Die Schottische Nationalpartei (SNP) ist bei den Regionalwahlen im Mai 2021 wieder mit Abstand stärkste Kraft geworden und hätte mit den schottischen Grünen die Mehrheit, um ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anzustoßen. Doch der Weg dahin ist unsicher. Anders als 2014 ist die Zustimmung des britischen Parlaments wenig wahrscheinlich und die Kompetenz des schottischen Parlaments zum Beschluss einer weiteren Volksabstimmung umstritten. Das stellt auch die Europäische Union vor Herausforderungen. Der erneute Drang zur Unabhängigkeit ist eng mit dem aus schottischer Sicht ungewollten EU-Austritt verbunden. Aber der harte Brexit macht die Unabhängigkeit mit potentieller EU-Mitgliedschaft noch komplizierter. Zwar wird die EU kaum verhindern können, dass sie in die Debatte zwischen Edinburgh und London hineingezogen wird. Dennoch ist sie gut beraten, das schottische Unabhängigkeitsstreben weiterhin als interne Angelegenheit des Vereinigten Königreichs zu behandeln.
Die SNP konnte mit 47,7 Prozent erneut die Wahlen in Schottland gewinnen, braucht für eine eigene Mehrheit aber die Unterstützung der schottischen Grünen. Diese sind bei den Wahlen ebenfalls für ein neues Unabhängigkeitsreferendum eingetreten. Gemeinsam stellen die beiden Parteien nun 72 der 129 Sitze und konnten ihren Sitzanteil weiter ausbauen. Die SNP begreift dies als Mandat der schottischen Bevölkerung, in der ersten Hälfte der neuen Legislaturperiode eine zweite Volksabstimmung zur Unabhängigkeit auf den Weg zu bringen. Im Wahlkampf bildete dies nach der weiteren Bekämpfung der Pandemie das zentrale Wahlversprechen der SNP, aber auch der schottischen Grünen.
Dabei ist die Frage der schottischen Unabhängigkeit mittlerweile eng mit dem Brexit verbunden. Noch 2014 sprachen sich 55 Prozent der schottischen Bevölkerung einschließlich der damals wahlberechtigten in Schottland ansässigen EU-Bürgerinnen und -Bürger gegen die Abspaltung vom Vereinigten Königreich aus. Neben den wirtschaftlichen Risiken lautete eines der Hauptargumente der damaligen »Better Together«-Kampagne, dass ein unabhängiges Schottland automatisch aus der EU ausgeschlossen und ein rascher Wiederbeitritt als eigenständiges Mitglied unsicher sei. Auch wenn sich die EU selbst aus der Kampagne heraushielt, wurde diese Sichtweise vom damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso unterstützt. Mit Verweis auf die Nichtanerkennung Kosovos durch Spanien erklärte er, ein Neubeitritt Schottlands zur EU sei »extrem schwer, wenn nicht unmöglich«.
Der Brexit als Katalysator für die Unabhängigkeit
Bekanntermaßen hat sich das Verhältnis zwischen schottischer Unabhängigkeit und EU-Mitgliedschaft vollständig gewandelt. Beim EU-Referendum 2016 stimmten 62 Prozent der schottischen Bevölkerung für den Verbleib in der EU und 38 Prozent dagegen. Das änderte aber nichts am Gesamtergebnis, da die Schotten nur 8 Prozent der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs ausmachen. Auch im weiteren Prozess sprach sich die schottische Regierung für einen möglichst weichen Brexit aus und betonte, wie wichtig der Zugang zum Binnenmarkt einschließlich der Freizügigkeit für die schottische Wirtschaft sei. Diese Position floss indes nicht in die Verhandlungsstrategie der konservativ geführten Regierungen unter Theresa May und Boris Johnson ein. Forderungen nach einem Sonderstatus Schottlands ähnlich wie im Falle Nordirlands wies die britische Regierung (aber auch die EU) zurück.
