Direkt zum Seiteninhalt springen

Die Corona-Pandemie und Xi Jinping

Vier Herausforderungen für den mächtigsten Mann Chinas

SWP-Aktuell 2020/A 26, 09.04.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A26

Forschungsgebiete

In China hat die Ausbreitung des Coronavirus die Kommunistische Partei (KP) und Staats- und Parteichef Xi Jinping vor große Herausforderungen gestellt. Anders als bei den Tiananmen-Protesten, der SARS-Epidemie 2003 oder der globalen Finanzkrise 2008 geht es heute nicht nur um den Machterhalt der KP, sondern auch um den des Mannes an ihrer Spitze: Xi Jinping ist der erste Parteichef seit der Zeit Mao Zedongs, der alle Fäden der Politik in China in einer Hand hält. Bislang scheint die Corona-Pandemie Xis Machtposition nicht zu beeinträchtigen oder gar zu gefährden. Als Xis Achillesferse könnte sich jedoch die Wirtschaft erweisen, sollte es hier zu einer massiven Verschlechterung der Lage kommen.

Ihre besondere Dramatik erhält die Covid-19-Pandemie daraus, dass sich ein höchst­ansteckender Virus in einer Welt verbreiten kann, die durch einen bis dato unbekannten Grad an Vernetztheit gekennzeichnet ist. Die Globalisierung hat aber zugleich auch neuartige technologische Möglich­keiten verfügbar gemacht, um derartige Herausforderungen zu bewältigen. Staats- und Partei­chef Xi Jinping hat gezeigt, wie eine erfahrene Führung in einem Ein­parteienstaat eine solche Gesundheits­notlage managen kann. Im Fokus der fol­genden Analyse stehen die Implikationen der Covid-19-Pandemie für die Macht­position von Xi. Daher werden gesund­heitspolitische Aspekte dieser Krise oder daran anknüpfende Diskurse wie der über einen Systemwettbewerb zwischen China und insbesondere den USA nicht ein­gehender behandelt.

Vier Herausforderungen für Xi Jinping und die KP

Die KP und Xi stehen vor vier unterschiedlich gelagerten Herausforderungen.

Die medizinische und gesund­heitspolitische Herausforderung

Nach dem Ausbruch der Pandemie stand für die KP das Bestreben im Vordergrund, den Virus einzudämmen. Deshalb musste schnell gehandelt wer­den. Die Partei sprach bald sogar von einem »Volkskrieg«. Dieser hatte drastische Konsequenzen: Die Mobili­tät im ganzen Land wurde durch Isolations­maßnahmen eingeschränkt. Beim Stand von offiziell rund 400 Infizierten wurden am 23. Januar umgehend 60 Millionen Menschen in der Provinz Hubei abgeriegelt. In Metropolen wie Peking wurden die alten »Nachbarschaftskomitees« wieder­belebt, etwa um Straßenblockaden durch­zusetzen. Infizierte Personen wurden mit moderner Überwachungstechnologie getrackt. Telefon­gesellschaften wie China Mobile, App-An­bieter wie Alibaba und das engmaschige Netz von Kameras mit Gesichtserkennungs­technologie lieferten den Behörden Massen von Daten, die sie zur Eindämmung der Pandemie nutzten. Nach jetzigem Kenntnis­stand müssen diese Maßnahmen als effek­tiv bewertet werden. Am 18. März meldeten die chinesischen Behörden erstmals, nach­dem sie offiziell mit der Zählung der In­fizierten begonnen hatten (Ende Dezember), dass es in Wuhan keine Neuinfektionen gebe. Die wenigen neuen Fälle seither (in Wuhan und im Rest des Landes) betreffen Menschen, die sich nach Angaben der chi­ne­sischen Gesundheits­behörde im Ausland infiziert haben sollen. Wie belastbar solche Aussagen sind, muss angesichts der erwie­senen Falschdarstellung mancher Ereignisse in der Krise durch die chinesischen Behör­den und mit Blick auf die Zweifelhaftigkeit der von ihnen veröffentlichten Statistiken offenbleiben.

