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1. Kompetenzordnungsdebatte
1. Die Kompetenzordnungsdebatte
Viele Beobachter sahen vor Beginn der Konventsarbeit in der Aufteilung und Abgrenzung mitgliedstaatlicher und europäischer Kompetenzen eine der schwierigsten Herausforderungen für den Konvent. Gerade aus Deutschland wurden sehr weitreichende - und damit notwendigerweise sehr kontroverse - Reformforderungen an den Konvent herangetragen, insbesondere aus den Bundesländern, aber auch von den Unionsparteien (Schäuble-Bocklet-Papier »Vorschläge von CDU und CSU für einen Europäischen Verfassungsvertrag«).
Dieser Themenkomplex wurde in der ersten Arbeitsphase des Konvents im Plenum schon breit behandelt und es wurden zwei Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich schwerpunktmäßig mit diesem Thema befassen, (»Subsidiarität« und »Ergänzende Zuständigkeiten« ). Zwei weitere Arbeitsgruppen weisen einen engen Bezug zur Kompetenzdebatte auf (»Einzelzstaatliche Parlamente« und »Ordnungspolitik« ). Die Subsidiaritätsarbeitsgruppe diskutiert derzeit schon Entwürfe ihrer Schlußfolgerungen, über die Anfang Oktober im Plenum debattiert werden soll. Die anderen genannten Arbeitsgruppen werden noch bis Ende September (»Ordnungspolitik«) bzw. Ende Oktober (»Ergänzende Zuständigkeiten«, »Einzelstaatliche Parlamente«) zusammentreten.
Der Stand der Arbeiten zum Themenkomplex der Gemeinschaftskompetenzen ist viel weiter fortgeschritten als in anderen Bereichen. Man kann den Eindruck gewinnen, daß diese Thematik kaum zum Stolperstein der Konventsarbeit werden dürfte.
- In der Kompetenzdebatte ist keine klare »Lagerbildung« zu erkennen, die Trennlinien verlaufen nicht zwischen »Integrationisten« und »Intergouvernementalisten«.
- Die Debatten wurden durch eine solide Vorarbeit erleichtert, insbesondere durch den Lamassoure-Bericht des Europäischen Parlaments zur Abgrenzung der Zuständigkeiten.
- Das Präsidium und das Konventssekretariat haben die Diskussion in effizienter Weise durch ein hervorragendes Arbeitsdokument begleitet.
Der bisherige Verlauf der Konventsdebatten zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen europäischer und nationaler Ebene läßt folgende Marschrichtungen erkennen:
- Ein Rückbau gemeinschaftlicher Kompetenzen findet kaum Unterstützer, eher wird im Gegenteil eine Verbesserung der Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Außenpolitik, zur Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie im Bereich der wirtschaftspolitischen Koordinierung befürwortet.
- Ein Kompetenzkatalog, d.h. eine Auflistung sowohl gemeinschaftlicher wie mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nach dem Vorbild des deutschen Grundgesetzes, wie er von seiten deutscher Bundesländer gefordert wurde, hat keinerlei Realisierungschancen. Ein solcher Ansatz wird von einer Mehrheit im Konvent als zu rigide und unflexibel betrachtet.
- Vereinzelte Maximalforderungen, wie sie in der deutschen Debatte aus den Reihen der Bundesländer und der Unionsparteien erhoben wurden, sind nicht durchsetzungsfähig. Dies gilt für die Forderung nach einer Abschaffung oder weitreichenden Einschränkung der Binnenmarktharmonisierungskompetenz nach Art. 95 EGV ebenso wie für die Forderung nach Abschaffung von Art. 308 EGV zur Kompetenzergänzung. Die deutschen Bundesländer und der Bundesratsvertreter Erwin Teufel dürften im Verlauf der bisherigen Debatten zu einer realistischeren Einschätzung der Verwirklichungsschancen ihrer weitreichenden Reformforderungen gelangt sein.
Gleichzeitig haben die bisherigen Diskussionen jedoch verdeutlicht, daß eine verbesserte Garantie der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips keineswegs ein rein deutsches Anliegen bildet, zumal die Klärung der Kompetenzabgrenzung einen notwendigen Kernbestandteil einer jeden Verfassung darstellt.
Die Diskussionen konzentrieren sich auf zwei Bereiche:
- Eine Präzisierung der Vertragsbestimmungen, vor allem durch die klare Definition von Kompetenzkategorien (ausschließliche, geteilte, ergänzende Kompetenzen), denen jeweils bestimmte politische Handlungsbereiche und -instrumente, Typen von Rechtsakten, eventuell auch bestimmter Entscheidungsverfahren zugeordnet werden könnten. Damit wird das dreifache Ziel verfolgt, die Eingriffstiefe europäischer Politik auf das notwendige Maß zu beschränken, die Rechtssicherheit für die Mitgliedstaaten zu erhöhen und zugleich eine verbesserte vertragsrechtliche Basis für eine mögliche gerichtliche Kontrolle der Kompetenzwahrnehmung zu schaffen.