Im weiteren Verlauf stimmte das schottische Parlament, ebenso wie die Parlamente von Nordirland und Wales, sowohl gegen das Austrittsabkommen als auch das Handels- und Kooperationsabkommen (HKA) mit der EU, das den harten Brexit vollendete. In beiden Fällen waren die Voten rechtlich für Westminster nicht bindend. Das House of Commons ignorierte die Ablehnung und ratifizierte die Abkommen mit seiner konservativen Mehrheit. Aus Sicht der SNP wurde Schottland damit nicht nur gegen seinen Willen aus der EU geführt, sondern zum harten Brexit gezwungen. Daher habe der Brexit die Situation Schottlands so einschneidend verändert, dass ein zweites Unabhängigkeitsreferendum gerechtfertigt sei. Gleichzeitig gilt der Brexit für die SNP als Paradebeispiel dafür, dass die demokratische Willensbildung der Schotten im Vereinigten Königreich regelmäßig übergangen wird. Zusätzlich verbindet die SNP auch argumentativ die Unabhängigkeit mit der potentiellen Rückkehr in die EU. SNP-Parteichefin und schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon rief die EU gar dazu auf, einen Platz für Schottland freizuhalten.
Analysen zeigen jedoch, dass nicht der Brexit allein den fundamentalen Meinungsumschwung zugunsten der Unabhängigkeit bewirkt hat. Zwar haben einige proeuropäische Unabhängigkeitsgegner zur »Yes«-Seite gewechselt. Es gibt aber auch Schotten, die 2014 für die Unabhängigkeit gestimmt haben, aber entweder auch für den Brexit waren oder nach den Erfahrungen mit diesem die wirtschaftlichen Risiken der Unabhängigkeit scheuen. Ausschlaggebend war die Kombination aus dem Brexit, der Regierungsübernahme durch Boris Johnson und dem sehr unterschiedlichen Corona-Management zwischen Schottland und England. Erst dieses Zusammenwirken hat dazu geführt, dass die Unabhängigkeitsbefürworter Ende 2020 und Anfang 2021 zeitweise einen zum Teil klaren Vorsprung in Umfragen hatten.
Verstärkt durch den Brexit hat sich zudem die schottische weiter von der britischen Politik entfremdet. Seit 2015 ist Schottlands Politik so von der SNP dominiert, dass diese (auch wegen des britischen Mehrheitswahlrechts) durchgängig mehr Sitze in Schottland gewonnen hat als Konservative, Labour und Liberaldemokraten zusammen. Zurzeit sind es 44 von 59 Mandaten. Labour, früher jahrzehntelang die vorherrschende Partei in Schottland, stellt nur noch einen einzigen schottischen Abgeordneten. Seit 2010 war es für den Ausgang der Wahlen im Vereinigten Königreich unerheblich, wie die Wahlen in Schottland ausgingen. Ihre Mehrheiten erlangten die Tories stets in England und Wales. Die SNP aber nimmt in London eine reine Oppositionsrolle ein und hat erfolgreich das Narrativ eines Widerspruchs zwischen schottischen Interessen und der Politik der Regierung Johnson geprägt. In den ebenfalls im Mai 2021 stattfindenden englischen Lokal- und Regionalwahlen hat sich der Stimmenanteil der Konservativen auf Kosten von Labour noch einmal deutlich erhöht, was das Narrativ der SNP einer Vorherrschaft der Tories in England verstärkt.
Schon 2020 wollte die SNP-geführte schottische Regierung ein zweites Referendum einleiten, unterbrach die Planungen aber mit dem Argument, zunächst alle politischen Kräfte auf die Eindämmung der Pandemie zu konzentrieren. Mit der erneuten Mehrheit der Unabhängigkeitsbefürworter will die Regierung aber nun ihr Wahlkampfversprechen einlösen und im Laufe der ersten Hälfte der neuen Legislaturperiode ein zweites Referendum initiieren.
