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Regionale Kooperationsinitiativen im östlichen Teil von EU und Nato

Verbindungen schaffen, Einfluss gewinnen, Sicherheit verbessern

SWP-Aktuell 2022/A 32, 20.04.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A32

Forschungsgebiete

Im östlichen Teil von Europäischer Union und Nato wächst die Zahl regionaler Ko­ope­rationsprozesse. Zu etablierten Formaten wie der Vise­grád-Gruppe sind in den letzten Jahren weitere Zusammenschlüsse getreten, so die Drei-Meere-Initiative, das Lubliner Dreieck oder die mitteleuropäischen Central Five. Diese Initiativen verfolgen recht unterschiedliche Ziele. Manche sollen Wirtschaftsbeziehungen intensivie­ren, andere wollen mehr Einfluss in der EU, einige werden durch sicherheitspolitische Herausforderungen angetrieben. Zwar werden nicht alle dieser Gruppen politische Schlagkraft gewinnen. Doch zeugen die minilateralen Entwicklungen in Europas Ostteil davon, dass die Staaten dort neben ihrem Zusammenwirken mit den USA und dem Zentrum der EU vermehrt nach selbstorganisierten Kooperationsformen in ihrer Umgebung streben. Der Krieg in der Ukraine bringt für die regionalen Formate einen spürbaren Versicherheitlichungsschub.

Die Länder im Ostteil von EU und Nato sind traditionell eng mit Deutschland und ande­ren Ländern der »alten EU« verflochten, etwa Öster­reich und nordeuropäischen Staaten. Zudem sind sie sicherheitspolitisch meist intensiv mit den USA verkettet. Dadurch ist in der EU ein Nabe-und-Speichen-Gefüge aus den Staaten der Region und dem Inte­grationszentrum, vor allem Deutschland, entstanden. Entwickelt hat es sich komple­mentär zu den mehr oder minder intensiven, sicher­heitspolitisch unterlegten bilate­ralen Part­nerschaften einiger Staaten mit den USA. Lange waren es vor allem die Vise­grád-Gruppe (V4), also Polen, Tsche­chi­sche Repu­blik, Slowakei und Ungarn, sowie die drei baltischen Staaten mit ihrer eingespielten Zusammenarbeit, die als pluri­laterale Grup­pen in der Region fungierten. Seit Mitte der 2010er Jahre traten weitere Koope­rationsformate auf den Plan: Anfang 2015 gründeten die Tschechische Republik, Öster­­reich und die Slowakei die Slavkov-Gruppe (S3). Ende 2015 fanden sich neun Länder der Nato-Ostflanke als lockeres Kon­sultations­format Buka­rest Neun (B9) zusam­men. 2016 schufen zwölf Länder die Drei-Meere-Initia­tive (3SI). Im Sommer 2020 ver­einbarten die Außen­minister Litauens, Polens und der Ukraine eine Kooperation als Lubliner Drei­eck (L3). Kurz zuvor hatten sich die Außen­minister fünf mitteleuropäischer Länder zur besseren Abstimmung bei der Covid-19-Pandemie als Cen­tral Five (C5) ge­troffen. Anders als bei der Kooperation zwi­schen China und den Ländern Mittel- und Ost­europas (17+1/16+1) geht es diesen Ini­tia­ti­ven um die Vernetzung und Zusam­men­arbeit mit regionalen Nach­barn. Die Betrach­tung der Formate bringt ein Kalei­do­skop an Gruppen sowie an Bün­delungs- und Aus­differenzierungsprozessen zum Vorschein.

Visegrád-Gruppe: Kooperation mit ideologischen Differenzen

Die Visegrád-Gruppe ist traditionell die inten­sivste regionale Kooperationsplattform in Ostmitteleuropa. 2021 beging die Gruppe ihr dreißigjähriges Jubiläum. Sie deckt ein breites Themenspektrum ab und arbeitet auf meh­reren Ebenen. Es geht um low politics, also wirt­schaftliche und infrastrukturelle Bindungen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Austausch, wie auch um high politics, etwa europapolitische Koordination, die Zusam­menarbeit mit Partnern oder die Positionierung zu außen­politischen Heraus­forderungen. Die Programme der im Jahres­rhythmus rotierenden Vor­sitze gleichen ausführlichen Themenkatalogen mit detail­lierten Projekt­listen.

