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Das schottische Unabhängigkeitsstreben und die EU

Der lange Weg zum Referendum und die kritischen Fragen für die Europäische Union

SWP-Aktuell 2021/A 38, 11.05.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A38

Forschungsgebiete

Die Schottische Nationalpartei (SNP) ist bei den Regionalwahlen im Mai 2021 wieder mit Abstand stärkste Kraft geworden und hätte mit den schottischen Grünen die Mehrheit, um ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anzustoßen. Doch der Weg dahin ist unsicher. Anders als 2014 ist die Zustimmung des bri­ti­schen Parlaments wenig wahrscheinlich und die Kompetenz des schottischen Parlaments zum Beschluss einer weiteren Volksabstimmung umstritten. Das stellt auch die Europäische Union vor Herausforderungen. Der erneute Drang zur Unabhängigkeit ist eng mit dem aus schottischer Sicht ungewollten EU-Austritt verbunden. Aber der harte Brexit macht die Unabhängigkeit mit potentieller EU-Mitgliedschaft noch komplizierter. Zwar wird die EU kaum verhindern können, dass sie in die Debatte zwischen Edinburgh und London hinein­gezogen wird. Dennoch ist sie gut beraten, das schottische Unabhängigkeitsstreben weiterhin als interne Angelegenheit des Vereinigten Königreichs zu behandeln.

Die SNP konnte mit 47,7 Prozent erneut die Wahlen in Schottland gewinnen, braucht für eine eigene Mehrheit aber die Unterstützung der schottischen Grünen. Diese sind bei den Wahlen ebenfalls für ein neues Unabhängigkeitsreferendum einge­treten. Gemeinsam stellen die beiden Par­teien nun 72 der 129 Sitze und konnten ihren Sitzanteil weiter ausbauen. Die SNP begreift dies als Mandat der schottischen Bevölkerung, in der ersten Hälfte der neuen Legislaturperiode eine zweite Volksabstim­mung zur Unabhängigkeit auf den Weg zu bringen. Im Wahl­kampf bildete dies nach der weiteren Bekämpfung der Pandemie das zentrale Wahlversprechen der SNP, aber auch der schottischen Grünen.

Dabei ist die Frage der schottischen Un­abhängigkeit mittlerweile eng mit dem Brexit verbunden. Noch 2014 sprachen sich 55 Prozent der schottischen Bevölkerung einschließlich der damals wahlberechtigten in Schottland ansässigen EU-Bürgerin­nen und -Bürger gegen die Abspaltung vom Ver­einigten Königreich aus. Neben den wirt­schaftlichen Risiken lautete eines der Hauptargu­mente der damaligen »Better Together«-Kampagne, dass ein unabhängiges Schott­land automatisch aus der EU ausgeschlossen und ein rascher Wiederbeitritt als eigenständiges Mitglied unsicher sei. Auch wenn sich die EU selbst aus der Kampagne heraushielt, wurde diese Sicht­weise vom damaligen EU-Kommissions­präsidenten Barroso unter­stützt. Mit Ver­weis auf die Nichtanerkennung Kosovos durch Spanien erklärte er, ein Neubeitritt Schott­lands zur EU sei »extrem schwer, wenn nicht unmöglich«.

Der Brexit als Katalysator für die Unabhängigkeit

Bekanntermaßen hat sich das Verhältnis zwischen schottischer Unabhängigkeit und EU-Mitgliedschaft vollständig gewan­delt. Beim EU-Referendum 2016 stimmten 62 Pro­zent der schottischen Bevölkerung für den Ver­bleib in der EU und 38 Pro­zent dagegen. Das änder­te aber nichts am Gesamt­ergebnis, da die Schotten nur 8 Pro­zent der Bevöl­kerung des Vereinigten Königreichs aus­machen. Auch im weiteren Prozess sprach sich die schotti­sche Regie­rung für einen mög­lichst weichen Brexit aus und be­tonte, wie wichtig der Zu­gang zum Binnen­markt ein­schließlich der Freizügigkeit für die schot­tische Wirtschaft sei. Diese Posi­tion floss indes nicht in die Verhandlungsstrategie der kon­servativ geführten Regie­rungen unter The­resa May und Boris John­son ein. Forderungen nach einem Sonderstatus Schottlands ähnlich wie im Falle Nord­irlands wies die briti­sche Regie­rung (aber auch die EU) zurück.

