Nach dem erfolgten Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) aus der Europäischen Union (EU) gehen die Brexit-Verhandlungen in die nächste, entscheidende Phase: In nur noch zehn Monaten Übergangszeit gilt es, das zukünftige Verhältnis von EU und VK in Wirtschaft, innerer Sicherheit und Außenpolitik sowie einen institutionellen Gesamtrahmen auszuhandeln. Doch die Vorzeichen stehen auf Konfrontation. Oberste Maxime der innenpolitisch gestärkten britischen Regierung ist die absolute Abgrenzung von der EU, die Liste von Konfliktpunkten mit den Verhandlungszielen der Union ist lang. Gemeinsam müssen die Verhandlungsführer ein neues Modell der Zusammenarbeit zwischen Partnerschaft und Wettbewerb finden.
Dreieinhalb Jahre sind seit dem Referendum vergangen, bis das Vereinigte Königreich die EU am 31. Januar 2020 verlassen hat. In zähen Verhandlungen mit vielen Irrungen und Wirrungen vor allem in London ist es den politischen Entscheidungsträgern und Verhandlungsführern am Ende gelungen, einen geordneten Brexit herbeizuführen, die Scheidung geregelt zu vollziehen.
Allerdings klärt das nunmehr in Kraft getretene Austrittsabkommen eben »nur« die Scheidungsfragen: Hierzu gehören 1) alle Fragen des Übergangs, die bei einer so komplexen Entflechtung notwendigerweise geregelt werden müssen, etwa der Umgang mit laufenden Gerichtsverfahren, 2) der Schutz der Rechte von EU-Bürgern im VK und umgekehrt, 3) die britischen Verpflichtungen für den EU-Haushalt und 4) geographische Sonderregelungen etwa für Gibraltar und insbesondere Nordirland. Schließlich schafft das Austrittsabkommen gemeinsame Institutionen und legt eine Übergangsphase bis Ende 2020 fest. Während dieser Übergangsphase wird EU-Recht im Vereinigten Königreich weiterhin angewandt (einschließlich des vollen Zugangs zu Binnenmarkt und Zollunion), und das VK zahlt wie bisher in den EU-Haushalt ein, muss aber alle EU-Institutionen verlassen.
Erneut Zeitdruck mit Tücken
Jetzt müssen die eigentlich kritischen Fragen des Brexits geklärt werden: das zukünftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU in Wirtschaft, innerer Sicherheit, Außen- und Sicherheitspolitik sowie vielen weiteren Bereichen. Der Zeitraum für diese Verhandlungen ist äußerst eng. Gemäß Austrittsvertrag endet die Übergangszeit am 31. Dezember 2020. Innerhalb dieser Frist soll zumindest ein neuer Handelsvertrag zwischen der EU und dem VK vereinbart werden, andernfalls würde Großbritannien ohne Folgeabkommen aus Binnenmarkt und Zollunion herausfallen.
Das erinnert an die bisherigen Brexit-Verhandlungen, die ebenfalls binnen einer bestimmten Frist haben stattfinden müssen; ansonsten hätte der No-Deal-Brexit gedroht. Dennoch stellt sich die aktuelle Situation anders dar: Zunächst drängt die Zeit noch mehr als zuvor. Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) setzt eine Frist von zwei Jahren, um ein Austrittsabkommen zu verhandeln. Selbst diese zwei Jahre reichten beim Brexit nicht aus, sich über die vier »Scheidungsaspekte« zu einigen, auch wegen des politischen Chaos in London. Die Frist musste daher insgesamt dreimal verlängert werden, um den No-Deal-Brexit zu verhindern. Die Übergangsphase ist mit elf Monaten erheblich kürzer. Die durchschnittliche Verhandlungsdauer für jüngere, umfangreiche EU-Handelsverträge, wie für diejenigen mit Kanada oder Japan, liegt bei etwas mehr als fünf Jahren.