Die Visegrád-Gruppe ist wenig formalisiert, auch kaum institutionalisiert, mit Ausnahme des Internationalen Visegrád-Fonds, der zivilgesellschaftliche, kulturelle und for­schungsbezogene Vor­haben unter­stützt. Sein Jahresbudget wurde im Herbst 2021 von 8 auf 10 Millionen Euro erhöht. Allerdings besteht ein dichtes Netzwerk an Zusammenkünften auf Spitzen­ebene, zwi­schen Fachministern und auf Arbeitsebene. Vor Europäischen Räten oder Treffen der Räte für Allgemeine und für Auswärtige Angelegenheiten sowie bei der Vorbereitung anderer Ratsformationen finden Kon­sultationen im V4-Rahmen statt.

Spürbar verstärkt hat sich auch die Part­nerpolitik der V4. Unter den EU-Ländern wird der Kontakt mit dem jeweiligen Rats­vorsitz gesucht. Vertreter aus Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien werden zu Treffen eingeladen, bei denen Themen wie etwa Landwirtschaft oder Nach­haltigkeit im Mittelpunkt stehen. Immer wieder gibt es Begeg­nungen mit anderen Gruppen, so mit den baltischen Staaten. Der ungarische Vorsitz plante mehr Zusammenkünfte der Visegrád-Gruppe mit Deutschland. Dazu kommen viele V4-Plus-Formate mit Dritt­ländern. Hier geht es darum, wirtschaftliche Bin­dungen zu festigen – etwa mit Süd­korea, für das die V4 das größte Investitionsgebiet ist –, EU-Nachbarn in der Östlichen Partnerschaft und auf dem Westbalkan zu unterstützen oder Sonderbeziehungen wie etwa zu Israel zu unterstreichen.

Der Zusammenhalt der V4 wird vor allem durch drei Faktoren erschwert. Erstens weichen die Ansätze in der Russ­land- und zu­nehmend auch in der China-Politik von­ein­ander ab. Polen und die Tschechische Repu­blik sind hier mit Ungarn nicht einig. Zweitens gibt es Unterschiede im Verhältnis zu Deutschland. Polens deutschlandkritische Eindämmungspolitik kontrastiert mit der engen politischen und wirtschaftlichen Bindung der anderen drei an Deutschland. Drittens ist auch die Haltung zur EU nicht unumstritten. Tschechische Republik und Slowakei sind EU-freundlich und unterstützen weitgehend die Rechtsstaatspolitik der EU-Organe. Polen und Ungarn dagegen lehnen unter anderem EU-Inter­ventionen bei Rechtsstaatlichkeit ab.

Schon früher waren inne­re Ausdifferenzierungen (Vise­grád 2+2 oder 1+3) die Folge. Schon länger ver­suchen die Tschechische Republik und die Slowakei, sich von Polen und Ungarn abzugrenzen, indem sie in anderen Gruppen aktiv sind, mit Deutsch­land zusammenarbeiten und EU-freund­liche Positionen vertreten. Nun hat sich durch den Krieg in der Ukraine eine neue 3+1-Konstellation ergeben: Ungarns »prag­matischer« Kurs gegenüber Russland weicht spürbar von der konsequent russlandkritischen Haltung der ande­ren drei Länder ab. Die Russlandpolitik zerteilt die Vierer­gruppe und hat bewirkt, dass das Verhältnis zwischen Warschau und Budapest sich abgekühlt hat. Dies wird dazu führen, dass die außen- und sicherheitspolitische Dimension von Visegrád reduziert wird. So wurde ein für Ende März geplantes Treffen der V4-Verteidigungs­minister in Budapest abgesagt, nachdem der tschechische und der polnische Minister ihre Teilnahme zurückgezogen hatten. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Differenzen über Russland auch in die Europapolitik verlagern und beispielsweise Zusammenkünfte der V4-Regierungschefs ausfallen werden. Gleich­wohl wird die Visegrád-Gruppe nicht zer­brechen, sondern sich auf wirtschaftliche und kulturelle Themen sowie weiterhin auch auf Europapolitik wie etwa Binnenmarktfragen und Migration konzentrieren.