Im weiteren Verlauf stimmte das schottische Parlament, ebenso wie die Parlamente von Nordirland und Wales, sowohl gegen das Austrittsabkommen als auch das Han­dels- und Kooperationsabkommen (HKA) mit der EU, das den harten Brexit vollendete. In beiden Fällen waren die Voten rechtlich für Westminster nicht bindend. Das House of Commons ignorierte die Ablehnung und rati­fi­zierte die Abkommen mit seiner konservativen Mehrheit. Aus Sicht der SNP wurde Schott­land damit nicht nur gegen seinen Willen aus der EU geführt, sondern zum harten Brexit gezwungen. Daher habe der Brexit die Situation Schottlands so ein­schneidend verändert, dass ein zweites Un­abhängigkeitsreferendum gerechtfertigt sei. Gleich­zeitig gilt der Brexit für die SNP als Parade­beispiel dafür, dass die demokratische Willensbildung der Schotten im Ver­einigten Königreich regelmäßig über­gangen wird. Zusätzlich verbindet die SNP auch argumentativ die Unabhängigkeit mit der poten­tiellen Rückkehr in die EU. SNP-Partei­chefin und schottische Erste Ministerin Nicola Stur­geon rief die EU gar dazu auf, einen Platz für Schottland freizuhalten.

Analysen zeigen jedoch, dass nicht der Brexit allein den fundamentalen Meinungs­umschwung zugunsten der Unabhängigkeit bewirkt hat. Zwar haben einige proeuropäi­sche Unabhängigkeitsgegner zur »Yes«-Seite gewechselt. Es gibt aber auch Schotten, die 2014 für die Un­abhängigkeit gestimmt haben, aber ent­weder auch für den Brexit waren oder nach den Erfahrungen mit diesem die wirtschaftlichen Risiken der Unabhängigkeit scheuen. Ausschlaggebend war die Kombination aus dem Brexit, der Regie­rungsüber­nahme durch Boris Johnson und dem sehr unterschiedlichen Corona-Management zwischen Schottland und England. Erst dieses Zusammenwirken hat dazu geführt, dass die Unabhängigkeits­befürworter Ende 2020 und Anfang 2021 zeitweise einen zum Teil klaren Vorsprung in Umfragen hatten.

Verstärkt durch den Brexit hat sich zudem die schottische weiter von der briti­schen Politik entfremdet. Seit 2015 ist Schottlands Politik so von der SNP dominiert, dass diese (auch wegen des briti­schen Mehrheitswahlrechts) durchgängig mehr Sitze in Schottland gewonnen hat als Kon­servative, Labour und Liberaldemokraten zusammen. Zurzeit sind es 44 von 59 Man­daten. Labour, früher jahr­zehntelang die vorherrschende Partei in Schottland, stellt nur noch einen einzigen schottischen Ab­ge­ordneten. Seit 2010 war es für den Aus­gang der Wahlen im Ver­einigten König­reich unerheblich, wie die Wahlen in Schottland ausgingen. Ihre Mehr­heiten erlangten die Tories stets in England und Wales. Die SNP aber nimmt in London eine reine Opposi­tionsrolle ein und hat erfolg­reich das Narra­tiv eines Wider­spruchs zwischen schottischen Inter­essen und der Politik der Regie­rung John­son geprägt. In den ebenfalls im Mai 2021 stattfindenden englischen Lokal- und Regionalwahlen hat sich der Stimmenanteil der Konservativen auf Kosten von Labour noch einmal deutlich erhöht, was das Narrativ der SNP einer Vorherrschaft der Tories in England verstärkt.

Schon 2020 wollte die SNP-geführte schot­tische Regierung ein zweites Referendum einleiten, unterbrach die Planungen aber mit dem Argument, zu­nächst alle poli­tischen Kräfte auf die Ein­dämmung der Pandemie zu konzentrieren. Mit der erneu­ten Mehrheit der Unabhängigkeitsbefürwor­ter will die Regierung aber nun ihr Wahl­kampf­versprechen einlösen und im Laufe der ersten Hälfte der neuen Legislatur­periode ein zweites Referendum initiieren.