Die politische Herausforderung

Bei der Eindämmung des Virus ging es der KP auch darum, das Image einer unfehl­baren Staatsmacht – und als deren ersten Repräsentanten das des verlässlichen Füh­rers Xi Jinping – zu erhalten. Investigative Nachforschungen wie die des Magazins Caixin haben ergeben, dass sowohl die loka­len (Hubei) als auch die nationalen Gesund­heitskommissionen zunächst versucht hat­ten, den Informationsfluss zu unterdrücken. In seiner ersten öffentlichen Äußerung zu der Pandemie machte Xi am 20. Januar klar, dass es sich um einen Erreger handele, der von Mensch zu Mensch übertragbar ist. Chinesische Behörden bestätigten dies kurz darauf öffentlich. Zu welchem Zeitpunkt Xi persönlich informiert wurde, ist nicht be­kannt. Aber ein Beleg für die anfänglichen Vertuschungsbestrebungen ist auch, dass Xi erwiesenermaßen erheblich früher über die Ausbreitung des Virus Bescheid wusste als öffentlich bekannt. Aus einer Rede Xis am 3. Februar geht hervor, dass er bereits am 7. Januar auf einer Politbüro-Sitzung Anwei­sungen zum Kampf gegen den neuartigen Virus gab. Die große Lücke zwischen den beiden Daten (7.–20.1.) ist ein Indiz dafür, für wie gefährlich die Krise für das Image des Staats- und Parteichefs eingestuft wurde. Um zu vermeiden, mit falschen Äußerungen Hoffnung zu verbreiten, wo es vielleicht keine gab, oder umgekehrt gar unnötig zu warnen, ging Xi auf Nummer sicher und äußerte sich zu der Infektionswelle gar nicht öffentlich. Das zeigt, von welcher Un­sicherheit die chinesische Infor­mationspoli­tik zunächst geprägt und wie sehr Xi darauf bedacht war, seine Autorität zu wahren.

In einem zweiten Schritt gab Xi die Ver­antwortung für das Krisenmanagement an Premierminister Li Keqiang ab, den er Ende Januar zum Leiter einer neu gegründeten, mit der Kampagne zur Eindämmung der Corona-Epidemie beauftragten »zentralen Arbeitsgruppe« berufen hatte. Die Ernen­nung von Li ist insofern außergewöhnlich, als Xi alle anderen derartigen Gruppen per­sönlich führt. Hier ging es darum, den Par­teichef davor zu schützen, im Falle einer Eskalation der Epidemie die Verantwortung übernehmen zu müssen. Im Einklang mit dieser Prioritätensetzung wurden die loka­len Entscheidungsträger in Wuhan Anfang Februar abgesetzt. Die Botschaft war un­miss­verständlich: Xi verzeiht keine Fehl­tritte. Nachdem sie zuerst auf Geheimhaltung gesetzt hatte, ging die KP nun in die Offen­sive. Anfang März verschob sie als Zeichen der Ernsthaftigkeit ihres Covid-19-Abwehr­kampfs den Nationalen Volks­kongress, der für den 5. März geplant war – erstmals seit dem Ende der Kulturrevolution.

In dem Bemühen, das Image Xis und der Partei zu schützen, begann die KP in einem dritten Schritt den »Kampf gegen den Virus« zu ideologisieren und ein Narrativ zu eta­blie­ren. Der achtköpfigen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Li Keqiang wurde auch Wang Huning, Propagandachef im Politbüro, zu­geteilt. Diese Entscheidung zeigt, welch großen Wert die KP auf die öffentliche Berichterstattung über die Gesundheitskrise legte. 300 Reporter der Parteimedien wurden früh nach Wuhan geschickt, um positiv über die Bekämpfung der Epidemie zu berichten. Im Verlauf der letzten Wochen nahm das Narrativ der Re­gie­rung Gestalt an und die KP fand zurück zu jenem selbst­bewussten Diskurs, den Beobachter Chinas aus den letzten Jahren gewohnt waren. Anfang Februar hatte der Ständige Ausschuss des Politbüros noch eingeräumt, dass man Lehren aus der Krise ziehen müsse. Inzwischen lautet der Tenor der chinesischen Medien: »Chinas Sieg (über den Virus) ist nahe«. Zudem wird suggeriert, dass andere Staaten nicht so effektiv wie China auf die Krise reagiert hätten. Ende Februar äußerte der chinesische Atemwegsexperte Zhong Nanshan, dass der Virus nicht notwendig aus China stammen müsse. Seither wird diese Information gezielt in Umlauf gebracht. Unbestritten ist allerdings (noch), dass der Virus sich von Wuhan aus verbreitete. Die Aussage Zhongs kann als Versuch der KP gewertet werden, das Nar­rativ von der heroischen Pandemiebekämpfung an das immer wieder konstruierte Bild Chinas als Opfer des Westens, insbesondere der USA, anzupassen: Demnach müsse die Welt China dankbar sein, weil es bei der Eindämmung des Virus große Opfer ge­bracht und enorme wirtschaftliche Kosten getra­gen habe. Entsprechende Statements haben zu einem rhetorischen Schlagabtausch zwischen Washington und Peking geführt.