Entscheidend für die Dynamik der Verhandlungen ist auch, dass sich der No-Trade-Deal-Brexit hinsichtlich seiner Tragweite deutlich von einem No-Deal-Brexit unterscheiden würde. Das Vereinigte Königreich ist geordnet aus der EU ausgetreten, zentrale Themen des Übergangs sind geklärt. Was bei einer Nichteinigung bliebe, wäre »nur« der Rückfall auf Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), also die Wiedereinführung von Zöllen, Grenzkontrollen und allen damit verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen. Da die EU als Ganzes für das VK wesentlich wichtiger ist (ca. 49 Prozent des britischen Außenhandels) als umgekehrt (ca. 15 Prozent des EU-Außenhandels), ist, nüchtern betrachtet, wiederum der Druck auf London größer, eine Einigung zu finden. Dort sind die politischen Hemmungen, ein Scheitern der Verhandlungen zu riskieren, jedoch spürbar geringer als noch vor dem No-Deal-Brexit, der ein schwerer wiegendes Chaos befürchten ließ. Für Teile der britischen Regierung ist ein No-Trade-Deal-Brexit, von Premierminister Boris Johnson nunmehr als »Australien«-Modell bezeichnet, ein mindestens akzeptables, wenn nicht sogar bevorzugtes Verhandlungsergebnis.
Zudem sind die Bedingungen für eine Verlängerung der Übergangsphase ungleich schwieriger. Die Verhandlungen nach Artikel 50 EUV konnten mehrfach und bis zur letzten Minute vor Ende der Frist einstimmig verlängert werden; für die Übergangsphase ginge das nur einmal bis spätestens Ende 2022. Politisch gewichtiger ist, dass die Entscheidung über eine Verlängerung gemäß Artikel 132 des Austrittsabkommens bereits bis zum 30. Juni 2020 getroffen werden müsste. Falls sich im Herbst 2020 abzeichnet, dass vorerst keine Einigung auf einen Handelsvertrag zustande kommt oder die Ratifizierung stockt, ist rechtlich keine Verlängerung der Frist mehr möglich. Vor allem hat der britische Premier Johnson einen Antrag auf Verlängerung der Übergangsphase kategorisch ausgeschlossen und dies rechtlich verankern lassen. Zwar könnte er dies wieder revidieren und die Regelung vom Parlament rückgängig machen lassen, die politischen Kosten für ihn wären aber trotz seiner nun komfortablen Mehrheit hoch. Derzeit ist nicht zu erkennen, was ihn sechs Monate vor Ablauf der Frist zu einem solchen Politikwechsel drängen sollte.
Der innenpolitische Sieg der Brexiteers
Denn die größte Veränderung im Vergleich zu den bisherigen Brexit-Verhandlungen ist der fast vollständige innenpolitische Triumph der Brexiteers unter Premier Johnson. Nach den verlorenen Neuwahlen von 2017, nach denen Theresa May nur noch mit Hilfe der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) regieren konnte, war die britische Regierung bei einer ihrer komplexesten außenpolitischen Verhandlung ohne eigene Mehrheit. Die Folgen sind bekannt: Theresa May verlor mehr Abstimmungen im Parlament als ihre fünf Vorgänger zusammen, auch Boris Johnson konnte bis zu den Neuwahlen im Dezember 2019 nur prozedurale Abstimmungen gewinnen. Einig war sich die Parlamentsmehrheit nur in der Ablehnung eines No-Deal-Brexits, alle anderen Brexit-Varianten fanden ebenso wenig Unterstützung wie ein zweites Referendum.
Seit dem Wahlsieg von Boris Johnson und seiner Konservativen Partei sind die politischen Voraussetzungen jedoch umgekehrt. Mit seinem Versprechen »Get Brexit Done« und der Vereinigung der Pro-Brexit-Wähler hinter seiner Partei hat Johnson einen dreifachen Erfolg erzielt. Erstens haben die Tories mit nunmehr 365 von 650 Abgeordneten die absolute Mehrheit wiedererlangt. Nicht nur ist Johnson jetzt nicht mehr auf die DUP als Mehrheitsbeschaffer angewiesen – vor allem können ihn einzelne Gruppen seiner Fraktion nicht mehr die Mehrheit kosten. Darüber hinaus hat er bei der Ratifizierung des Austrittsabkommens durchgesetzt, dass das Parlament beim Handelsabkommen weniger Mitspracherechte hat als beim Austrittsabkommen.