Der lange Weg zum Unabhängigkeitsreferendum

Ob das schottische Parlament jedoch die Kompetenz hat, eigenständig eine Volks­abstimmung zur Unabhängigkeit auf den Weg zu bringen, ist rechtlich und politisch hoch umstritten und wird auch für die EU außerordentlich wichtig sein. 2014 waren Rechtmäßigkeit und Legitimität des Un­abhängigkeitsreferendums einwandfrei geklärt. So verständigten sich der damalige bri­tische Premierminister David Cameron und der schottische Erste Minister Alex Salmond 2012 in der »Vereinbarung von Edinburgh« darauf, dass sowohl die schot­tische als auch die britische Regierung das Ergebnis einer Volksabstimmung anerkennen würden, die auf solider recht­licher Basis, mit neutraler Fragestellung und unter fairen Bedingungen stattfinden sollte. Hier­für übertrug das britische Parla­ment durch eine Änderung des Scotland Act dem schot­tischen Parlament für begrenzte Zeit und einmalig die Sonder­zuständigkeit, ein Referendumsgesetz zu erlassen.

Die britische Regierung nahm damit im Unterschied etwa zu spanischen Regierungen gegenüber Kata­lonien bewusst das Risi­ko einer Volksabstimmung zur Unabhängig­keit in Kauf. Poli­ti­sches Kalkül war damals, dass die Befürworter die Mehr­heit verfehlen würden, ein schnelles Refe­rendum mit die­sem Resultat das Streben nach Unabhängigkeit entscheidend schwä­chen würde und die Frage »für mindestens eine Generation« ad acta gelegt werden könne. David Came­ron ging dieses kalku­lierte Risi­ko auch des­halb ein, weil die Zustimmung zur Unab­hängigkeit bei nicht einmal 30 Pro­zent lag, als das Referendum angesetzt wurde. Anders als beim spä­teren EU-Refe­rendum ging die Rechnung auf, auch wenn das Ergebnis mit 45 zu 55 Prozent spürbar knapper ausfiel als erwartet.

Risikoreiche Abwägung für Boris Johnson

2021 ist die politische und in der Folge wohl auch die recht­liche Ausgangslage anders. 2014 fehlten der SNP vier Sitze, 2021 nur noch einer zur absoluten Mehrheit im schot­tischen Parla­ment. Zwar hat sie mit 47,7 Pro­zent erheblich mehr Stimmenanteil als Boris Johnsons Konservative im Vereinigten Königreich (43,6 Prozent). Dank der unter­schiedlichen Wahlsysteme verfügt Johnson jedoch über eine komfortable absolute Mehr­heit im bri­tischen Unterhaus. David Cameron reichten dort 2015 sogar 36,9 Prozent für eine abso­lute Mehrheit, mit der er dann das EU-Refe­rendum auf den Weg brachte. Im schottischen Parlament hat die SNP mit den Grü­nen zwar eine klare Majo­rität für ein weite­res Unabhängigkeitsreferendum. Poli­tisch aber schwächt das Ver­fehlen einer eigenen Mehrheit dennoch die Erzählung der SNP von einem eindeutigen Mandat der schotti­schen Bevölkerung.

Ungewiss ist zudem, ob die schottische Regierung hierzu vom britischen Parlament abermals die spezifische, eindeutige Zustän­digkeit übertragen bekommt. Premier Boris Johnson hat dies nach den Wahlen bereits für absehbare Zeit abgelehnt. Schottlands Bevölkerung, so Johnson, habe sich 2014 unmissverständlich gegen die Unabhängig­keit ent­schieden, und das damalige Refe­rendum be­halte min­destens für eine Gene­ration seine demokratische Gültigkeit. Auch zwischen dem ersten und dem zweiten EU-Referen­dum im Ver­einigten Königreich (1975 und 2016) hätten mehr als 40 Jahre gelegen. Schon 2017 hatte die SNP mit Ver­weis auf den Brexit und die letzten schot­tischen Wahlen die Autorisierung für ein neues Referendum gefordert. Dieses An­sinnen wies die damali­ge Premierministerin May aber zurück, da es »nicht die Zeit dafür« sei und zunächst der Brexit-Prozess bewäl­tigt werden müsse.