Slavkov und C5: Zusammenarbeit in der Mitte Europas

Die Kooperation zwischen der Tschechischen Republik, der Slowakei und Öster­reich wur­de am 29. Januar 2015 im süd­mährischen Slavkov (deutsch Austerlitz) durch ein Treffen der (damals sozialdemokratischen) Regierungschefs der drei Länder aus der Taufe gehoben. Der inhaltliche Rah­men der Dreierzusammenarbeit wurde weit gesteckt: Er soll von Fragen der nachbarschaftlichen Kooperation über euro­päische Angelegenheiten bis zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung reichen. Bei der ersten Zusammenkunft besprach man auch die damalige Russland-Ukraine-Krise sowie »externe Herausforderungen« der EU. Das Slavkov-Trio hat keine festen Institutionen. In Arbeitsplänen eines jährlich wechselnden Vorsitzes werden die Schwerpunkte konkretisiert. Neben den Tref­fen der Regie­rungschefs (bisher fünf) und auf Ministerebene werden Gespräche auf Arbeitsebene abgehalten, die von natio­nalen Koordinatoren vorbereitet werden. Im Vordergrund des trilateralen Austauschs stehen Themen wie Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen und Energiesicherheit, Migra­tion oder Wett­bewerbsfähigkeit. Während des österreichischen Vorsitzes wurde im Herbst 2021 eine Erklärung der Außenminister zur digitalen Transforma­tion angenommen. Die drei Länder betonen auch ihren gemein­samen Willen, die europäischen Perspektiven des West­balkans zu unterstützen.

Das Trio hat sich auch nach Regierungswechseln in den drei Ländern gehal­ten. Eine Alternative zur Vise­grád-Gruppe ist es nicht, obschon Slavkov für Prag und Brati­slava die Chance bietet, auch ohne Warschau und Budapest außenpolitische Akzente zu setzen. Die gemeinsame Reise der drei Außenminister Anfang Febru­ar 2022 in die Ukraine oder ihr Besuch in der Republik Moldau Anfang April 2022 sind ein Beleg hierfür.

Als Central Five treffen sich seit Juni 2020 die Außenminister der Tschechischen Republik, der Slowa­kei, Österreichs, Ungarns und Sloweniens. Ausgangspunkt für die Zu­sammenarbeit der fünf mitteleuropäischen Länder war die Covid-19-Pandemie. Nach unkoordinierten Grenzschließungen woll­ten die Regierungen gemeinsame Wege zu einem effektiveren und besser kommunizierten Management der coronabedingten Reise­einschrän­kungen finden.

Die C5 öffnete sich nach einiger Zeit für außenpolitische Themen. Alle fünf Staaten engagieren sich in der EU und mit bila­te­ra­len Aktivitäten dafür, die Westbalkanstaaten an die EU heranzuführen. Trotz unter­schiedlicher Vorstellungen zur Russland- und Ukrainepolitik wurde der ukrainische Außenminister zum C5-Treffen in Bratislava im Mai 2021 eingeladen. Wie schon bei an­deren Zusammenkünften gab es aber keine gemeinsamen Stellungnahmen der C5.

Unabhängig von den Themenfeldern werden die C5-Treffen von einem Set spezi­fischer Interessen getragen. Für Österreich sind C5 und Slavkov-Trio Koope­rations­­initiativen für eine aktivere Mittel­europa- und Nachbarschaftspolitik. Sie seien ein »Ring an tragfähigen Partnerschaften um uns herum«, so Außenminister Schallenberg auf der österreichischen Botschafter­konferenz im September 2021. Für Slo­wenien bietet C5 die Möglichkeit, seine mittel­europäische Außenpolitikidentität zu unterstreichen. Die Tschechische Repu­blik und die Slowa­kei ergänzen durch C5 und Slavkov ihre Palette zentraleuro­päischer Kooperations­plattformen.