Der lange Weg zum Unabhängigkeitsreferendum
Ob das schottische Parlament jedoch die Kompetenz hat, eigenständig eine Volksabstimmung zur Unabhängigkeit auf den Weg zu bringen, ist rechtlich und politisch hoch umstritten und wird auch für die EU außerordentlich wichtig sein. 2014 waren Rechtmäßigkeit und Legitimität des Unabhängigkeitsreferendums einwandfrei geklärt. So verständigten sich der damalige britische Premierminister David Cameron und der schottische Erste Minister Alex Salmond 2012 in der »Vereinbarung von Edinburgh« darauf, dass sowohl die schottische als auch die britische Regierung das Ergebnis einer Volksabstimmung anerkennen würden, die auf solider rechtlicher Basis, mit neutraler Fragestellung und unter fairen Bedingungen stattfinden sollte. Hierfür übertrug das britische Parlament durch eine Änderung des Scotland Act dem schottischen Parlament für begrenzte Zeit und einmalig die Sonderzuständigkeit, ein Referendumsgesetz zu erlassen.
Die britische Regierung nahm damit im Unterschied etwa zu spanischen Regierungen gegenüber Katalonien bewusst das Risiko einer Volksabstimmung zur Unabhängigkeit in Kauf. Politisches Kalkül war damals, dass die Befürworter die Mehrheit verfehlen würden, ein schnelles Referendum mit diesem Resultat das Streben nach Unabhängigkeit entscheidend schwächen würde und die Frage »für mindestens eine Generation« ad acta gelegt werden könne. David Cameron ging dieses kalkulierte Risiko auch deshalb ein, weil die Zustimmung zur Unabhängigkeit bei nicht einmal 30 Prozent lag, als das Referendum angesetzt wurde. Anders als beim späteren EU-Referendum ging die Rechnung auf, auch wenn das Ergebnis mit 45 zu 55 Prozent spürbar knapper ausfiel als erwartet.
Risikoreiche Abwägung für Boris Johnson
2021 ist die politische und in der Folge wohl auch die rechtliche Ausgangslage anders. 2014 fehlten der SNP vier Sitze, 2021 nur noch einer zur absoluten Mehrheit im schottischen Parlament. Zwar hat sie mit 47,7 Prozent erheblich mehr Stimmenanteil als Boris Johnsons Konservative im Vereinigten Königreich (43,6 Prozent). Dank der unterschiedlichen Wahlsysteme verfügt Johnson jedoch über eine komfortable absolute Mehrheit im britischen Unterhaus. David Cameron reichten dort 2015 sogar 36,9 Prozent für eine absolute Mehrheit, mit der er dann das EU-Referendum auf den Weg brachte. Im schottischen Parlament hat die SNP mit den Grünen zwar eine klare Majorität für ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum. Politisch aber schwächt das Verfehlen einer eigenen Mehrheit dennoch die Erzählung der SNP von einem eindeutigen Mandat der schottischen Bevölkerung.
Ungewiss ist zudem, ob die schottische Regierung hierzu vom britischen Parlament abermals die spezifische, eindeutige Zuständigkeit übertragen bekommt. Premier Boris Johnson hat dies nach den Wahlen bereits für absehbare Zeit abgelehnt. Schottlands Bevölkerung, so Johnson, habe sich 2014 unmissverständlich gegen die Unabhängigkeit entschieden, und das damalige Referendum behalte mindestens für eine Generation seine demokratische Gültigkeit. Auch zwischen dem ersten und dem zweiten EU-Referendum im Vereinigten Königreich (1975 und 2016) hätten mehr als 40 Jahre gelegen. Schon 2017 hatte die SNP mit Verweis auf den Brexit und die letzten schottischen Wahlen die Autorisierung für ein neues Referendum gefordert. Dieses Ansinnen wies die damalige Premierministerin May aber zurück, da es »nicht die Zeit dafür« sei und zunächst der Brexit-Prozess bewältigt werden müsse.