Dieser ist zwar nun vollzogen, aber sowohl die Konservativen mit dem Premier an der Spitze als auch Labour sind weiter­hin gegen ein zweites Referendum. Vor allem Johnson spielt weiter auf Zeit. Hinzu kommt, dass eine neue Volksabstimmung ein wesentlich höheres Risiko birgt als jene im Jahr 2014. Aktuelle Umfragen zur schot­tischen Unabhängigkeit prognostizieren höchstens einen winzigen Vorsprung für den Ver­bleib im Vereinigten Königreich, wenn nicht gar eine knappe Mehrheit für den Austritt. Zudem organisierten 2014 Tories, Labour und Liberaldemokraten eine gemeinsame »Better Together«-Kampagne. Heute würde sich Labour zwar nicht für die schottische Un­abhängigkeit aussprechen, aber auch nicht mehr zusammen mit den Konserva­tiven Wahlkampf machen. Nicht zuletzt ähneln viele Argumente gegen die Unab­hängigkeit jenen gegen den Brexit. Diese können Johnson und seine Brexiteers kaum glaubwürdig vortragen. Boris John­son würde also riskieren, als der Premiermini­ster in die Geschichte einzugehen, der – mit dem Brexit – das Vereinigte König­reich dem Zerfall preisgegeben hat. In dem sich nun abzeichnenden Machtkampf zwischen SNP-geführter Regierung in Edinburgh und Johnsons Regierung wird das britische Parla­ment diesmal, anders als 2014, seine Ge­neh­migung wohl verweigern.

Optionen für die SNP

Trotz oder gerade wegen der klaren Rechts­lage von 2014 ist jedoch ungewiss, ob das schottische Parlament auch ohne vorherige Autorisierung durch Westminster eine Volksabstimmung auf den Weg bringen kann. Schon in den Jahren 2012 bis 2014 hatte die SNP argumentiert, die schottische Regierung habe zu ihrer rechtlichen und politischen Absicherung zwar das gesetzlich ver­ankerte Plazet Londons eingeholt, aber zwingend not­wendig sei das nicht gewesen.

Im Zentrum der Debatte steht der Scotland Act von 1998, der im britischen Rechts­system dem schottischen Parlament seine Kompetenzen zuweist. Gesetzgeberische Be­schlüsse des schottischen Parlaments außer­halb dieser Zuständigkeiten sind nichtig. Nicht statthaft unter anderem sind dem­nach Be­schlüsse, welche »die Union der König­reiche Schottland und England« sowie das Par­la­ment des Vereinigten Königreichs betreffen.

Auf Basis dieser Rechtslage akzeptiert auch die SNP-geführte schottische Regierung, dass das schottische Parlament die Union mit dem Vereinigten Königreich nicht einseitig aufheben und die Unabhän­gigkeit erklären kann. Zwischen bri­tischer und schottischer Regierung sowie in der britischen Rechtswissenschaft ist jedoch umstritten, ob bereits ein Unabhängigkeitsreferendum an sich damit ausgeschlossen ist, wenn es nicht zuvor von Westminster autorisiert wurde. So war beispielsweise auch das EU-Referendum von 2016 recht­lich un­verbindlich, obwohl es später eine starke politische Bindekraft entfaltet hat. Laut Recht­sprechung des Obersten Gerichts­hofs des Vereinigten Königreichs bedurfte es auch nach dem Brexit-Votum der briti­schen Bevölkerung eines vom Parlament beschlossenen Geset­zes, bevor Premier­ministerin Theresa May formell den Aus­tritt aus der EU gemäß Artikel 50 des Ver­trags über die Europäische Union in Gang setzen konnte.

Analog dazu argumentiert die SNP, auch das schottische Parlament könne eigenständig ein konsultatives Referendum auf den Weg bringen. Zur Vorbereitung hat die SNP mit ihrer Parlamentsmehrheit schon in der abgelaufenen Legislaturperiode zwei Gesetze verabschiedet, welche die britische Königin mit ihrer Unterschrift bereits in Kraft gesetzt hat. Das erste, der Referendums (Scot­land) Act, ent­hält die Grund­lagen für Volksabstim­mungen, für deren Ansetzung nun nur noch ein kurzes Gesetz des schot­ti­schen Parla­ments notwen­dig ist. Die Regeln entsprechen weit­gehend den landesweiten Bestimmungen des Vereinigten Königreichs, und die Referen­dumsfrage müsste von der briti­schen un­abhängigen Wahlkommission ge­prüft werden. Das zweite, der Scottish Elections (Franchise & Representation) Act, regelt unter anderem Fragen, die für den Refe­rendumsausgang wichtig sind. Dazu gehört das Wahlrecht, welches für alle legal in Schottland ansässigen Personen ab 16 Jah­ren gilt, also weiterhin auch für dort leben­de EU-Bürgerinnen und -Bürger.