Zweitens hat Boris Johnson mit den Neuwahlen auch den über dreißig Jahre andauernden »Bürgerkrieg« in der Konservativen Partei über die Europapolitik gewonnen. Vor dem Referendum 2016 hatte sich der Großteil der konservativen Abgeordneten noch für einen Verbleib in der EU ausgesprochen, bis Ende 2019 waren nur noch 22 Tory-Abgeordnete übrig, die bereit waren, aus Protest gegen einen drohenden No-Deal-Brexit gegen die Parteiführung zu stimmen. Boris Johnsons Entscheidung, sie aus der Fraktion auszuschließen, kostete ihn im Herbst 2019 die Mehrheit. Allerdings schaffte es keiner dieser Abgeordneten bei den Neuwahlen zurück ins Parlament, ob sie nun als unabhängige Kandidaten oder für die Liberaldemokraten antraten. Das Signal an die Partei ist unmissverständlich – eine Rebellion gegen die Brexit-Politik wird es aus der Tory-Fraktion nicht mehr geben.
Drittens hat Boris Johnson zumindest temporär innenpolitisch freie Hand. Das britische politische System verleiht einem Premier mit absoluter Mehrheit eine weitgehend unkontrollierte Machtfülle. Zusätzlich haben die Labour-Partei (reduziert auf 202 Abgeordnete) und die Liberaldemokraten ihren Parteivorsitzenden bzw. ihre Parteivorsitzende verloren. Die innerparteipolitischen Prozesse zur Bestimmung der Nachfolge laufen bis April (Labour) bzw. sogar Juli (Liberaldemokraten). Beide Parteien müssen sich nach für sie desaströsen Wahlen neu finden und sind von einer effektiven Oppositionspolitik weit entfernt. Hinzu kommt, dass sich die zivilgesellschaftliche Remain-Bewegung allein auf ein zweites Referendum konzentriert hat. Nach dem Vollzug des Brexits fehlt ihr jetzt eine politische Strategie, auch weil die Forderung nach einer Rückkehr in die EU auf Jahre als unrealistisch eingestuft werden kann. Somit kann die britische Regierung nun fast ohne innenpolitische Schranken ihre eigene Brexit-Politik verfolgen.
Strategische Ausrichtung auf Konfrontation
Mit dieser neuen Machtfülle im Rücken positioniert sich die britische Regierung neu, sie geht auf Konfrontation mit der EU: Hierzu hat Boris Johnson, anders als Theresa May, von Anfang an in seinem Kabinett auf erklärte Brexit-Befürworter gesetzt. Alle führenden Regierungsmitglieder sind jetzt ausgewiesene Brexiteers, die sich schon vor dem Referendum 2016 für den EU-Austritt stark gemacht haben. Insbesondere das Finanzministerium, traditionell eher pro Binnenmarkt eingestellt, wird so ausgerichtet, dass es einen harten Brexit unterstützt. Der neue Finanzminister Rishi Sunak betont im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Vorteile einer klaren Trennung von der EU. Mit Widerstand aus dem Kabinett ist nicht mehr zu rechnen; die zentralen Ministerposten sind nun mit Politikern und Politikerinnen besetzt, die jede tiefer gehende institutionalisierte Kooperation mit der EU ablehnen. Die Brexit-Revolutionäre der »Vote Leave«-Kampagne haben somit die Kontrolle der Konservativen Partei, der Regierung und im Parlament übernommen.
Unter diesen Voraussetzungen zeichnet sich bereits eine Strategie für die Post-Brexit-Verhandlungen ab, die primär auf Konfrontation und Abgrenzung zur EU setzt. Das bei Brexit-Befürwortern vorherrschende Narrativ lautet: In der ersten Phase der Brexit-Verhandlungen wurde ihrer Deutung nach das Vereinigte Königreich gedemütigt, und zwar weil die britische Regierung nicht glaubwürdig mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen wollte oder konnte. Diesem Grundverständnis folgend, hat die Regierung Johnson schon angedroht, die Verhandlungen abzubrechen, falls bis Juni 2020 keine Fortschritte in ihrem Sinne erkennbar sind.