Dieser ist zwar nun vollzogen, aber sowohl die Konservativen mit dem Premier an der Spitze als auch Labour sind weiterhin gegen ein zweites Referendum. Vor allem Johnson spielt weiter auf Zeit. Hinzu kommt, dass eine neue Volksabstimmung ein wesentlich höheres Risiko birgt als jene im Jahr 2014. Aktuelle Umfragen zur schottischen Unabhängigkeit prognostizieren höchstens einen winzigen Vorsprung für den Verbleib im Vereinigten Königreich, wenn nicht gar eine knappe Mehrheit für den Austritt. Zudem organisierten 2014 Tories, Labour und Liberaldemokraten eine gemeinsame »Better Together«-Kampagne. Heute würde sich Labour zwar nicht für die schottische Unabhängigkeit aussprechen, aber auch nicht mehr zusammen mit den Konservativen Wahlkampf machen. Nicht zuletzt ähneln viele Argumente gegen die Unabhängigkeit jenen gegen den Brexit. Diese können Johnson und seine Brexiteers kaum glaubwürdig vortragen. Boris Johnson würde also riskieren, als der Premierminister in die Geschichte einzugehen, der – mit dem Brexit – das Vereinigte Königreich dem Zerfall preisgegeben hat. In dem sich nun abzeichnenden Machtkampf zwischen SNP-geführter Regierung in Edinburgh und Johnsons Regierung wird das britische Parlament diesmal, anders als 2014, seine Genehmigung wohl verweigern.
Optionen für die SNP
Trotz oder gerade wegen der klaren Rechtslage von 2014 ist jedoch ungewiss, ob das schottische Parlament auch ohne vorherige Autorisierung durch Westminster eine Volksabstimmung auf den Weg bringen kann. Schon in den Jahren 2012 bis 2014 hatte die SNP argumentiert, die schottische Regierung habe zu ihrer rechtlichen und politischen Absicherung zwar das gesetzlich verankerte Plazet Londons eingeholt, aber zwingend notwendig sei das nicht gewesen.
Im Zentrum der Debatte steht der Scotland Act von 1998, der im britischen Rechtssystem dem schottischen Parlament seine Kompetenzen zuweist. Gesetzgeberische Beschlüsse des schottischen Parlaments außerhalb dieser Zuständigkeiten sind nichtig. Nicht statthaft unter anderem sind demnach Beschlüsse, welche »die Union der Königreiche Schottland und England« sowie das Parlament des Vereinigten Königreichs betreffen.
Auf Basis dieser Rechtslage akzeptiert auch die SNP-geführte schottische Regierung, dass das schottische Parlament die Union mit dem Vereinigten Königreich nicht einseitig aufheben und die Unabhängigkeit erklären kann. Zwischen britischer und schottischer Regierung sowie in der britischen Rechtswissenschaft ist jedoch umstritten, ob bereits ein Unabhängigkeitsreferendum an sich damit ausgeschlossen ist, wenn es nicht zuvor von Westminster autorisiert wurde. So war beispielsweise auch das EU-Referendum von 2016 rechtlich unverbindlich, obwohl es später eine starke politische Bindekraft entfaltet hat. Laut Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs bedurfte es auch nach dem Brexit-Votum der britischen Bevölkerung eines vom Parlament beschlossenen Gesetzes, bevor Premierministerin Theresa May formell den Austritt aus der EU gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union in Gang setzen konnte.
Analog dazu argumentiert die SNP, auch das schottische Parlament könne eigenständig ein konsultatives Referendum auf den Weg bringen. Zur Vorbereitung hat die SNP mit ihrer Parlamentsmehrheit schon in der abgelaufenen Legislaturperiode zwei Gesetze verabschiedet, welche die britische Königin mit ihrer Unterschrift bereits in Kraft gesetzt hat. Das erste, der Referendums (Scotland) Act, enthält die Grundlagen für Volksabstimmungen, für deren Ansetzung nun nur noch ein kurzes Gesetz des schottischen Parlaments notwendig ist. Die Regeln entsprechen weitgehend den landesweiten Bestimmungen des Vereinigten Königreichs, und die Referendumsfrage müsste von der britischen unabhängigen Wahlkommission geprüft werden. Das zweite, der Scottish Elections (Franchise & Representation) Act, regelt unter anderem Fragen, die für den Referendumsausgang wichtig sind. Dazu gehört das Wahlrecht, welches für alle legal in Schottland ansässigen Personen ab 16 Jahren gilt, also weiterhin auch für dort lebende EU-Bürgerinnen und -Bürger.