Nach ihrem Wahlsieg will die SNP zu­nächst von der britischen Regierung for­dern, ein Referendum gemäß dem Scotland Act von 1998 zu autorisieren. Damit möchte die SNP sich recht­lich absichern und politische Legitimität im In- und Ausland gewinnen, besonders mit Blick auf die EU. Sollten die Regierung Johnson und das britische Parla­ment die Autorisierung erwartungsgemäß verweigern, will die SNP den­noch ein Refe­rendumsgesetz auf den Weg bringen. Es ist davon auszugehen, dass der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs ein solches Gesetz, das zuvor nicht vom briti­schen Parlament auto­risiert wurde, vor Inkrafttreten prüfen muss – mit offenem Ausgang. Noch hat sich die SNP nicht fest­gelegt, wie sie reagieren würde, sollte der Oberste Gerichtshof – wie das spanische Verfassungsgericht im Falle Kata­loniens – das angestrebte Referendum untersagen. Zu erwarten ist damit ein län­gerer juristischer und politischer Machtkampf zwi­schen der SNP und der Regierung Johnson darüber, ob ein Referendum ein­geleitet werden soll, und wenn ja, von wem.

Kein Referendum vor 2022

Aus dieser rechtlichen Gemengelage lassen sich zwei wichtige politische Schlussfolgerungen ziehen. Erstens wird ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nicht kurz­fristig erfolgen. Zwar muss auf Grundlage des Refe­ren­dums (Scotland) Act nur ein kurzes Gesetz das schottische Parlament passieren, dessen Mehrheit nun sicher ist. Die SNP wird sich den günstigsten Zeitpunkt hierfür aussuchen. Angekündigt hat sie ein Gesetz für die erste Hälfte der neuen Legislatur­periode, also bis Mitte 2023. Die unmittelbare Phase der Pandemie wird sie noch ab­warten und danach auf die Umfragen schauen. Dann werden die Verhandlungen mit der bri­ti­schen Regierung über eine Autorisierung und im Falle einer Ablehnung ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof mindestens ein halbes Jahr dauern. Für den weite­ren Verlauf sind im Referendums (Scotland) Act Bedingungen festgelegt: So muss die Ab­stim­mungsfrage von der Unabhängigen Wahlkommission geprüft werden. Für beide Seiten wird je eine offizielle Kampagne ausgewählt. Es gilt eine Mindestdauer für die öffentliche Debatte vor dem Abstim­mungstag. Beim ersten Unabhängigkeits­referendum hat dieser Prozess mehr als drei Jahre gedauert.

Nun sind zwar bereits wichtige recht­liche Grundlagen geschaffen worden, aber vor­aus­sichtlich wird das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof hinzukommen. Daher dürfte frühestens in der zweiten Jahres­hälfte 2022 mit einem Unabhängigkeits­referendum zu rechnen sein, wenn nicht erst 2023. Johnson könnte sogar ver­suchen, ein Referendum auf die Zeit nach den nächsten britischen Wahlen 2024 zu verschieben. Je nach den Um­fragen, die ak­tuell wieder auf eine knappe Mehr­heit für den Verbleib hin­deuten, könnte die SNP auch aus wahltaktischen Gründen anstre­ben, die Volksabstimmung auf einen für sie günstigeren Termin zu schieben.

Zweitens wird sich zumindest mittel­fristig wohl kein »katalanisches Szenario« ergeben, also kein verfassungswidriges Unabhängigkeitsreferendum gegen den Willen der britischen Regierung. Auch wenn die SNP ein Referendumsgesetz ohne Westmin­sters Autorisierung einbringt, wird es vom Obersten Gericht geprüft werden. Erst wenn das Gericht dem schottischen Parlament diese Kompetenz abspricht, muss die SNP entscheiden, ob sie weiter versucht, sich mit der briti­schen Regie­rung zu eini­gen, oder statt­dessen auf andere Weise eine Volks­befragung durchsetzen möchte.

Handlungsoptionen für die EU

Die Referendumspläne der SNP bringen die Europäische Union angesichts ihrer ohne­hin an­gespannten Beziehungen zum Ex-Mitglied Vereinigtes Königreich in eine heikle politische Lage. Das Streben nach der Unabhängigkeit Schottlands ist eng mit dem Brexit verknüpft, und die SNP-Führung macht keinen Hehl aus ihren Ambitionen, dass Schottland wieder EU-Mitglied werde. Darum wird es für die EU und auch Deutsch­land schwierig werden, politisch neutral zu bleiben. Die schottische Unabhängigkeit wird keine rein innenpolitische Angelegenheit des Vereinigten Königreichs bleiben. Jede Äuße­rung zu dem Prozess wird in der britischen und schottischen Presse als Ein­mischung genutzt oder verteufelt werden.