In diesen drei Etappen– Vertuschen, Ab­geben der Verantwortung und Entwickeln eines für die KP günstigen Narrativs – hat Xi die politische Herausforderung, die von der Corona-Pandemie ausging, bislang er­folg­reich bewältigt.

Die zivilgesellschaftliche Herausforderung

Mit der Ankündigung Ende Januar, die Stadt Wuhan unter Quarantäne zu stellen, mehrte sich in den sozialen Medien die Kritik der Bevölkerung an den Behörden. Die Klagen richteten sich zumeist gegen die lokalen Autoritäten und nicht gegen Peking. Es ging also – von einigen wenigen Stim­men abgesehen – um die Parteikader, die vor Ort die Verantwortung trugen. Die Zen­tralregierung hat in den Augen der Bür­ger dagegen bewiesen, dass sie auf das Miss­management der lokalen Organe in der Krise zu reagieren wusste. Zu dieser posi­tiven Bewertung trägt wohl auch das Ge­fühl in der Bevölkerung bei, mit in das Krisenmanagement eingebunden worden zu sein. Die Nachbarschaftskomitees sind ein Relikt aus der Zeit Mao Zedongs. Aber zu ihren Eigenschaften gehört, dass durch die Mitwirkung in ihnen auch ein ansons­ten machtloser Bürger hoheitliche Befug­nisse erhalten kann, etwa die zu entscheiden, wer ein Wohnviertel betreten darf und wer nicht, und damit Teil einer engen Gemeinschaft wird.

Die wirtschaftspolitischen Herausforderungen

Die vielleicht größte Herausforderung für Xi ist es, die wirtschaftliche Entwicklung wieder in Gang zu bringen. Den Zahlen zu­folge, die die chinesische Statistikbehörde Mitte März veröffentlichte, brach die In­dus­trieproduktion in China im Januar und Februar um 13,5 Prozent ein. Zwar lockerte die Zentral­regierung ab Mitte/Ende März die Beschränkungen für Unternehmen und ge­stattete ihnen, ihre Produktion wiederaufzu­nehmen. Das wird jedoch voraussichtlich nicht ausreichen, ein Wirtschaftswachstum von 6 Prozent zu erzielen, wie es ursprünglich für dieses Jahr angesetzt war. Denn China ist in hohem Maße von der globalen ökonomischen Entwicklung abhängig. Xi hat also nur begrenzt Einfluss darauf, ob vor allem die Konsum- und Dienstleistungssektoren sich rasch genug erholen und ob die transnationalen Lieferketten noch län­ger unterbrochen bleiben. Letzteres könnte aber durchaus die Folge der weltweiten Aus­breitung des Coronavirus sein. Wenn die ganze Welt in eine Rezession rutscht, würde es in China großflächig zu Insolvenzen kommen, vor allem im Mittelstand, und zu millionen­facher Arbeitslosigkeit. Eine wirt­schaftliche Krise würde die Bevölkerung schwerer treffen als die Corona-Krise. In einem solchen Fall würden die Bürger mög­licherweise doch wieder nachdrücklicher nach dem Verantwortlichen fragen. Dies könnte für Xi in der Tat eine Gefahr darstel­len. Denn die Herrschaftslegitimation der KP und Xi fußt auf deren Versprechen an die Gesellschaft, Wohlstand und soziale Stabilität zu gewährleisten.