Nach ihrem Wahlsieg will die SNP zunächst von der britischen Regierung fordern, ein Referendum gemäß dem Scotland Act von 1998 zu autorisieren. Damit möchte die SNP sich rechtlich absichern und politische Legitimität im In- und Ausland gewinnen, besonders mit Blick auf die EU. Sollten die Regierung Johnson und das britische Parlament die Autorisierung erwartungsgemäß verweigern, will die SNP dennoch ein Referendumsgesetz auf den Weg bringen. Es ist davon auszugehen, dass der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs ein solches Gesetz, das zuvor nicht vom britischen Parlament autorisiert wurde, vor Inkrafttreten prüfen muss – mit offenem Ausgang. Noch hat sich die SNP nicht festgelegt, wie sie reagieren würde, sollte der Oberste Gerichtshof – wie das spanische Verfassungsgericht im Falle Kataloniens – das angestrebte Referendum untersagen. Zu erwarten ist damit ein längerer juristischer und politischer Machtkampf zwischen der SNP und der Regierung Johnson darüber, ob ein Referendum eingeleitet werden soll, und wenn ja, von wem.
Kein Referendum vor 2022
Aus dieser rechtlichen Gemengelage lassen sich zwei wichtige politische Schlussfolgerungen ziehen. Erstens wird ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nicht kurzfristig erfolgen. Zwar muss auf Grundlage des Referendums (Scotland) Act nur ein kurzes Gesetz das schottische Parlament passieren, dessen Mehrheit nun sicher ist. Die SNP wird sich den günstigsten Zeitpunkt hierfür aussuchen. Angekündigt hat sie ein Gesetz für die erste Hälfte der neuen Legislaturperiode, also bis Mitte 2023. Die unmittelbare Phase der Pandemie wird sie noch abwarten und danach auf die Umfragen schauen. Dann werden die Verhandlungen mit der britischen Regierung über eine Autorisierung und im Falle einer Ablehnung ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof mindestens ein halbes Jahr dauern. Für den weiteren Verlauf sind im Referendums (Scotland) Act Bedingungen festgelegt: So muss die Abstimmungsfrage von der Unabhängigen Wahlkommission geprüft werden. Für beide Seiten wird je eine offizielle Kampagne ausgewählt. Es gilt eine Mindestdauer für die öffentliche Debatte vor dem Abstimmungstag. Beim ersten Unabhängigkeitsreferendum hat dieser Prozess mehr als drei Jahre gedauert.
Nun sind zwar bereits wichtige rechtliche Grundlagen geschaffen worden, aber voraussichtlich wird das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof hinzukommen. Daher dürfte frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2022 mit einem Unabhängigkeitsreferendum zu rechnen sein, wenn nicht erst 2023. Johnson könnte sogar versuchen, ein Referendum auf die Zeit nach den nächsten britischen Wahlen 2024 zu verschieben. Je nach den Umfragen, die aktuell wieder auf eine knappe Mehrheit für den Verbleib hindeuten, könnte die SNP auch aus wahltaktischen Gründen anstreben, die Volksabstimmung auf einen für sie günstigeren Termin zu schieben.
Zweitens wird sich zumindest mittelfristig wohl kein »katalanisches Szenario« ergeben, also kein verfassungswidriges Unabhängigkeitsreferendum gegen den Willen der britischen Regierung. Auch wenn die SNP ein Referendumsgesetz ohne Westminsters Autorisierung einbringt, wird es vom Obersten Gericht geprüft werden. Erst wenn das Gericht dem schottischen Parlament diese Kompetenz abspricht, muss die SNP entscheiden, ob sie weiter versucht, sich mit der britischen Regierung zu einigen, oder stattdessen auf andere Weise eine Volksbefragung durchsetzen möchte.
Handlungsoptionen für die EU
Die Referendumspläne der SNP bringen die Europäische Union angesichts ihrer ohnehin angespannten Beziehungen zum Ex-Mitglied Vereinigtes Königreich in eine heikle politische Lage. Das Streben nach der Unabhängigkeit Schottlands ist eng mit dem Brexit verknüpft, und die SNP-Führung macht keinen Hehl aus ihren Ambitionen, dass Schottland wieder EU-Mitglied werde. Darum wird es für die EU und auch Deutschland schwierig werden, politisch neutral zu bleiben. Die schottische Unabhängigkeit wird keine rein innenpolitische Angelegenheit des Vereinigten Königreichs bleiben. Jede Äußerung zu dem Prozess wird in der britischen und schottischen Presse als Einmischung genutzt oder verteufelt werden.