Lubliner Dreieck: Antwort auf die Russkij Mir

Am 28. Juli 2020 schufen die Außenminister Polens, Litauens und der Ukraine im ost­polnischen Lublin eine trilaterale Kooperationsstruktur. Das Lubliner Dreieck baut auf bestehende bi- und trilaterale Zusammenhänge auf, vor allem die Litauisch-Pol­nisch-Ukrainische Brigade und die seit 2005 exi­stierende tri­laterale parlamentarische Ver­sammlung. Ursprünglich hatte man auch erwogen, Belarus einzubeziehen. Nach dem August 2020 war es indes aus­geschlossen, Offizielle aus Minsk an den Treffen teil­haben zu lassen. Allerdings könnte bei bestimmten Aspekten die bela­russische Zivilgesellschaft involviert werden.

Ein wesentliches Ziel des L3 ist es, die Westbindung der Ukraine durch die EU- und Nato-Länder Polen und Litauen zu unterstützen sowie die gegenseitigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Beziehungen zu festigen. Vor allem be­greift sich das Lubliner Dreieck als Forum, das russischem Ausgreifen in Ost- und Ostmittel­europa entgegentritt. Neben der geostrategischen und sicherheitspolitischen hat das Format eine historisch-normative Dimension. Das L3 knüpft an das Erbe der polnisch-litauischen Adelsrepublik an, die 1569 durch die Lubliner Union gegründet worden war. In einer Erklärung vom Juli 2021 heben die Außenminister der drei Länder explizit auf mannigfache Traditionen und Werte ab so­wie auf das aus ihrer Sicht hierin wurzelnde polnische, litauische und ruthenische (ukrainische) Freiheitsstreben. Das »gemein­same europäische historische Vermächtnis« verbinde weiterhin »unsere Nationen im vereinten Europa und gibt uns das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit und Solidarität«. Der ukrainische Außenminister Kuleba bezeichnete das Lub­liner Dreieck, offenkundig mit Blick auf dessen geokulturelle Komponente, als Alter­native zu Moskaus Konzept der Russischen Welt (Russkij Mir).

Um die Tätigkeit des L3 zu konkretisieren, wurde im Juli 2021 ein Aktionsplan ange­nommen. Er sieht das Zu­sam­men­wirken in internationalen und regio­nalen Organisa­tionen ebenso vor wie sicherheitspolitische Zusammenarbeit, zudem Koope­ration bei Energie, Cybersicherheit, Pandemiebekämpfung, auf zivilgesellschaftlichem und huma­nitärem Gebiet sowie bei der Abwehr von Desinformation.

Angesichts der Kriegsgefahr und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden die L3-Treffen intensiver. Seit Ende 2021 werden auch L3-Gipfel abgehalten. Gut zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges wurde eine Zusammenkunft der Regierungs­chefs in War­schau organisiert. Die Zukunft des L3 wird davon abhängen, in welcher Form die Ukraine nach dem Krieg existieren wird und welchen Einfluss Polen und Litauen in EU und Nato ausüben werden.

Drei-Meere-Initiative: Konnektivität im Osten der EU

Die 2016 in Form eines Gipfeltreffens eta­blierte Drei-Meere-Initiative (3SI) vereint zwölf EU-Mitgliedstaaten zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria. Sie will wirt­schaftliche und infrastrukturelle Verbindungen zwischen den Teilnehmern verbes­sern. Auf ihrem letzten Gipfel Anfang Juli 2021 in Sofia bekräftigte die 3SI ihr Selbst­verständnis als »Kooperationsplattform, die auf eine wachsende Konnektivität insbesondere entlang der Nord-Süd-Achse in der Region von Mittel- und Osteuropa auf den Feldern von Verkehr, Energie und Digitalisierung« abzielt.

Die 3SI hat sich in den vergangenen Jahren konsolidiert und konkretisiert. Zu den jährlichen Gipfeln hinzu kamen ein Businessforum und Fachministertreffen. So wurde im November 2021 erstmals eine Fach­minis­terkonferenz zur digitalen Trans­formation einberufen. Der Investitionsfonds der Initiative (3SIIF) soll Projekte aus den drei Schwerpunktbereichen mitfinanzieren, um gegenüber dem Westen der EU Entwicklungsrückstände in der Region auf­zuholen und Infrastrukturlücken dort zu schließen. Am Fonds sind vor allem natio­nale Ent­wick­lungsbanken beteiligt. Zusam­men mit Einlagen internationaler Finanz­institutionen und privater Geldgeber soll er auf ein Volu­men von bis zu 5 Milliarden Euro anwachsen.

