden andererseits. Zu viel Vereinfachung, aber auch zu viel Komplexität der Texte würde das Ziel der Rechtssicherheit gefährden. Daher muss es das Ziel sein, die den Organen der Union übertragenen Verantwortungsbereiche zu beschreiben, ohne sämtliche Einzelheiten der gegenwärtig bestehenden Zuständigkeiten zu übernehmen (1). Die Einhaltung