Auf der anderen Seite hat sich die Erste Ministerin Nicola Sturgeon bereits öffentlich an Deutschland und andere EU-Staaten gewandt, eine Tür für Schottland in der EU offen zu halten. Nicht zu unterschätzen ist zudem der Anreiz für proeuropäische politische Akteure und Kommentatoren, die schottische Unabhängigkeit und damit das Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs zur dramatischen Konsequenz des Brexits zu erklären.
Gerade deshalb sind die EU und Deutschland gut beraten, politisch sehr vorsichtig mit der Frage der schottischen Unabhängigkeit umzugehen. Kurzfristig gilt dies nun für die Zeit nach den Wahlen. Solange die schottische und die britische Regierung darüber verhandeln oder vor Gericht streiten, ob es ein zweites Referendum geben darf, ist es im Interesse der EU, in diesen zunächst einmal innenpolitischen Konflikt nicht weiter hineingezogen zu werden. Auch Aufrufe wie jener von 170 europäischen und britischen Personen des öffentlichen Lebens im April 2021, die EU solle ein unabhängiges Schottland willkommen heißen, dürften in London als Versuch gewertet werden, das Vereinigte Königreich aufzuspalten. Überdies würde der Umgang mit der Sondersituation in Nordirland zusätzlich erschwert. Eine solche Schwächung des weiterhin für die EU und Deutschland wichtigen Partners Vereinigtes Königreich sowie die damit verbundene Belastung für das europäisch-britische Verhältnis liegt nicht im gemeinsamen Interesse.
Politisch noch sensibler wird die Diskussion, falls es 2022 oder später tatsächlich zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum kommt. Wie sich Institutionen und einzelne Staaten der EU dazu positionieren, dürfte in dieser Zeit großen Widerhall in der schottischen und britischen Debatte finden. Ein besonderes Augenmerk dürfte sich dabei auf Deutschland, Spanien (wegen Katalonien), Frankreich und Irland richten. Das wirft Fragen hinsichtlich der eigenen Glaubwürdigkeit und des späteren Umgangs mit beiden potentiellen Resultaten der Volksabstimmung auf. Auch hier wird gelten, dass jede Äußerung zur Unabhängigkeit und zur möglichen Aufnahme eines unabhängigen Schottlands in die EU instrumentalisiert wird. Zu beachten ist, dass Schottland sich auch im Falle eines Yes-Votums nicht über Nacht für unabhängig erklären würde. Stattdessen würde es sich erst in einem längeren Aushandlungsverfahren im Laufe der nächsten Jahre vom Vereinigten Königreich lösen, fast vergleichbar mit dem Artikel-50-Prozess.
Vier kritische Fragen für die EU
Erst wenn dieses Verfahren läuft, also die Bevölkerung Schottlands unmissverständlich für dessen Ausscheiden aus dem Vereinigten Königreich votiert hat, muss auch die EU kritische Fragen zur schottischen Unabhängigkeit klären. Vier davon sind besonders heikel für die Union. Sie wird mit ihnen wohl schon bald konfrontiert werden, sollte sich aber hüten, voreilige Antworten darauf zu geben.
Die erste Frage berührt die EU-Mitgliedschaft an sich. Wie jeder europäische Staat hätte auch ein unabhängiges Schottland gemäß Artikel 49 EUV das Recht, einen Antrag auf Beitritt zur EU zu stellen. Mittlerweile obsolet aufgrund des Brexits sind die Diskussionen von 2014 über eine »interne Erweiterung« oder den direkten Übergang vom Vereinigten Königreich zur EU-Mitgliedschaft. Jedoch ist die EU nicht verpflichtet, Schottland aufzunehmen. Außerdem müsste es die Kopenhagener Kriterien in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, funktionierende wirtschaftliche Ordnung und Übernahme des EU-Acquis erfüllen. Da das Vereinigte Königreich nach dem Brexit zunächst den kompletten EU-Acquis in nationales Recht überführt hat, dürfte trotz erster Divergenzen eine Heranführung an EU-Recht relativ schnell zu bewältigen sein. Wichtigstes politisches Kriterium für Staaten wie Spanien dürfte indes sein, ob das Referendum verfassungsgemäß stattgefunden und die Unabhängigkeit in enger Abstimmung mit der britischen Regierung erklärt wurde – ob also zusätzlich zum Brexit sich auch das Prozedere deutlich von jenem im Fall Katalonien unterscheidet.