Unter den teilnehmenden Län­dern herrscht Konsens über die wirtschaftliche und konnektivitätsbezogene Orientierung der 3SI. Uneinig ist man sich, inwie­weit der Zusammenschluss eine sicher­heitspoliti­sche Stoßrichtung haben soll. Für Polen, den Motor der Initiative, sowie die bal­tischen Staaten, Rumänien und die Tschechische Republik unter neuer Regierung ist die 3SI auch ein geopolitischer Verbund, der nicht zuletzt die Anbindung der Region an die USA verstärkt. Wie zuvor die Trump-Admi­nistration stützt auch die Biden-Admini­stration die 3SI, sieht sie in ihr doch ein Mittel, russischen und chinesi­schen Einfluss im Osten Europas einzudäm­men. Die USA wollen sich mit 300 Millio­nen Dollar am 3SIIF beteiligen und diesen Betrag auf bis zu einer Milliarde aufstocken, wenn die 3SI-Länder die doppelte Summe aufbringen.

Zwar hat sich die 3SI stabilisiert, doch an­gesichts divergierender geostrategischer Prioritä­ten, schleppender Projektumsetzung und schwankenden Engagements der Teil­nehmer steht sie vor der Herausforderung, neuen Schwung zu gewinnen. Das lässt sich an der Situation des Fonds illustrieren: Die pol­nische Ent­wicklungsbank BGK stellt allein drei Viertel seiner Einlagen, Österreich beteiligt sich nicht am Fonds, die Tschechische Republik hat sich erst Ende 2021 zu einer Einlage durch­gerungen, auch die Slowakei zögert. Mehre­re Teilnehmerländer möchten offenbar erst das weitere Geschehen abwarten. Gipfel­treffen in ver­schiedenen Ländern ab­zuhal­ten reicht nicht aus, um ownership zu schaffen.

Sicherheitspolitische Formate an der Nato-Ostflanke

Im November 2015 fanden sich in Bukarest die Staats- und Regierungschefs von neun Län­dern aus dem Ostteil des Nato-Gebiets zusammen, nämlich Estland, Lett­land, Litauen, Polen, Tschechische Repu­blik, Slo­wakei, Ungarn, Rumänien und Bulga­rien. Hinter der Initiative standen vor allem Polen und Rumänien. Ausgangsimpuls war Russlands Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine. Die neun Länder ver­ur­teilten Russlands Verhalten und forderten unter anderem, die Kollektivverteidigungsfähigkeiten der Nato zu verstärken sowie Ab­schreckung und Verteidigung an der Nato-Ostflanke zu verbessern, um dem neuen sicherheitspolitischen Umfeld gerecht zu werden. Seither gab es vier Gipfel­treffen der Bukarest Neun, seit 2018 werden auch Zu­sammenkünfte der Verteidigungsmini­ster organisiert. Die B9 möchte gleichsam als Lobby für die Nato-Ostflanke fungieren.

Die B9 ist darauf bedacht, sich nicht als Spaltprojekt in der Nato, sondern als Motor ihrer Einheit darzustellen. In Erklärungen werden daher etwa die Bedeutung der süd­lichen Dimension der Nato und generell der Zusammenhalt des Bündnisses betont. Am B9-Gipfel im Mai 2021 in Bukarest nahmen auch US-Präsi­dent Biden und Nato-General­sekretär Stoltenberg teil. Bei einer Zusammenkunft auf Spitzen­ebene unmittelbar nach Russlands Angriff auf die Ukraine war Kommissionspräsidentin von der Leyen zugegen, womit die Gruppe sich auch im Rahmen der EU profi­lierte.