Nach dem Brexit-Votum wurde eine große Bandbreite von potentiellen Modellen der Zusammenarbeit diskutiert: vom Modell Norwegen / Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) mit weitreichendem Zugang zum Binnenmarkt über die Zollunion bis hin zu traditionellen Freihandelsabkommen. Theresa May wollte eine Zwischenlösung aushandeln und wenigstens den schrankenlosen Warenverkehr aufrechterhalten – und war bereit, dafür EU-Standards zu akzeptieren. Unter anderem der damalige Außenminister Boris Johnson trat aus Protest zurück, da aus seiner Sicht ein Brexit ohne regulative Freiheit und eigene Handelspolitik kein richtiger Brexit sei.
Getreu dieser Ansicht hat sich seine Regierung von dem Ziel, den »schrankenlosen Warenverkehr« beizubehalten, verabschiedet; vielmehr hebt sie die Notwendigkeit regulativer Freiheit hervor. Sie will einen regulären Handelsvertrag und lehnt jedwede Verpflichtungen zur Übernahme oder Beibehaltung von EU-Standards ab. Britische Unternehmen werden bereits darauf vorbereitet, dass ab 2021 wieder Grenzkontrollen zur EU eingeführt werden, selbst wenn ein Handelsvertrag abgeschlossen wird.
Regionale Grenzen
Neben wirtschaftlichen Zwängen gibt es indes einen potentiell einschränkenden Faktor für die Politik des harten Brexits der britischen Regierung: die durch den Brexit befeuerten regionalen Spannungen im Vereinigten Königreich. Symbolisch haben noch im Januar 2020 die regionalen Parlamente von drei der vier Teilnationen – Wales, Schottland, Nordirland, letzteres sogar einstimmig – gegen den Austrittsvertrag gestimmt. Rechtlich konnte die britische Regierung sie jedoch übergehen. Auch bei den Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis haben die Regionalregierungen bzw. ‑parlamente keine Vetoposition.
Dennoch wird die britische Regierung politisch abwägen müssen. Ein besonderes Augenmerk gilt Nordirland: Zwar konnte nach drei Jahren Blockade wieder eine Regionalregierung gebildet werden, aus der unionistischen DUP und der republikanischen Sinn Féin. Der Friedensprozess bleibt aber brüchig, und der überraschende Wahlerfolg von Sinn Féin in der Republik Irland hat die Frage einer irischen Wiedervereinigung erneut auf die Agenda gesetzt. Je mehr Großbritannien sich aus dem Binnenmarkt der EU löst, desto mehr Grenzkontrollen würden aufgrund des Austrittsvertrags zwischen Nordirland und Großbritannien notwendig. Denn in Nordirland gelten nunmehr weiterhin EU-Regeln, unter anderem zu Warenverkehr, Mehrwertsteuer und staatlichen Beihilfen. Bei einem sehr harten Brexit müsste die britische Regierung also in Kauf nehmen, damit den Forderungen nach einem »border poll« in Nordirland Auftrieb zu verleihen.
Gleichzeitig ist der Konflikt zwischen der schottischen Regierung und der Regierung Johnson einer der zentralen politischen Kämpfe des Jahres 2020. Der Vollzug des Brexits in seiner harten Form gegen den Willen der schottischen Bevölkerung hat die Unabhängigkeitsbewegung deutlich gestärkt; für die Befürworter einer Unabhängigkeit Schottlands ist er ein Kernargument. In mehreren Umfragen hat sich Anfang 2020 eine Mehrheit der Schotten für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Das schottische Parlament hat im Januar 2020 die Gesetzgebung für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg gebracht. Eine verbindliche Volksabstimmung kann Schottland zwar rechtlich nur mit Zustimmung des britischen Parlaments organisieren – was die Konservativen bereits abgelehnt haben. Diese Blockadehaltung wird aber politisch schwer zu halten sein, falls die Scottish National Party (SNP) auch die schottischen Wahlen 2021 gewinnen sollte. Um das Vereinigte Königreich zusammenzuhalten, müsste die britische Regierung eigentlich Rücksicht auf Nordirland und Schottland nehmen – geht bislang aber gerade auch mit Blick auf Schottland eher auf Konfrontation.