Mögliche Auswirkungen auf die Stellung Xi Jinpings

Auch wenn die Krise noch nicht überstan­den ist, zeichnet sich bereits heute ab, wel­che Folgen die Epidemie für die Autorität Xi Jinpings hat bzw. nicht hat. Es deutet sich immer stärker an, dass Xi auch für den Um­gang mit der Corona-Notlage die Verantwor­tung übernehmen wird, nicht nur für sozia­le oder wirtschaftliche Verwerfungen. Die Machtstellung Xis scheint so robust zu sein, dass sie von solchen Anfechtungen nicht beeinträchtigt wird. Xi, so erweist sich jetzt, hat ein Herrschaftssystem errichtet, das nicht nur die gegenwärtige Herausforderung meistern, sondern diese sogar noch für eigene Zwecke nutzbar machen konnte. Xi hat die Krise als Chance begriffen. Er hat es verstanden, seine Macht zu stärken, und wird derzeit überall im Land als Held por­trätiert. Der Staatsrat wird demnächst ein Buch auf den nationalen und den inter­nationalen Markt bringen, in dem Xis »außergewöhnliche Führungsstärke als Lenker einer Großmacht« dargestellt wird. Als Höhepunkt dieser Erzählung gilt sein erster Wuhan-Besuch am 10. März: Sein Auftritt sollte ein klares Signal senden, dass sich das Blatt nun gewendet und China den Virus besiegt hat. Zudem hat Xi bewiesen, dass seine Krisenstrategie erfolgreich war. Leitprinzip seines Handelns war, dass jeder Schritt im Krisenmanagement dem Macht­erhalt der Partei und seiner selbst unter­zuordnen ist. Das schließt ein, dass es mit­unter zu einer Diskrepanz kommt zwischen der Rhetorik der KP und den tatsächlichen Ereignissen.

Langfristige Folgen für Xi Jinping

Die KP hat bislang vehement an zwei Fron­ten gleichzeitig gekämpft: Eindämmung der Epidemie und Kontrolle des Informationsflusses. Der Rückgang der Infiziertenzahl ist ein Erfolg der Zentralregierung und damit Xi Jinpings. Die KP hat bewiesen, dass das von ihr geschaffene Herrschaftssystem nach ihren Kriterien erfolgreich arbeitet. Die eigentliche Schwachstelle dieses Systems ist indes die wirtschaftliche Entwicklung. Soll­te die Wirtschaft in diesem Jahr einen Ein­bruch erleben – Experten vermuten sogar den größten seit Beginn der Reform- und Öff­nungspolitik 1979 –, dann könnte eine solche Rezession vor dem Hintergrund der Niederlagen, die Peking im letzten Halbjahr erlitten hat (Handelskrieg mit den USA, Hongkong-Krise, Wahl einer chinakritischen Regierung in Taiwan), Xi entscheidend schwächen. Vorläufig ist jedoch eine Stär­kung der Stellung Xis zu erwarten. Er hat die Krise mit den traditionellen Mitteln der chinesischen Kommunistischen Partei gemanagt und da­mit vielleicht sogar die genannten Rückschläge des letzten Halb­jahrs einstweilen vergessen gemacht.

Schlussfolgerungen für die deutsche und europäische Politik

Für die deutsche und europäische China­politik verheißen beide Szenarien – Stär­kung oder Schwächung Xis – nichts Gutes. Ersteres hieße, dass Deutschland und die EU es mit einem noch selbstbewussteren China zu tun hätten. Das dürfte wichtige Gesprä­che erschweren, wie das der EU mit Peking über ein Investitionsschutzabkommen. Eine Schwächung Xis wäre jedoch ebenso eine schlechte Nachricht. Nicht wegen des Macht­verlusts Xis, sondern weil es die Konsequenz einer Wirtschaftskrise in China wäre, dem wichtigsten außereuropäischen Handelspartner Deutschlands. Die deutsche und die europäische Wirtschaft würden davon massiv in Mitleidenschaft gezogen.

Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6364