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Das deutsch-ukrainische Verhältnis am Beginn der Post-Merkel-Ära

Enttäuschungen und Irritationen überlagern strategische Fragen

SWP-Aktuell 2021/A 69, 04.11.2021, 7 Seiten

doi:10.18449/2021A69

Forschungsgebiete

Unter der letzten Bundesregierung wurde Deutschland zum wichtigsten internatio­nalen Partner der Ukraine nach den USA. Ungeachtet dessen hat sich die ukrainische Führung stets mehr sicherheitspolitische Unterstützung Berlins erwartet und fürch­tet jetzt, dass sich die neue Bundesregierung wieder stärker auf Russland orientiert. Russ­landfreundlichen Kräften in der neuen deutschen Regierungskoalition könnte dabei in die Hände spielen, dass die von Deutschland und der EU geforderten inner­ukrainischen Reformprozesse unter Präsident Wolodymyr Selenskyj an Schwung verloren haben. Die neue Bundesregierung sollte die Krise um die Ukraine jedoch vor allem unter dem Aspekt deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen betrachten. In diesem Sinne wird empfohlen, den Ukraine-Konflikt in Berlin prioritär zu behandeln und sich sicherheitspolitisch stärker zu engagieren.

Der Regierungswechsel in Berlin und das Ausscheiden Angela Merkels aus dem Amt der Bundeskanzlerin sind eine markante Zäsur für die deutsch-ukrainischen Bezie­hungen. Keine Bundesregierung vor den zwei von Merkel geführten schwarz-roten Kabinetten (2013–2017/2017–2021) hatte sich so stark für die Belange Kyjiws ein­gesetzt und der Ukraine in Deutschland und der weiteren EU einen derart prominenten Rang in der politischen Agenda und in der öffentlichen Debatte verschafft.

Insbesondere nach der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Konflikts in der Ostukraine im Jahr 2014 war das Auftreten der Bundesregierung als führende Vermittlerin und als Verteidigerin des Prinzips der ukrainischen Souveränität wohl entscheidend dafür, dass der russische Vormarsch im Osten der Ukraine stoppte. Ob bei der schwierigen Bildung eines Konsenses über die Verhängung von Sanktionen (und deren Verlängerung) gegen Russland im Europäischen Rat, bei der Aushandlung des Waffenstillstands von Minsk, bei der Entsendung einer Son­derbeobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in die Ukraine oder bei den umfang­reichen internationalen Hilfen für Kyjiw – stets waren der deutsche Beitrag und ins­besondere die persönliche Initiative und Beharrlichkeit der Kanzlerin mitentscheidend. Deutschland wurde so zum wichtigen Rückhalt der fragilen ukrainischen Staat­lichkeit sowie zu einem der Hauptunterstützer der Ziele des Landes, die auf euro­atlantische Anbindung und konsolidierte, demokratisch verfasste Staatlichkeit gerich­tet sind.

Bemerkenswert ist dabei insbesondere: Die Bundesregierung nahm diese Rolle in den kritischen Jahren 2014 und 2015 gegen den Widerstand führender Vertreter des sozialdemokratischen Koalitionspartners, von Teilen der deutschen Wirtschaft und der Öffentlichkeit ein. Stellte sie damit doch in den Augen vieler Beobachter – trotz der offensichtlichen Aggression Mos­kaus – die traditionelle Osteuropa- und vor allem Russlandpolitik der Bundesrepublik in Frage. Denn bis dahin hatte sich diese Politik am Leitbild einer stabilen strate­gischen (»Modernisierungs«‑)Partnerschaft mit Moskau orientiert und die von Russland seit jeher als »nahes Ausland« betrachtete Ukraine wohlwollend, aber deutlich er­kennbar nachrangig behandelt.

Obwohl die deutsch-ukrainischen Beziehungen seit 2014 qualitativ aufgewertet wurden, mehren sich nun die Anzeichen, dass ihnen ein Stresstest bevorsteht. Beide Seiten sehen derzeit, vor allem aufgrund abweichender Erwartungen, Anlass für Ent­täuschungen, Kritik und Irritationen. Hinzu kommt die Ungewissheit über die Stabilität der deutschen Ukraine-Politik, die mit der Bundestagswahl und der baldigen Bildung einer neuen Bundesregierung einhergeht. Aus welchen Perspektiven schauen ukrai­nische Politiker und Experten auf Deutschland in dieser kritischen Phase, die einen Wendepunkt markieren könnte, und wie nehmen deutsche Politiker die Lage in der Ukraine wahr?