Zentrale Konfliktlinien
In jeder Phase der bisherigen Brexit-Verhandlungen haben die EU und die britische Regierung ihren gemeinsamen Willen betont, eine »ambitionierte, breite und vertiefte Partnerschaft« auszuhandeln. Doch zu Beginn der nur elfmonatigen Übergangszeit stehen die Zeichen auf Konfrontation. Vorab hatten beide Seiten die Grundzüge der zukünftigen Beziehungen in der (unverbindlichen) Politischen Erklärung vereinbart, die parallel mit dem Austrittsabkommen verabschiedet worden ist. Die ursprüngliche Politische Erklärung stammte aus dem Jahr 2018. Auch Premier Boris Johnson hat sie mit der EU nachverhandelt und ihr explizit zugestimmt. Im Februar 2020 haben beide Parteien ihre Verhandlungsziele definiert. In fünf Bereichen deuten sich Konflikte an.
Schwierige Handelsverhandlungen
Der erste Bereich ist die Wirtschaftspartnerschaft. Die EU ist im Kern weiterhin eine Wirtschaftsgemeinschaft, und 47 Jahre wirtschaftliche Integration haben zu einer engen wirtschaftlichen Verflechtung mit dem Vereinigten Königreich beigetragen. Geregelt werden soll daher im Grunde der Marktzugang in allen Sektoren, die bisher die EU-Mitgliedschaft abdeckte – Warenverkehr, Dienstleistungen und Investitionen, Finanzdienstleistungen, Digitales, Regelungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge, Mobilität nach Ende der Personenfreizügigkeit, Verkehr, Energie, Fischerei und mehr.
Grundsätzlich sind zwar beide Seiten wegen ihrer jeweiligen Autonomiebestrebungen an einem regulären Handelsabkommen interessiert. Dieses stellen sich beide Seiten aber gänzlich anders vor: Die EU strebt an, auch bei einem regulären Freihandelsabkommen umfassende Bestimmungen zu fairen Wettbewerbsbedingungen (level playing field) zu verankern. Nicht nur sollen bestehende EU-Standards geschützt, sondern auch in besonders kritischen Bereichen ein Verfahren zur Übernahme neuer EU-Standards geschaffen werden. Dies geht über die Verbindlichkeit bisheriger EU-Handelsabkommen hinaus. Die EU‑27 begründen dies mit der Tiefe des Marktzugangs (keine Zölle, keine Quoten), dem wirtschaftlichen Gewicht Großbritanniens sowie der geographischen Nähe.
Die britische Regierung hingegen will ein Freihandelsabkommen nach dem Modell des Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) zwischen der EU und Kanada; außerdem lehnt sie jegliche Verpflichtung zur Beibehaltung von oder gar dynamischen Anpassung an EU-Standards ab. Trotzdem will sie (anders als Kanada) Zollfreiheit ohne Ausnahmen, aber mit einer Kooperation von Regulierungsbehörden, um nichttarifäre Handelshemmnisse so gering wie möglich zu halten.
Weitere Konfliktlinien in puncto Wirtschaft liegen in der Fischereipolitik und in Finanzmarktdienstleistungen. Bei ersterer zielt das EU-Mandat darauf ab, den bestehenden Zugang zu britischen Hoheitsgewässern und die Fangquoten beizubehalten. Im Gegensatz dazu war es den Brexit-Befürwortern wichtig, die Kontrolle über die eigene Fischereipolitik zurückzugewinnen. Die Regierung Johnson will deshalb als »unabhängiger Küstenstaat« ähnlich wie Norwegen mit der EU ein bilaterales Abkommen mit jährlicher Flexibilität aushandeln – und für die eigenen Fischer bessere Konditionen bestimmen. Gemäß der Politischen Erklärung, die eine Einigung über die Fischerei bis zum Sommer 2020 vorsieht, will die EU dies zu einem Lackmustest der britischen Kompromissbereitschaft machen.
Anders verhält es sich mit dem Zugang zu Finanzmarktdienstleistungen. Zwar hat die britische Regierung das Ziel fallengelassen, für Finanzmarktdienstleister aus London den vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt aufrechtzuerhalten. Dennoch will sie von der EU eine dauerhafte Äquivalenz für Finanzmarktregulierung, um dem Finanzmarktplatz London den langfristigen Zugang zum EU-Markt zu sichern. Die EU indessen besteht darauf, dass Äquivalenzentscheidungen unilateral sind und dass sie sie jederzeit rückgängig machen können muss, um im Zweifelsfall den EU-Finanzmarkt zu schützen. Die Union hat in der Politischen Erklärung zugesagt, bis Juni 2020 die Äquivalenzprüfung abzuschließen.