Für die (meisten) B9-Staaten ist die Platt­form daher nicht nur eine Pressure-Group in der Nato, sondern auch ein zusätzlicher Rahmen für Gespräche mit den USA. Im Kontext der russischen Drohkulisse gegen­über der Ukraine telefonierte der amerikanische Außenminister Austin mit seinen B9-Kollegen. Hierbei wurde auch Solidarität mit Litauen bei dessen Streit mit China signalisiert, der sich um die Eröffnung einer Ver­tretung Taiwans in Vilnius drehte. Für Polen und Rumänien geht es in der B9 auch darum, die Anliegen der Nato-Nord­ost­schulter und des südöstlichen Flügels der Allianz, also Rumäniens, Bulgariens und der Schwarzmeerregion, auf der Agenda zu halten. In diese Richtung zielt auch der polnisch-rumänisch-türkische Trilog. Dieser versteht sich als sicherheitspolitischer Kon­sulta­tionsrahmen der drei größten Nato-Staaten an der im weiten Sinne verstandenen Ostflanke des Bündnisses. Der Trilog findet seit 2016 auf Außenministerebene statt und widmet sich der strategischen Aus­richtung der Nato sowie Fragen der regio­nalen Sicherheit in Osteuropa und im Schwarzmeerraum. Er soll auf die Ebene der Staatschefs gehoben werden.

Triebkräfte regionaler Zusammenarbeit

Die Vielzahl regionaler Kooperationen im Ostteil von EU und Nato reflek­tiert die nach wie vor beträchtliche politische, wirt­schaft­liche und gesellschaftliche Heterogenität. Nur in Gestalt der 3SI hat sich ein Gebilde eta­bliert, das alle Länder der Region um­fasst. Auch dieses ist aber ein eher locke­rer Zusammenhang, in dem sich mannig­fache Interessenunterschiede widerspiegeln.

Die vielfältigen Prozesse strukturierter Konsultation und Zusammenarbeit in der Region konzentrieren sich zum einen auf nachbarschaftliche und wirt­schaftliche Belange. Das trifft von Anfang an auf die Slavkov-Gruppe und die Central Five zu, ihrem erklärten Selbstverständnis nach auch auf die 3SI. Zum anderen stehen sicherheitspolitische Aspekte im Mittelpunkt, etwa beim Lubliner Dreieck, beim Trilog Polen-Rumänien-Türkei, bei der B9 und nun auch im Slavkov-Trio. Die Vise­grád-Gruppe und aus Sicht eini­ger Teil­neh­mer auch die 3SI wiederum be­fassen sich mit beiden genannten Themen­feldern und zusätzlich mit Europapolitik.

Dabei verdichten sich die Interaktionen in der Zusammenarbeit vor allem zwischen den Ländern im östlichen Mitteleuropa, während Südosteuropa dahinter zurückbleibt. In Nordosteuropa hingegen werden die bewährten Kooperationsrahmen kon­solidiert. Allerdings bewirken die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Bela­rus und der Ukraine, dass die baltischen Staaten neue Kontakte zu Polen suchen.

Für Diskrepanzen sorgen unterschied­liche Bedrohungswahrnehmungen und daraus abgeleitete Strategien im Umgang mit gro­ßen Mächten. Derlei erhält durch Groß­machtkonkurrenz und vor allem den Krieg in der Ukraine neue Brisanz. Außen­politische und ideologische Gegensätze zwischen Regierungen haben das Zusammenspiel in Ländergruppen der Region er­schwert, aber nicht gesprengt.

Trotz solcher Differenzen und Differenzierungen sichert ein Ensemble von Trieb­kräften Kooperationstrends in der Region. Hier­zu gehören wichtige inhaltliche Über­lappungen beispielsweise bei der Sicherung des Binnenmarkts, in der Klimapolitik oder bei der Modernisierung von Infrastrukturen. Dazu kommen sicherheitspolitische Motive, die allerdings Spezifika im Ver­hältnis zu Russland, China und den USA widerspiegeln. Das gilt etwa für das Lubliner Dreieck, Kon­sultationen zwischen Polen und den balti­schen Staaten oder den polnisch-rumänisch-türkischen Trilog. Aufgrund der Problematik geschlossener Grenzen war die Pandemie ebenfalls ein Impuls dafür, sich um bessere minilaterale Ab­stimmung zu bemühen – auch wenn dies letztlich wenig fruchtete.

»Souveränistisch« inspirierte Regierungen wie in Warschau oder Budapest erbli­cken in regionaler Kooperation auch die Chance zur Gegenmachtbildung, sei es gegen EU-Institutionen oder ver­meint­liche deutsche oder deutsch-fran­zösische Hegemonie. Auch andere Exeku­tiven hoffen auf mehr actorness und Gestal­tungsmöglichkeiten in der EU oder generell auf regionaler, euro­päischer oder inter­natio­naler Ebene.