Die zweite Frage betrifft die Grenze zum restlichen Vereinigten Königreich. Infolge des harten Brexits wären nach einem EU-Beitritt Schottlands Grenzkontrollen an der dann entstehenden schottisch-britischen Grenze notwendig. Zwar wäre diese voraussichtlich politisch weniger aufgeladen als die nordirisch-irische Grenze zwischen EU und Vereinigtem Königreich. Dennoch wäre sie wirtschaftlich und politisch ein großer Einschnitt. Dies gilt umso mehr, als Schottlands Handel mit dem restlichen Vereinigten Königreich weitaus umfangreicher ist als mit der EU. Wie schon die Brexit-Befürworter vor dem EU-Referendum in Abrede stellten, dass der EU-Austritt wirtschaftliche Konsequenzen und neue Handelsschranken für das Vereinigte Königreich mit sich bringen würde, so bestreitet nun die SNP, dass Grenzkontrollen an der schottisch-britischen Grenze notwendig wären. Aus EU-Perspektive wären sie aber zumindest für den Warenverkehr beim Beitritt zu Zollunion und Binnenmarkt der Union zwingend erforderlich. Für den freien Personenverkehr wäre zu prüfen, ob Schottland analog zu Irland (und wie zuvor dem Vereinigten Königreich) ein Opt-out aus dem Schengener Abkommen zugestanden werden sollte, um Mitglied der Common Travel Area zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich zu bleiben.
Auch die dritte Frage dreht sich um ein potentielles Opt-out, nämlich die Währung. Schon beim Referendum 2014 spielte dies eine wichtige Rolle. Damals sprach sich die SNP-Regierung unter dem Eindruck der Eurokrise dafür aus, nach der Unabhängigkeit das britische Pfund zu behalten. Dies wurde von der »Better Together«-Kampagne als unglaubwürdig kritisiert und war eins ihrer Hauptargumente, um das hohe wirtschaftliche Risiko der Unabhängigkeit darzustellen. Aktuell hat die SNP für ein unabhängiges Schottland eine eigene Währung versprochen und zugesichert, vor der Einführung des Euro, falls sie denn stattfinden soll, ein weiteres Referendum abzuhalten. Zwar muss ein neues EU-Mitglied seine Währung nicht unmittelbar durch den Euro ersetzen. Zumindest langfristig ist aber, so die bisherige Praxis, auch ein Euro-Beitritt obligatorisch. Vor einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum wird daher voraussichtlich über zwei Schwerpunktthemen zu diskutieren sein. Zum einen dürfte es darum gehen, ob die EU Schottland bei einem Beitritt zum Euro verpflichten würde, der im Vereinigten Königreich nach wie vor einen äußerst schlechten Ruf hat. Zum anderen wird die SNP mit der Frage konfrontiert werden, ob eine eigenständige Währung und eine eigene Zentralbank bzw. der Euro und die EZB in der Lage wären, die gleiche wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten wie das britische Pfund und die Bank of England.
Die vierte Frage schließlich tangiert die Fischereipolitik. Dabei geht es weniger um ihre wirtschaftliche Bedeutung. Angesichts der ausgedehnten territorialen Gewässer Schottlands ist sie wie beim Brexit ein hoch politisches und emotionales Thema. Zwar haben schottische Fischer mehrheitlich den Brexit befürwortet, sind aber seit dem Ende der Übergangszeit besonders stark vom harten Brexit und den daraus erwachsenden Schwierigkeiten beim Export ihrer Ware in die EU betroffen. Eine der politisch heikelsten Verhandlungen, obwohl die Fischerei nur ein Viertelprozent der schottischen Wirtschaft ausmacht, wäre daher die Abwägung zwischen dem Zugang von EU-Fischern zu schottischen Gewässern, der Wiederherstellung des Zugangs zum EU-Markt und neuen Schranken beim Zugang zu britischem Markt und britischen Gewässern.