Innere Sicherheit
Zweitens geht es um die Zusammenarbeit in der Innen-, Justiz- und Migrationspolitik. Kritisch sind hier vor allem Nachfolgeregelungen zum Datenaustausch, zur operativen Zusammenarbeit von Strafverfolgungs- und Justizbehörden sowie zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus. Das Vereinigte Königreich hat in diesem Politikfeld bis dato eine paradoxe Stellung eingenommen: Auf der einen Seite hat es sich bei der Entwicklung der EU-Innen- und -Justizpolitik umfangreiche Opt-out-Rechte ausgehandelt und war nicht Mitglied im Schengenraum. Auf der anderen Seite hat es sich qua Opt-in an einem Großteil der Maßnahmen der Innen- und Justizpolitik beteiligt und war in der Praxis oft treibende Kraft, wenn es um eine engere Kooperation innerhalb der EU ging.
Laut der Politischen Erklärung wünschen sich beide Seiten eine »enge, ausgewogene und gegenseitige« Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. Das Konfliktpotential betrifft das Gleichgewicht zwischen Zugang zu EU-Datenbanken und Bindewirkung europarechtlicher Standards, etwa beim Datenschutz. So will London eine pragmatische Kooperation, solange sichergestellt ist, dass das Vereinigte Königreich nicht an EU-Recht gebunden ist und nicht der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) untersteht. Demgegenüber wollen die EU‑27 insbesondere den Datenaustausch davon abhängig machen, wie weit sich das VK dazu verpflichtet, europäische Datenschutzstandards einzuhalten. Grundsätzlich knüpft die EU die Zusammenarbeit in der inneren Sicherheit zudem an die Bedingung, dass das VK Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bleibt – was die britische Regierung wie alle rechtlichen Verpflichtungen ablehnt, obwohl das VK selbst Gründungsmitglied der EMRK ist.
Außen- und Sicherheitspolitik
Der dritte große Verhandlungsbereich ist die Zusammenarbeit in der Außenpolitik, bei Sicherheit und Verteidigung. Hier besteht Handlungsdruck: Den größten Wert der EU-Außen- und -Sicherheitspolitik bildet die ständige Koordination und gemeinsame Positionierung. Während EU-Recht im Vereinigten Königreich in der Übergangsphase weiterhin gilt, hat dieses die EU-Institutionen schon verlassen. Auch bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen (VN) und in Drittstaaten nimmt es nicht mehr an der EU-Koordination teil. Das VK sitzt also zum Schaden beider Seiten fortan nicht mehr mit am Tisch, wenn im EU-Format verhandelt wird über den Umgang mit Russland, Syrien, China, Libyen, dem Iran oder dem westlichen Balkan.
Gemäß der Politischen Erklärung zielen Brüssel und London demnach auf eine »ehrgeizige, enge und dauerhafte Zusammenarbeit« ab, die Folgendes umfasst: die Einrichtung strukturierender Konsultationsformate, Konsultationen bei Sanktionen, die Möglichkeit britischer Beteiligung an EU-Operationen, die Entwicklung von Verteidigungsfähigkeiten, den Austausch nachrichtendienstlicher Informationen. Jedoch hat London diesbezüglich seine Ambitionen bereits zurückgeschraubt und will auf institutionalisierte außen- und sicherheitspolitische Kooperation mit der EU ganz verzichten. Dementsprechend wird die britische Regierung versuchen, auf bi- und multilaterale Zusammenarbeit namentlich mit Paris, Berlin und Warschau auszuweichen sowie auf die Nato. Auch die Bundesregierung muss abwägen, inwieweit sie die EU-Formate stärken oder die bilaterale Zusammenarbeit mit London suchen will.