In die vielfältigen Gruppenkooperationen spielen intensive bilaterale Bezie­hun­gen hinein. Hierzu gehören die welt­anschaulich abgestützte Allianz zwischen Polen und Ungarn, das parteipolitisch unterlegte Nah­verhältnis zwischen Ungarn und Sloweni­en, die durch die Ereignisse in Belarus und den Blick auf Russland beför­derte polnisch-litauische Partnerschaft oder die seit jeher engen Beziehungen zwischen Prag und Bratislava.

Russlands Krieg in der Ukraine hat auch Konsequenzen für die gruppenschaftlichen Kooperationen im Ostteil von Nato und EU. Der Versicherheitlichungsschub, den der Krieg bringt, wertet Formate mit verteidigungs- und sicher­heitspolitischer Stoßrichtung auf und verstärkt geopolitisch

Tabelle 1

Überblick über gruppenschaftliche Kooperationsformate im Ostteil von EU und Nato

Gruppe

Teilnehmer

Themen

Institutionalisierung

Visegrád-Gruppe
(V4)

Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn

grenzüberschreitende Koope­ration, zivilgesellschaftliche und kulturelle Zusammen­arbeit, Europapolitik, Außen­politik (v.a. Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik)

jährlich wechselnder Vorsitz; euro­pa­politische Konsultation (z.B. vor Europäischen Räten), Visegrád-Fonds als Finanzie­rungs­instrument; V4-Treffen der Exekutiven auf allen Ebenen und zwischen Fach­ressorts; lockere parlamentarische Kontakte

Slavkov-Gruppe
(S3)

Tschechische Republik, Slowakei, Österreich

Regionalkooperation der
betei­ligten Länder; selektive The­mensetzung; seit jünge­rem außenpolitische Dimen­sion

geringe Institutionalisierung; jähr­lich wechselnder Vorsitz, getragen durch Außenministerien; vereinzelt Gipfel­treffen

Central Five
(C5)

Tschechische Republik, Slowakei, Österreich, Ungarn, Slowenien

ursprüngliches Vorrangthema Pandemie (u.a. Grenzproblematik); Westbalkan als außen­politischer Schwerpunkt

getragen von Außenministerien bzw. Treffen der Außenminister

Lubliner Dreieck
(L3)

Litauen, Polen,
Ukraine

Heranführung der Ukraine an EU und Nato; Energiesicher­heit, Verteidigung, Infrastruktur, Cybersicherheit

zunächst Außenministertreffen; seit Ende 2021 auch Zusammenkünfte der Staatsoberhäupter und Regie­rungschefs

Drei-Meere-
Initiative
(3SI)

Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tsche­chische Republik, Slowakei, Ungarn, Österreich, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien

Konnektivität, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Infrastruktur­ausbau in den Bereichen Energie, Verkehr und Digi­tales; partieller Einbezug von Part­nern (USA, Deutschland) und Nachbarregionen

jährliche Gipfeltreffen in unterschied­lichen Teilnehmerländern; Investitionsfonds; kein Sekretariat, natio­nale Ko­ordinatoren; einzelne Sektoraltreffen (Landwirtschaft, Energie im Rahmen der Partnership for Transatlantic Energy and Climate Cooperation); Businessforum; 2021 erst­mals parlamentarisches Forum

Bukarest Neun
(B9)

Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tsche­chische Republik, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien

Stärkung der Nato-Ostflanke

Gipfeltreffen sowie Zusammenkünfte von Verteidigungs- und Außen­ministern

beding­te Trennlinien in einzelnen Gruppen, etwa in V4 oder B9. Unverkennbar hat sich Polen hier zu einem wichtigen Kooperations­zen­trum entwickelt. Dies gelang durch diplo­matische Anstrengungen und multiple Ver­netzungen, sowohl in der Region – mit den baltischen Staaten, der Ukraine oder als neuem Format durch Koordination mit der Tschechischen Republik und Slowenien so­wie insgesamt an der Ostflanke – als auch mit den USA und Großbritannien. Noch kurz vor Ausbruch des Krieges hatte War­schau eine britisch-ukrainisch-polnische Trilaterale initiiert. Der Besuch von US-Präsident Biden in Polen Ende März und zahlreiche andere hochrangige Kontakte mit amerikanischen Politikern zeugen von der Bedeutung Polens als regionaler Akteur.