Nicht direkt die EU betreffend, aber dennoch aus deutscher Perspektive wichtig sind schließlich die potentiellen Auswirkungen auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ein unabhängiges Schottland wäre zunächst nicht mehr Mitglied der Nato. Bei Überwachung und Verteidigung des Luft- und Seeraumes in Europa entstände der Allianz daher eine große Lücke. Zudem steht die SNP den britischen Kernwaffen höchst kritisch gegenüber, denn die mit nuklearen Trident-Interkontinentalraketen bestückten vier britischen Atom-U-Boote sind in schottischen Häfen stationiert. Die schottischen Grünen lehnen Nuklearwaffen prinzipiell ab. Vergleichbar sichere Alternativen zu den schottischen Stützpunkten gibt es im restlichen Vereinigten Königreich nicht. Deswegen gehen britische Verteidigungsexperten davon aus, dass vorübergehend sogar eine Stationierung in einem anderen Nato-Staat wie Frankreich oder den USA notwendig werden könnte. Auch die Frage einer Nato-Mitgliedschaft an sich dürfte in Schottland umstritten sein. Irland beispielsweise ist nach der Unabhängigkeit bewusst neutral geblieben, um sich nicht an militärischen Interventionen des Vereinigten Königreichs beteiligen zu müssen.
Ausblick
Der Brexit hat den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs stark belastet und auch die Frage der schottischen Unabhängigkeit wiederbelebt, die eigentlich nach dem Referendum 2014 im Sinne ihrer Gegner »für mindestens eine Generation« geklärt schien. Dennoch ist der Weg zur Abspaltung Schottlands weder programmiert noch leicht. Ebenso wenig sollte er Anlass zu Häme oder Ansporn seitens der EU sein.
Die Analyse der rechtlichen Bedingungen für ein zweites Referendum zeigt, dass die absolute Mehrheit der Unabhängigkeitsbefürworter von SNP und schottischen Grünen allein dafür nicht ausreicht. Für vollständige Rechtssicherheit und politische Legitimität wäre es unerlässlich, dass Westminster eine solche Volksabstimmung autorisiert. Das freilich lehnen Boris Johnson und seine Konservativen bis dato ab. Aller Voraussicht nach wird ein langwieriger politischer Konflikt folgen, womöglich auch eine Auseinandersetzung vor dem Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs. Vor dem zweiten Halbjahr 2022 wird es daher kein Unabhängigkeitsreferendum geben. Für die EU und Deutschland gilt es in dieser Phase, alle Fragen rund um die schottische Unabhängigkeit als innenpolitische Themen zu behandeln und sich nicht einzumengen.
Käme es zu einem zweiten Referendum, bliebe der Ausgang mehr als ungewiss. Ende 2020 und Anfang 2021 lagen die Unabhängigkeitsbefürworter in mehreren Umfragen zum Teil deutlich vorn. Grund war die Kombination aus ungewolltem hartem Brexit und dem schlechten Covid-19-Management im Vereinigten Königreich. In puncto Pandemiebekämpfung stand Schottland auch durch die entschlossenere Politik der SNP-Regierung zunächst besser da. Aber infolge der Impfkampagne, die anders als Lockdown-Entscheidungen im Vereinigten Königreich zentral und offensichtlich erfolgreicher als in der EU gemanagt wurde, hat sich das Bild gewandelt. Seit Februar 2021 weisen die Umfragen einen leichten Trend in Richtung Verbleib aus.
Im längeren Verlauf ist daher anders als 2014 ein sehr knapper Ausgang zu erwarten, bei dem die Stimmung auch kurz vor dem Referendum noch kippen kann. Des Sieges gewiss kann sich keine der beiden Seiten sein. Die EU sollte auf keines der gegnerischen Lager wetten, geschweige denn die Unabhängigkeit aktiv unterstützen.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2021A38