Essentielle Governance-Fragen
Viertens werden die EU und das Vereinigte Königreich neue Governance-Strukturen aushandeln, also einen institutionellen Gesamtrahmen, der die verschiedenen Bereiche der Kooperation zusammenführt. Die EU strebt daher ein Assoziationsabkommen an, welches möglichst die gesamte EU-VK-Zusammenarbeit abdeckt. Teil dieses institutionellen Gesamtrahmens sollen laut Politischer Erklärung ein regelmäßiges Dialogformat auf allen Ebenen, ein parlamentarisches Austauschformat und ein Verfahren zur Streitbeilegung sein. Letzteres ist besonders wichtig, um eventuelle Vereinbarungen zum Level-Playing-Field durchzusetzen.
Schon das Austrittsabkommen sieht ein Verfahren zur Streitbeilegung vor. Kommt einer der Partner seinen Verpflichtungen nicht nach, kann ein Schiedspanel einberufen werden. Bei Streitfragen mit Bezug auf EU-Recht muss der EuGH befragt werden, seine Urteile sind dann bindend. Bei fortgesetzten Verletzungen der Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen kann die EU – oder das VK – im äußersten Fall nach Ablauf einer sechsmonatigen Frist alle Rechte aus dem Austrittsabkommen oder sogar jeglichen anderen Verträgen zwischen den beiden Partnern aussetzen. Diese »Guillotineklausel« will die EU auch für alle Bereiche des zukünftigen Abkommens verankern, einschließlich der Zuständigkeit des EuGH in Fragen mit Bezug auf Unionsrecht. Zusätzlich sieht das EU-Mandat vor, dass die Vertragsparteien direkt nach einem Verstoß Sanktionen erlassen können und nicht erst am Ende eines längeren Schiedsverfahrens. Das würde der EU ermöglichen, britische Verstöße etwa gegen EU-Standards oder Vereinbarungen zur Fischereipolitik unmittelbar zu sanktionieren oder zumindest den Einsatz von Sanktionen zu signalisieren.
Aufgrund ihres übergreifenden Charakters dürften die institutionellen Fragen zum schwierigsten Teil der Verhandlungen gehören. Denn London lehnt jedwede Kontrollfunktion des EuGH gegenüber britischem Recht strikt ab, vielmehr will es sich bei der Streitschlichtung am CETA-Abkommen orientieren. Darin spielt der EuGH keine Rolle, und die Sanktionsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Zudem will die britische Regierung statt eines übergreifenden Assoziationsabkommen eine Reihe von Einzelverträgen, die nicht über einen gemeinsamen institutionellen Rahmen miteinander verbunden sind. Doch erst die Verbindlichkeit der Streitschlichtungsmaßnahmen wird darüber entscheiden, wie belastbar Vereinbarungen zu Regulierungsstandards oder dem Datenschutz sind.
Der fünfte und letzte Aspekt, der die Verhandlungen belasten wird, ist die technische Umsetzung des Protokolls zu Nordirland. Zur Erinnerung: Der größte politische Konflikt in der letzten Phase der Brexit-Verhandlungen betraf den Umgang mit Nordirland. Anders als Theresa May hat Boris Johnson eine Lösung akzeptiert, bei der Nordirland auch nach der Übergangsphase an Bestimmungen des EU-Binnenmarktes zum Warenverkehr gebunden sein wird, wohingegen eventuelle Zölle bereits bei der Einfuhr von Waren aus Großbritannien nach Nordirland fällig werden, wenn die Waren weiter in die EU gehandelt werden. Dieser Kompromiss, erarbeitet unter hohem politischen und zeitlichen Druck, muss nun bis 31. Dezember 2020 umgesetzt werden. Beide Seiten interpretieren die Verpflichtungen jedoch sehr unterschiedlich: Während die EU von der Notwendigkeit von Grenzkontrollen in der Irischen See ausgeht, streiten Boris Johnson und seine Regierung dies öffentlich ab. Ob die EU und das VK eine gemeinsame Interpretation finden und wie gut die Umsetzung dann funktioniert, wird sich auswirken auf das gegenseitige Vertrauen bei den Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen.