Regionale Kooperationsprozesse im Blick behalten

Die mini- und plurilateralen Kooperationsformate im östlichen Teil Europas sind kein Ausdruck eines neuen Regionalismus. Viel­mehr zeugen sie davon, dass die Länder der Region unterschiedliche Formen nachbarschaftlicher Zusammenarbeit testen und ihre Außen- und Europapolitik diversifi­zieren wollen. So verschieden die Beweggründe sein mögen, scheint doch in diesen Pro­zessen der Wille auf, europa- und außen­­politisch aktiver zu werden. Es geht darum, Wege aus der wirtschaftlich-politischen Peripherie der europäischen Integration zu finden, Sicherheitsrisiken am vulnerablen Saum der Nato zu redu­zieren, die fragilen Zonen jenseits der westlichen Verbund­systeme stabiler zu machen oder schlicht Eigen­interessen besser durch­zusetzen. Vor allem Warschau und Buda­pest versuchen, durch regionale Kooperation poli­tische Alternativen im (nicht zum) Westen zu schaffen. Anderswo findet diese Politik indes wenig Anklang.

Die Zusammenschlüsse in Ostmittel-, Südost- und Nordosteuropa zielen denn auch nicht darauf ab, die EU oder andere Organisationen entlang einer Ost-West-Trennlinie zu spalten. Einige der Formate, nämlich C5, S3 und 3SI, beziehen auch Länder der »alten EU« ein. Zudem sind Län­der aus dem öst­lichen Mitteleuropa be­strebt, in Verbünden aus anderen Teilen der EU mit­zuwirken: die baltischen Staaten mit nord­europäischen Ländern, Polen im Wei­marer Dreieck oder Slowenien und Kroatien seit Herbst 2021 in der EuroMed-Gruppe, also den Ländern des EU-Südens. Die breit an­gelegten Zusammenschlüsse 3SI und B9 betonen hingegen ihre kohäsionsstiftende Funktion in EU und Nato.

Nicht alle diese Formate entwickeln politische Schlagkraft. Manche Initiative kommt zum Erliegen. Das gilt etwa für die Craiova-Gruppe, die aus Bul­garien, Rumä­nien, Serbien und Griechenland bestand und ein Visegrád Südosteuropas werden sollte. Andere bleiben hinter den Erwartungen zurück: Das 17+1/16+1-Format von Ländern aus dem Osten der EU und dem Westbalkan bröckelt und entfaltet weniger Dynamik als geplant.

Daher sollte Deutschland Optionen für die Einbindung solcher Gruppen und Offerten einer Zusam­men­arbeit mit ihnen entwickeln. Die Kontaktaufnahme wird nicht überall möglich und nicht durch­weg erwünscht sein. Dennoch sollten »Andockmöglichkeiten« geprüft wer­den. Wichti­ge Kriterien dafür wären die politische Rele­vanz und der praktische Mehrwert ein­zel­ner Formate. Anzustreben wäre vor allem die Koopera­tion mit der V4, nämlich bei Themen wie Wirtschaft, Klima, Energie und Migration, mit der B9 als sicherheitspolitischer Klam­mer der Ostflanke und mit der 3SI aufgrund neuer, auch geopolitischer Aspekte von Infrastrukturen. Überdies soll­ten gruppenschaftliche Kontakte in die Region, wie im Weimarer Dreieck oder durch die 3+1-Treffen mit den drei bal­ti­schen Staaten – die gerade wegen der Russ­land-Ukraine-Krise Impulse brauchen – fort­geführt oder wiederbelebt werden. Auf jeden Fall ist Deutschland gehalten, die regio­nalen gruppenschaftlichen Konstellationen der Zusammenarbeit aufmerksam zu beobachten. Aus der einen oder anderen Initiative können sich näm­lich Formate entwickeln, welche europapolitische oder geostrategische Bedeutung in einer Region gewinnen können, die für die Bundesrepu­blik wirt­schaftlich wie außen- und sicher­heits­poli­tisch relevant ist.

Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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