Auf der anderen Seite hat sich die Erste Ministerin Nicola Sturgeon bereits öffentlich an Deutschland und andere EU-Staaten gewandt, eine Tür für Schottland in der EU offen zu halten. Nicht zu unterschätzen ist zudem der Anreiz für proeuropäische poli­tische Akteure und Kommentatoren, die schottische Unabhängigkeit und damit das Aus­einanderbrechen des Vereinigten König­reichs zur dramatischen Kon­sequenz des Brexits zu erklären.

Gerade deshalb sind die EU und Deutschland gut beraten, politisch sehr vorsichtig mit der Frage der schottischen Unabhängigkeit umzugehen. Kurzfristig gilt dies nun für die Zeit nach den Wahlen. Solange die schottische und die britische Regierung darüber verhandeln oder vor Gericht strei­ten, ob es ein zweites Referendum geben darf, ist es im Interesse der EU, in diesen zunächst einmal innenpolitischen Konflikt nicht weiter hineingezogen zu werden. Auch Aufrufe wie jener von 170 euro­päi­schen und britischen Personen des öffent­lichen Lebens im April 2021, die EU solle ein unabhängiges Schottland willkommen heißen, dürf­ten in London als Versuch gewertet werden, das Vereinigte Königreich aufzuspalten. Überdies würde der Umgang mit der Son­der­situation in Nord­irland zu­sätzlich erschwert. Eine solche Schwächung des weiterhin für die EU und Deutschland wich­tigen Partners Vereinigtes Königreich sowie die damit verbundene Belastung für das europäisch-britische Verhältnis liegt nicht im gemeinsamen Interesse.

Politisch noch sensibler wird die Dis­kussion, falls es 2022 oder später tatsächlich zu einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum kommt. Wie sich Institutionen und ein­zelne Staaten der EU dazu positionieren, dürfte in dieser Zeit großen Wider­hall in der schottischen und bri­tischen Debatte finden. Ein besonderes Augenmerk dürfte sich dabei auf Deutschland, Spanien (wegen Katalonien), Frankreich und Irland richten. Das wirft Fragen hinsichtlich der eigenen Glaubwürdigkeit und des späteren Um­gangs mit beiden potentiellen Resultaten der Volksabstimmung auf. Auch hier wird gelten, dass jede Äußerung zur Unab­hängigkeit und zur möglichen Auf­nahme eines unabhängigen Schottlands in die EU instru­mentalisiert wird. Zu beachten ist, dass Schottland sich auch im Falle eines Yes-Votums nicht über Nacht für unabhängig erklären würde. Stattdessen würde es sich erst in einem längeren Aushandlungs­verfahren im Laufe der nächsten Jahre vom Vereinigten Königreich lösen, fast vergleich­bar mit dem Artikel-50-Prozess.

Vier kritische Fragen für die EU

Erst wenn dieses Verfahren läuft, also die Bevölkerung Schottlands unmissverständlich für dessen Ausscheiden aus dem Ver­einigten Königreich votiert hat, muss auch die EU kriti­sche Fragen zur schottischen Unabhängigkeit klären. Vier davon sind besonders heikel für die Union. Sie wird mit ihnen wohl schon bald konfron­tiert werden, sollte sich aber hüten, vor­eilige Antworten darauf zu geben.

Die erste Frage berührt die EU-Mitglied­schaft an sich. Wie jeder europäische Staat hätte auch ein unabhängiges Schottland gemäß Artikel 49 EUV das Recht, einen An­trag auf Beitritt zur EU zu stellen. Mittler­weile obsolet auf­grund des Brexits sind die Diskussionen von 2014 über eine »interne Erweiterung« oder den direkten Übergang vom Vereinigten Königreich zur EU-Mitglied­schaft. Jedoch ist die EU nicht verpflichtet, Schottland aufzunehmen. Außerdem müss­te es die Kopenhagener Kriterien in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, funktionierende wirtschaftliche Ord­nung und Übernahme des EU-Acquis erfül­len. Da das Vereinigte Königreich nach dem Brexit zunächst den kompletten EU-Acquis in nationales Recht überführt hat, dürfte trotz erster Divergenzen eine Heranführung an EU-Recht relativ schnell zu bewäl­tigen sein. Wichtigstes politisches Kriterium für Staa­ten wie Spa­nien dürfte indes sein, ob das Referendum verfassungsgemäß stattgefunden und die Unabhängigkeit in enger Ab­stimmung mit der bri­tischen Regierung erklärt wurde – ob also zusätzlich zum Brexit sich auch das Prozedere deut­lich von jenem im Fall Katalonien unterscheidet.