- Eine verbesserte prozedurale Absicherung der Kompetenzordnung. Hier lassen sich zwei unterschiedliche Ansätze und eine ganze Reihe denkbarer Varianten erkennen:
- ein eher politischer Ansatz, der auf eine politische Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips durch eine Vertretung nationaler Parlamentarier auf europäischer Ebene setzt;
- ein juristischer Ansatz, der auf eine Ausweitung der Klagemöglichkeiten vor dem EuGH (oder vor einer speziellen Kompetenzkammer beim EuGH) in Subsidiaritätsfragen setzt. Als neue Klageberechtigte kämen zum einen nationale Parlamente (inklusive ihrer Zweiten Kammern, in Deutschland also auch des Bundesrates), auch der Ausschuß der Regionen oder gar einzelne Regionen mit Legislativkompetenzen in Frage.
Zahlreiche Punkte sind zum jetzigen Zeitpunkt noch offen, etwa, ob die verbesserte Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips durch eine Ex-ante-Kontrolle vor Erlaß des in Frage stehenden Rechtsaktes gewährleistet werden soll, ob eine gerichtliche Anrufungsmöglichkeit nach Verabschiedung, aber vor Inkrafttreten des Rechtsaktes nach dem Modell der Normenkontrolle durch den französischen Verfassungsrat oder aber lediglich eine Ausweitung der gerichtlichen Ex-post-Kontroll- und Anrufungsmöglichkeiten nach Inkrafttreten des Rechtsaktes den geeigneten Weg zum Ziel darstellt. Trotz einer ganzen Reihe von noch zu klärenden Fragen von erheblicher Bedeutung scheint ein Kompromiß in Reichweite. Dies gilt nicht zuletzt, weil die Suche nach Kompromißmöglichkeiten längst begonnen hat, eine Suche, an der sich Peter Glotz als Vertreter der Bundesregierung bzw. von Regierungschef Schröder aktiv beteiligt hat. In einem von Glotz gemeinsam mit Regierungsvertretern aus Frankreich, Großbritannien, Polen und Irland unterzeichneten Beitrag für den Konvent zur Präzisierung der Kompetenzzuweisung und Verstärkung der prozeduralen Kontrolle finden sich folgende Kernpunkte:
- Ablehnung eines Kompetenzkatalogs;
- klarere Darstellung der im Vertrag angelegten Kompetenzkategorien;
- explizitere Formulierung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung sowie der Prinzipien der Kompetenzausübung (Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip;
- espektierung nationaler Identität und der inneren Strukturen der Mitgliedstaaten);
- Vorschlag einer Vertretung nationaler Parlamentarier auf europäischer Ebene oder eines dem Rat zugeordneten Subsidiaritätsausschusses mit der Aufgabe der politischen Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips.
Der in der Konventsarbeitsgruppe »Subsidiarität« derzeit zur Beratung stehende Entwurf von Schlußfolgerungen sieht zur verbesserten Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zwei wesentliche Neuerungen vor:
- Ein politisches »Frühwarnsystem«, im Rahmen dessen die Kommission ihre Vorschläge legislativer Art nationalen Parlamenten zur Bewertung und Stellungnahme unter Subsidiaritätsgesichtspunkten übermittelt würde. Die Schaffung eines neuen Gremiums aus nationalen Parlamentariern auf europäischer Ebene (Subsidiaritätsausschuß oder Subsidiaritätskammer) wird ebenso abgelehnt wie die Schaffung einer speziellen Kompetenzkammer beim EuGH zur gerichtlichen ex-ante-Kontrolle von Rechtsakten (nach deren Verabschiedung, aber vor ihrem Inkrafttreten).
- Neben dieser Verstärkung der politischen ex-ante-Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips wird eine Ausweitung der ex-post-Klagemöglichkeiten (nach Inkrafttreten des Rechtsaktes) vorgeschlagen, indem nationalen Parlamenten und dem Ausschuß der Regionen - nicht aber Regionen mit Gesetzgebungskompetenzen - das Recht der Anrufung des EuGH eingeräumt werden soll, sofern die von ihnen zuvor im Rahmen des »Frühwarnsystems« formulierten Einwände keine Berücksichtigung fanden.
Eine für die weitere Arbeit des Konvents zentrale Frage mit weitreichenden Konsequenzen für die Kompetenzdebatte ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings noch offen: Soll der Konvent lediglich einen knappen Basisvertrag bzw. eine Kernverfassung ausarbeiten oder aber einen umfassenden Vertragsentwurf, der die bestehenden Verträge und Protokolle ersetzt? Im ersten Fall dürfte die Suche nach einem Konsens über die Bestimmungen zur Kompetenzordnung und ihrer prozeduralen Garantie kein unüberwindliches Problem darstellen; im zweiten Fall tauchen politisch heiklere Fragen der Feinjustierung der Kompetenzverteilung in einzelnen Politikbereichen und der Zuordnung einzelner Handlungsbereiche zu den zu definierenden Kompetenzkategorien auf.
Sinnvoll erscheint, nicht nur aus arbeitsökonomischen Gründen, daß sich der Konvent auf die Ausarbeitung eines knapp gehaltenen Basisverfassungsvertrags konzentriert. Auf dieser Basis könnte dann eine klare Normenhierarchie zwischen diesem und einem zweiten Vertragsteil definiert und für letzteren vereinfachte Revisionsmodalitäten festgelegt werden, um auch die zukünftige genaue Ausgestaltung der Kompetenzzuweisung flexibel und entwicklungsoffen zu halten.