Die Sorge in Kyjiw: Kehrt die deutsche Ukraine-Politik zum Russland-Zentrismus zurück?

In der Ukraine hatte sich das lange außer­orden­lich positive Bild der bilateralen Beziehungen schon einige Zeit vor der Bun­destagswahl eingetrübt. So hatte sich seit dem Pariser Normandie-Gipfel vom Dezem­ber 2019 immer deutlicher abgezeichnet, dass der deutschen Außenpolitik – trotz inten­siver Bemühungen auf diplomatischer Ebene – die Hebel fehlten, um Russland im Donbas-Konflikt zur konsequenten Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu bewegen. Eine herbe Enttäuschung für Kyjiw war aber vor allem die deutsch-ame­rikanische Vereinbarung zur Nord-Stream-2-Pipeline vom Sommer 2021, die den poli­tischen Weg für eine Inbetriebnahme frei machte. Die ukrainische Führung hatte mit beträchtlicher internationaler und auch innerdeutscher Unterstützung bis zuletzt versucht, die Pipeline zu verhindern oder deren Betrieb an politische Bedingungen zu knüpfen.

Dennoch ist auch Nord Stream 2 nur Teil einer vielfältigen ukrainischen Frustration über die Bundesregierung. So hegte die patriotisch gesinnte ukrainische politische Elite stets ein unterschwelliges Misstrauen, dass sich die deutsche Politik in der Region seit der Krim-Annexion weniger nachhaltig verändert hatte, als es auf den ersten Blick schien. Deutschland, dies der Tenor, hätte sich auch für härtere Sanktionen gegen Russland, für eine Nato- und EU-Mitglied­schaft der Ukraine sowie für Waffenlieferungen einsetzen können. Dass dies nicht geschah, ist aus Sicht Kyjiws vor allem der Tatsache geschuldet, dass Berlin seine wichtigsten Interessen in den Beziehungen zu Moskau gegen den Schaden abzuschirmen versuchte, den der Ukraine-Konflikt für das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland mit sich brachte. In diesem Zusammenhang kri­tisiert die ukrainische Führung zudem, dass die Bundesregierung ihre Ukraine-Politik bewusst weiter in verschiedene Bereiche der Zusammenarbeit (und damit auch institutionelle Zuständigkeiten) aufsplittert, statt einen stärker holistischen und weniger ambivalenten Ansatz zu verfolgen.

Der unterkühlte Empfang, den Präsident Selenskyj im August Kanzlerin Merkel in Kyjiw bereitete, die Deutlichkeit, mit der er bei seinem Besuch in Washington nur wenig später auf die Rolle der USA als wich­tigster sicherheitspolitischer Partner Kyjiws hinwies, oder die aggressive Rhetorik Andrij Melnyks, des ukrainischen Botschafters in Berlin – er hatte anlässlich der Babyn-Jar-Gedenkveranstaltung geäußert, dass Deutschland seine historische Schuld gegen­über der Ukraine nicht anerkennen würde, und auf Sympathien für deutsche Repara­tionsleistungen in der ukrainischen Bevöl­kerung hingewiesen – all dies ist allerdings nur zum Teil als Kritik an der aktuel­len deutschen Politik zu verstehen. Die angeführten Amtsträger bringen damit vor allem ihre Sorge um die seit Anfang 2015 mühsam erreichte internationale Macht­balance im Ukraine-Konflikt zum Ausdruck, in der Deutschland mit seiner Position eine tragende Säule ist. Und diese Sorge teilt die Mehrzahl ukrainischer Außenpolitiker und Experten. Die ukrainische Führung fürchtet die geopolitischen Folgen einer Politik, die unter einem neuen Bundeskanzler Moskau wieder stärker zugewandt sein könnte. Wenn die neue Regierung in Berlin die Sou­verä­nität der Ukraine nicht wie bisher bedingungslos unterstützt, so die Angst in Kyjiw, könnte dies weiteren Expansions­bestrebungen Russlands Auftrieb geben.