Die zweite Frage betrifft die Grenze zum restlichen Vereinigten König­reich. Infolge des harten Brexits wären nach einem EU-Beitritt Schottlands Grenzkontrollen an der dann entstehenden schottisch-britischen Grenze notwendig. Zwar wäre diese voraus­sichtlich politisch weniger aufgeladen als die nordirisch-irische Grenze zwischen EU und Vereinigtem Königreich. Dennoch wäre sie wirtschaftlich und poli­tisch ein großer Einschnitt. Dies gilt umso mehr, als Schott­lands Handel mit dem rest­lichen Vereinigten Königreich weitaus um­fangreicher ist als mit der EU. Wie schon die Brexit-Befür­worter vor dem EU-Referen­dum in Abrede stellten, dass der EU-Austritt wirt­schaftliche Konse­quenzen und neue Han­delsschranken für das Vereinigte König­reich mit sich bringen würde, so bestreitet nun die SNP, dass Grenz­kontrollen an der schottisch-briti­schen Grenze notwendig wären. Aus EU-Per­spektive wären sie aber zumindest für den Warenverkehr beim Beitritt zu Zoll­union und Binnenmarkt der Union zwin­gend erforderlich. Für den freien Personenverkehr wäre zu prüfen, ob Schottland ana­log zu Irland (und wie zuvor dem Ver­einig­ten Königreich) ein Opt-out aus dem Schen­gener Abkommen zugestanden werden sollte, um Mitglied der Common Travel Area zwischen Irland und dem Ver­einigten Königreich zu bleiben.

Auch die dritte Frage dreht sich um ein potentielles Opt-out, nämlich die Währung. Schon beim Referendum 2014 spielte dies eine wich­tige Rolle. Damals sprach sich die SNP-Regie­rung unter dem Eindruck der Euro­krise dafür aus, nach der Unabhängigkeit das britische Pfund zu behalten. Dies wurde von der »Better Together«-Kampagne als unglaubwürdig kritisiert und war eins ihrer Hauptargumente, um das hohe wirt­schaftliche Risiko der Unabhängigkeit dar­zustellen. Aktuell hat die SNP für ein un­abhängiges Schottland eine eigene Wäh­rung versprochen und zugesichert, vor der Einführung des Euro, falls sie denn statt­finden soll, ein weiteres Referendum abzu­halten. Zwar muss ein neues EU-Mitglied seine Währung nicht unmittelbar durch den Euro ersetzen. Zu­mindest langfristig ist aber, so die bisherige Praxis, auch ein Euro-Beitritt obligatorisch. Vor einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum wird daher voraussichtlich über zwei Schwerpunktthemen zu dis­kutieren sein. Zum einen dürfte es darum gehen, ob die EU Schott­land bei einem Beitritt zum Euro verpflich­ten würde, der im Vereinigten König­reich nach wie vor einen äußerst schlechten Ruf hat. Zum anderen wird die SNP mit der Frage konfrontiert werden, ob eine eigen­ständige Währung und eine eigene Zentral­bank bzw. der Euro und die EZB in der Lage wären, die gleiche wirtschaft­liche Stabilität zu gewähr­leisten wie das britische Pfund und die Bank of England.

Die vierte Frage schließlich tangiert die Fischereipolitik. Dabei geht es weniger um ihre wirtschaftliche Bedeutung. Angesichts der ausgedehnten terri­torialen Gewässer Schottlands ist sie wie beim Brexit ein hoch politisches und emotionales Thema. Zwar haben schot­tische Fischer mehrheitlich den Brexit be­fürwortet, sind aber seit dem Ende der Über­gangszeit besonders stark vom harten Brexit und den daraus erwachsenden Schwie­rigkeiten beim Export ihrer Ware in die EU betroffen. Eine der politisch heikel­sten Verhandlungen, obwohl die Fischerei nur ein Viertelpro­zent der schotti­schen Wirtschaft ausmacht, wäre daher die Ab­wä­gung zwischen dem Zugang von EU-Fischern zu schottischen Gewässern, der Wieder­herstellung des Zugangs zum EU-Markt und neuen Schranken beim Zugang zu briti­schem Markt und britischen Gewäs­sern.