Zwischen Wettbewerb und Partnerschaft
Die Analyse zeigt, dass die kommenden Verhandlungen unter gänzlich anderen politischen Voraussetzungen stattfinden. In der ersten Phase der Brexit-Verhandlungen sind die EU‑27 geeint aufgetreten und konnten einem gespaltenen Großbritannien ihre Bedingungen für den Austritt weitgehend diktieren. In der zweiten Verhandlungsphase werden die großen Konflikte nicht mehr im britischen Parlament ausgetragen, sondern zwischen Brüssel und London. Nach den Neuwahlen wird die Brexit-Revolution in der britischen Politik vollendet und allein die Brexiteers geben den Ton an; innenpolitisch gestärkt, wird Boris Johnson von Beginn an eine konfrontative Strategie verfolgen. Auf die Wirtschaft oder Nordirland und Schottland, die jeweils einen weichen Brexit bevorzugen, nimmt er bisher keine Rücksicht.
Dabei muss auch die EU ihre politische Verhandlungsstrategie kritisch reflektieren. Zwar scheint sie sich auf die vielen technischen Details unter der Führung von Michel Barnier wieder gut vorzubereiten. Darüber hinaus müssen sich die EU‑27 aber auf eine politisch konfliktreichere Verhandlungsphase einstellen. Bei Prioritätensetzung und Interessenabwägung wird es schwerer, die Einheit der 27 zu bewahren. Hierzu muss auch Deutschland beitragen, dessen Ratspräsidentschaft in die heikelste Phase der Brexit-Verhandlungen im zweiten Halbjahr 2020 fällt. London wird Anschuldigungen vorbringen, mit dem Abbruch der Gespräche drohen und die EU-27 zu spalten versuchen.
Eine Kompromisszone ist zu Beginn der Verhandlungen nicht erkennbar. Britische Forderungen nach maximaler Souveränität treffen auf den Anspruch der EU, in ihrer Nachbarschaft regulative Standards zu setzen: Selbst bei klarer Abstufung im Vergleich zum Binnenmarkt will sie einen weitreichenden Handelsvertrag mit vollständiger Zollfreiheit für eine große Volkswirtschaft in ihrer Nachbarschaft nur zulassen, wenn er robuste Verfahren zur Durchsetzung von EU-Standards beinhaltet. Hinzu kommt der große Zeitdruck von nunmehr nur noch zehn Monaten. Er lässt keinen Spielraum dafür, wie bei einem traditionellen Handelsabkommen Produktkategorie für Produktkategorie zu verhandeln. Dieses Insistieren auf dem Ganzen auf beiden Seiten, gekoppelt mit der konfrontativen Ausrichtung der britischen Regierung, erhöht die Gefahr eines No-Trade-Deal-Brexits. Trotz Abnutzungseffekt muss die EU wieder mit einem Scheitern der Verhandlungen rechnen.
Ein Ausweg aus diesem Patt läge darin, die Problematik der Bindung an EU-Standards umgekehrt zu denken. Anstatt das Vereinigte Königreich, seinem Selbstverständnis als souveräner Staat widersprechend, zu EU-Standards zu verpflichten, sollten Verfahren entwickelt werden, wie die EU mit britischer Divergenz umgeht. Ausgangspunkt wäre das gemeinsame Ziel vollständiger Zollfreiheit und geringer Grenzkontrollen, weil Großbritannien am Tag 1 nach der Übergangsphase noch vollständig EU-Standards anwendet. An die Stelle der rechtlichen Bindung an EU-Standards würde jedoch ein Verfahren treten, bei dem die Union im Fall tatsächlicher britischer Divergenz graduell und proportional wieder Handelsschranken aufbauen könnte, um faire Wettbewerbsregeln durchzusetzen. Auch für den Fall eines No-Trade-Deal-Brexits sollte die EU solche handelspolitischen Schutzinstrumente vorbereiten. London hätte damit grundsätzlich die Freiheit, von EU-Standards abzuweichen, die EU hingegen die Mittel, um im Zweifelsfall die europäische Wirtschaft zu schützen. Außerdem wäre der Unterschied deutlich zwischen EU- / Binnenmarkt-Mitgliedschaft und diesem »Großbritannien«-Modell mit Freihandelsabkommen und Rückversicherung gegen Divergenz. Auf dieser Basis könnten die Verhandlungsführer selbst in der kurzen Zeit ein Modell ausarbeiten, das der Sonderstellung zwischen Partnerschaft und Wettbewerb von EU und VK gerecht wird.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A14