Die ukrainische Sicht auf Deutschland resultiert derzeit aus der Wahrnehmung des sich verstärkenden und in vielen Are­nen spürbaren Drucks, den Russland auf das Land ausübt. Die Militarisierung der Krim, die Sperrung der Seewege im Schwar­zen und im Asowschen Meer, die fortschreitende sicherheitspolitische Integration von Belarus und Russland und nicht zuletzt die russische Gaspolitik sieht die Ukraine als zusätzliche direkte Bedrohungen. Ber­lin, so das Gros ukrainischer Politiker und Exper­ten, unterschätze die Dimension des russi­schen Vorgehens und verkenne die strate­gischen Ziele des Kremls, die über die Kon­trolle der Ukraine weit hinaus­reichten.

Die Sorge in Berlin: Wohin steuert die Selenskyj-Präsidentschaft?

Auf deutscher Seite irritieren wiederum einige Entwicklungen in der Ukraine. Da ist zunächst einmal die veränderte und vor allem den europäischen Partnern gegenüber sehr kritische außenpolitische Rhe­torik, die Präsident Selenskyj ungefähr seit Ende August an den Tag legt, nach den Feierlichkeiten anlässlich des 30. Jahres­tages der Unabhängigkeit der Ukraine. Bei seinem Auftritt vor den Vereinten Nationen im September bezeichnete Selenskyj die UN als einen »in die Jahre gekommenen Superhelden« (retired superhero) und rief kürzlich dazu auf, angesichts ausbleibender euroatlantischer Mitgliedschaftsperspek­tiven eine »frechere« Außenpolitik zu betreiben. Solche Äußerungen lassen aus Sicht des Westens wenig Realismus und Dankbarkeit erkennen. Gerade die von Kyjiw mantraartig erhobenen Forderungen nach einem baldigen EU- und Nato-Beitritt werden auch in Berlin eher als Ablenkung von wichtigen aktuellen Sachthemen – etwa der Sicherstellung der ukrainischen Rolle beim Gastransit oder der Bekämpfung der Korruption – bzw. als falsches Erwar­tungsmanagement angesehen. Eine Mit­gliedschaft der Ukraine in diesen Organi­sationen ist mittelfristig unrealistisch. Insofern besteht die Gefahr, dass die wohl­wollenden Zurückweisungen, die derlei Ansinnen üblicherweise zur Folge haben, in der ukrainischen Bevölkerung nachhaltige Enttäuschung verursachen. Dadurch könnte die Reformpolitik an Rückhalt verlieren, was ihre Umsetzung durch die politischen Eliten noch unwahrscheinlicher macht.

Gerade diese vom Westen allseits geforderten Reformen genießen in Kyjiw derzeit jedoch keine Priorität. Anders als unter seinem Vorgänger Petro Poroschenko, der zumindest in den ersten Jahren seiner Prä­sidentschaft auch Reformer in den Regie­rungsapparat ein­gebunden hatte, dominieren sowohl in der Administration Selens­kyjs als auch in der »Diener des Volkes«-Mehrheitsfraktion die Beharrungskräfte, die den Status quo verteidigen. Anders gesagt: Dass sich ukrainische Verantwortungsträger vor internationalen Partnern auf die eigene Schulter klopfen, steht in scharfem Kon­trast zum verlangsamten Reformprozess, der in einigen Sektoren sogar zum Still­stand gekommen ist (siehe SWP-Aktuell 63/2021). Zu den negativen Entwicklungen zählen insbesondere die verschleppte Justizreform, die nur kosmetische Reform des mächtigen und intransparenten Sicher­heitsdienstes (SBU) sowie der Generalstaatsanwaltschaft, aber auch die Ineffektivität des schon länger diskreditierten Anti­korruptionssystems. Hinzu kommt, dass sich in der Amtsführung des Präsidenten besorgniserregende Trends verstetigen:

  • Das Umgehen bedeutender verfassungs­mäßiger Institutionen wie des Parlaments und der Gerichte durch Aufwertung des Sicherheitsrates, der nur dem Präsidenten untersteht. Diesen Rat nutzt Selenskyj seit Anfang des Jahres immer öfter, um wichtige Entscheidungen vorzubereiten und in der Regel ohne weitere Prüfung zu treffen.