Nicht direkt die EU betreffend, aber den­noch aus deutscher Perspektive wichtig sind schließlich die potentiellen Auswirkungen auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs­politik. Ein unabhängiges Schottland wäre zunächst nicht mehr Mitglied der Nato. Bei Überwachung und Verteidigung des Luft- und Seeraumes in Europa ent­stände der Allianz daher eine große Lücke. Zudem steht die SNP den britischen Kern­waffen höchst kritisch gegenüber, denn die mit nuklearen Trident-Interkontinental­raketen bestückten vier britischen Atom-U-Boote sind in schot­tischen Häfen stationiert. Die schottischen Grünen lehnen Nuklearwaffen prinzipiell ab. Vergleich­bar sichere Alternativen zu den schottischen Stützpunk­ten gibt es im restlichen Ver­einig­ten König­reich nicht. Deswegen gehen briti­sche Ver­teidigungsexperten davon aus, dass vorüber­gehend sogar eine Stationierung in einem anderen Nato-Staat wie Frank­­reich oder den USA not­wendig werden könnte. Auch die Frage einer Nato-Mitgliedschaft an sich dürf­te in Schottland umstritten sein. Irland bei­spiels­weise ist nach der Unabhängigkeit be­wusst neutral geblieben, um sich nicht an militä­rischen Interventionen des Vereinigten Königreichs beteiligen zu müssen.

Ausblick

Der Brexit hat den Zusammenhalt des Ver­einigten Königreichs stark belastet und auch die Frage der schottischen Unabhängig­keit wiederbelebt, die eigentlich nach dem Referendum 2014 im Sinne ihrer Gegner »für mindestens eine Generation« geklärt schien. Dennoch ist der Weg zur Ab­spal­tung Schottlands weder programmiert noch leicht. Ebenso wenig sollte er Anlass zu Häme oder Ansporn seitens der EU sein.

Die Analyse der recht­lichen Bedingungen für ein zweites Refe­ren­dum zeigt, dass die absolute Mehrheit der Unabhängigkeits­befürworter von SNP und schottischen Grü­nen allein dafür nicht aus­reicht. Für voll­ständige Rechts­sicherheit und politische Legitimität wäre es unerlässlich, dass West­minster eine solche Volks­abstimmung auto­risiert. Das freilich lehnen Boris Johnson und seine Konservativen bis dato ab. Aller Voraussicht nach wird ein langwieriger politischer Kon­flikt folgen, womöglich auch eine Auseinandersetzung vor dem Obersten Gerichtshof des Vereinig­ten Königreichs. Vor dem zweiten Halbjahr 2022 wird es daher kein Unabhängigkeitsreferendum geben. Für die EU und Deutsch­land gilt es in dieser Phase, alle Fragen rund um die schot­tische Unabhängigkeit als innenpolitische Themen zu behandeln und sich nicht ein­zumengen.

Käme es zu einem zweiten Referendum, bliebe der Ausgang mehr als un­gewiss. Ende 2020 und Anfang 2021 lagen die Unabhängigkeitsbefürworter in mehre­ren Umfragen zum Teil deutlich vorn. Grund war die Kom­bination aus ungewolltem hartem Brexit und dem schlechten Covid-19-Manage­ment im Vereinigten König­reich. In puncto Pan­demiebekämpfung stand Schottland auch durch die entschlossenere Politik der SNP-Regierung zunächst besser da. Aber infolge der Impf­kampagne, die anders als Lockdown-Entscheidungen im Vereinigten König­reich zentral und offensichtlich erfolg­reicher als in der EU gemanagt wurde, hat sich das Bild gewan­delt. Seit Februar 2021 weisen die Um­fragen einen leichten Trend in Richtung Verbleib aus.

Im längeren Verlauf ist daher anders als 2014 ein sehr knapper Ausgang zu erwar­ten, bei dem die Stimmung auch kurz vor dem Referendum noch kippen kann. Des Sieges gewiss kann sich keine der beiden Seiten sein. Die EU sollte auf keines der geg­nerischen Lager wetten, geschweige denn die Unab­hängigkeit aktiv unterstützen.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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