  • Die Missachtung gesetzlicher Prozeduren etwa bei der im Februar ohne Gerichtsbeschluss vollzogenen Sperrung von Fernsehsendern (Kanal 112, NewsOne, ZIK), die dem pro-russischen Oligarchen und Rada-Abgeordneten Viktor Medwetschuk nahestehen.

  • Populistische Politikentwürfe wie das neue »Anti-Oligarchengesetz«, an dem bedeutende ukrainische Oligarchen mit­gewirkt haben. Nach Ansicht von Experten würde das Gesetz ausschließlich dem Präsidenten erlauben, festzustellen, wer als »Oligarch« gilt und wer nicht.

Für die Feststellung, ob sich hier ein »autoritärer Populismus« etabliert hat, den ukrainische Kritiker Selenskyj bereits bescheinigen, ist es noch zu früh. Allerdings spricht wenig dafür, dass die Ukraine nach zwei Jahren der Präsidentschaft Wolo­dymyr Selenskyjs signifikante Fortschritte auf dem Weg zu einer irreversiblen Über­windung eines politischen Systems gemacht hat, das trotz freier Wahlen und lebendiger Zivilgesellschaft weiterhin von (spät-)sowje­tischen Hinterlassenschaften geprägt ist, etwa von fehlender Rechtsstaatlichkeit, Oligarchen als Reservemacht und schwachen Institutionen.

Wie problematisch sind das Ausbleiben von Reformen und autoritäre Trends in Kyjiw für die deutsche Ukraine-Politik? Konsens unter europäischen Politikern ist, dass nur erfolgreiche, Staatlichkeit und De­mokratie festigende Reformen der Ukraine helfen können, nachhaltige »Resilienz« gegen aggressive russische Übergriffe auf­zubauen. Dabei wird aber oft unterschätzt, wie langwierig und lokal verwurzelt diese Reformprozesse sind und wie kostspielig für die Eliten. Kaum wahrscheinlich ist zu­dem, dass eine zwar politisch-institutionell und ökonomisch, aber eben nicht militärisch gestärkte Ukraine in der Lage sein könnte, den Kreml zum Einlenken zu bewegen.

US-Präsident Joe Biden hat erkannt, dass Kyjiw sich schwertut, beispielsweise die tief­sitzende Korruption entschieden und nach­drücklich zu bekämpfen. Anders als die deutsche bzw. die EU-Politik gibt man sich in Washington allerdings weder in Bezug auf die prekäre Sicherheitslage Kyjiws noch auf ukrainische Reformerfolge Illusionen hin. Die USA unterstützen Kyjiw signifikant im sicherheitspolitischen Bereich, um den Druck auf Russland hochzuhalten und mit­telbar die strategisch wichtige Existenz der Ukraine zu sichern. Mehr noch: Der sicher­heitspolitische Hebel der Amerikaner zwingt die ukrainische Führung immer wieder dazu, wenigstens phasenweise die Reform­prozesse voranzutreiben oder neue Reform­initiativen vorzuschlagen.

Gründe für eine robustere Ukraine-Politik der neuen Bundesregierung

Die Bildung und Etablierung einer neuen Bundesregierung kann schnell zum Stress­test für das deutsch-ukrainische Verhältnis werden. Es handelt sich dabei um einen punktuellen Vorgang (critical juncture) in den gegenseitigen Beziehungen, der deren Gesamtcharakter zu verändern vermag. In jedem Fall ist die Formierung einer neuen Bundesregierung ein Anlass für einen schärferen Blick beider Seiten auf den bis­herigen Ertrag und die strukturellen Pro­bleme ihrer Partnerschaft, aus dem eine Neubewertung erwachsen kann. Die mit ihrer bilateralen Beziehung verbundenen sicherheits- und regionalpolitischen Risiken sind zumindest beträchtlich:

  • Strategisch im Nachteil: Durch den Ukraine-Konflikt ist Deutschland im postsowje­tischen Raum zu einem bedeutenden ord­nungspolitischen Faktor geworden. Der geltende, aber brüchige Waffenstillstand in der Ostukraine und die Stabilität der Kontaktlinie bzw. der unbesetzten Ukraine werden aber – angesichts der offen revisionistischen Politik Russlands – nur durch eine fragile Machtbalance aufrechterhalten. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der mittels Sanktionen und diplomatischer Mittel erzeugte Gegendruck Deutschlands und seiner EU-Part­ner, zum Beispiel im Normandie-Format.

    Der Regierungswechsel in Berlin und die aktuellen Friktionen im deutsch-ukrainischen Verhältnis bieten vor allem Moskau einen potenziellen strategischen Vorteil. Sollte die neue Bundesregierung wie ihre Vorgängerin sicherheitspolitisch passiv bleiben, deutlich weniger politi­sches Kapital in die Regelung des Ukraine-Konflikts investieren oder dauerhaft keine klare Linie in diesem Konflikt fin­den, wird Russland vermutlich seinen Zangengriff noch verstärken, der auf die Destabilisierung und umfängliche Kontrolle der Ukraine abzielt.

  • Status- und Einflussverlust in Kyjiw: Obwohl die Bundesregierung seit 2014 für die Ukraine zu einem wichtigen Partner geworden ist, sind die Grenzen des bis­herigen deutschen Engagements für Kyjiw immer offensichtlicher geworden. Formale Sicherheitsgarantien, nennenswerte Waffenlieferungen im Interesse eines wirksameren containment der russi­schen Aggression oder eine EU-Mission zur Konflikteinhegung sind in Berlin bis heute rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Stattdessen protestieren deutsche Diplomaten heftig, wenn die Ukraine wie zuletzt erstmals auch Drohnen einsetzt, um schwere Waffen der Separatisten außer Funktion zu setzen. Für die ukrainische Regierung steht die Bedrohung der Existenz ihres Landes durch Russland und die Separatisten in der Ostukraine aber klar im Vordergrund. Deutschland und die EU laufen in dieser Hinsicht Gefahr, von der ukrai­nischen Führung zusehends als Papier­tiger wahrgenommen zu werden, der sicherheitspolitisch in einer anderen Realität lebt.

    Der Ukraine bleiben neben den USA und der EU nicht viele Optionen. Würde Kyjiw Brüssel und Berlin umgehen, in­dem es beispielsweise eine noch ausbaufähige Zusammenarbeit mit der Türkei anknüpfte, wäre dies ein Armutszeugnis für die ambitionierte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Zudem: Je weniger ernst man in sicherheitspolitischen Belangen in Kyjiw genommen wird, desto weniger Einfluss wird man auch auf die Reformpolitik der Ukraine nehmen können.

  • Regionalpolitische Kollateralschäden: In der Ukraine, dem Schlüsselland unter den Staaten der Östlichen Partnerschaft (ÖP), ist die EU mit ihrem regionalpolitischen Ansatz seit 2013 in eine kritische Lage geraten. Einerseits ist die EU vor allem in den Augen der Bevölkerung der Partnerländer immer noch attraktiver als sämtliche Alternativen – andererseits hat sie sich wachsender lokaler Kritik zu stellen.

    Inzwischen fehlen der EU wirksame An­reize für nachhaltigen Wandel und eine stra­tegische Vision. Vor allem aber hat sich die ÖP als zu technokratisch und un­flexibel erwiesen, so dass sie den betrof­fenen Ländern bei der Lösung drängen­der praktischer Probleme nicht wirklich zu helfen vermag. Dabei geht es nicht nur um die aggressive Außenpolitik Russlands, sondern auch um wichtige In­frastrukturprojekte, bei denen zusehends andere Partner als die EU – beispiels­weise die Volksrepublik China – als weniger bürokratisch und politisch for­dernd gelten.

    Der Blick auch des reform- und EU-orien­tierten Teils der Georgier, Moldawier oder Belarussen richtet sich dennoch vor allem auf die Ukraine, deren Erfolg oder Misserfolg beim containment Russlands und beim state-building darüber entscheiden wird, in welche Richtung die Region sich zwischen der EU und Russland ent­wickelt. Für Berlin steht mit Blick auf Kyjiw zweierlei auf dem Spiel: die bisherigen Investitionen in die Bildung von Vertrauen und den Ausbau von Einfluss der EU in ihrer östlichen Nachbarschaft, aber auch die sicherheitspolitische Sta­bilität Mittelosteuropas – des traditionellen Milieus deutscher Außenpolitik.

Empfehlungen an die neue Bundesregierung: Vorrang für Sicherheitsfragen

Für die neue Bundesregierung werden die deutsch-ukrainischen Beziehungen und insbesondere der Ukraine-Konflikt ein Schwer­punktthema und eine langwierige Herausforderung bleiben. Anders als vor 2014 ist die Ukraine ein wesentlicher Akteur für die deutsche Außenpolitik in Ost- und Mittelosteuropa geworden. Die drohenden Risiken sind oben beschrieben worden. Doch bietet ein Regierungswechsel auch Chancen. Das Mandat des neuen Bundeskanzlers und die Beteiligung der Ukraine-freundlichen und für ein außen­politisches Umdenken offenen Grünen-Führung sollten zum Anlass genommen werden, die bilateralen Beziehungen ent­lang folgender Empfehlungen neu zu betrachten und neue Akzente zu setzen:

  • Strategische Debatte statt »weiter so«: Die neue Bundesregierung sollte sich vor Augen halten, dass der Ansatz der Vorgängerregierung in den letzten zwei Jahren kaum echte Fortschritte vor allem bei der Lösung des Konflikts im Donbas erbracht hat. Ein »Weiter So« ist daher keine Option. Orientierungspunkte einer insofern nötigen strategischen Debatte wären das eigene Interesse an souveränen und politisch wie wirtschaftlich stabilen EU-Nachbar­ländern sowie das aggressiv revisionis­tische Vorgehen Russlands in der öst­lichen Nachbarschaft.

    In der EU fällt Deutschland zudem klar die Hauptverantwortung für die Ukraine zu. Die neue Bundesregierung sollte, gerade angesichts der »Integrations­politik« des Kremls in den besetzten Gebieten, überprüfen, ob ihr derzeitiger Ansatz und der Zustand der Konflikt­lösungsformate dem Konfliktverlauf noch angemessen sind und welche Im­pulse es braucht, um mehr Gegendruck auf Russland zu erzeugen. Treffen der Staats- und Regierungschefs im Normandie-Format bzw. deren persönliches Engagement sind ohne Alternative, wenn man einer schleichenden Aushöhlung der Formate entgegenwirken und trag­fähige Fortschritte – beispielsweise bei der Durchsetzung eines allseits respek­tierten Waffenstillstands – erzielen will. Mehr Druck auf alle Beteiligten könnte eventuell ein zu ernennender Special Representative der EU (EUSR) für den Konflikt erzeugen, der auch für mehr Permanenz sorgen würde.

  • Vorrang für Sicherheitsfragen: In der Ost­ukraine herrscht ein Krieg, der Woche für Woche Todesopfer fordert. Auch in weiteren Regionen wie dem Schwarzen und dem Asowschen Meer untergräbt Russland gezielt die Sicherheit und öko­nomische Konnektivität der Ukraine. Unter diesen Umständen kann das Land nicht wie ein beliebiges anderes in der Nachbarschaft behandelt werden. Die Bundesregierung sollte im Verbund mit den EU-Partnern die Ukraine auch direkt sicherheitspolitisch unterstützen statt allein darauf zu setzen, dass die technische und finanzielle Unterstützung der Reformprozesse zügig zu einem höheren Grad an Resilienz des Landes gegenüber der russischen Aggression führt.

    Bei dem derzeitigen Ansatz der Bundes­regierung und der EU wird die Aggressivität des russischen Vorgehens in der Ukraine unterschätzt, das strategisch wesentlich auf der ablehnenden Haltung der Europäer gegenüber militärischen Mitteln aufbaut bzw. von dieser profitiert. Die Chance, die Ukraine auf dem langen Weg zu einem demokratischen Gemeinwesen weiterhin erfolgreich begleiten zu können, hängt momentan primär davon ab, ob die Ukraine ein souveräner Staat bleibt – daher sollte die Sicherheit des Landes im Vordergrund stehen. Eine solche Form der Unterstützung muss der Rolle Deutschlands als Mediator im Ukraine-Konflikt nicht widersprechen, sondern könnte – angesichts der derzeitigen Dynamik dieses asymmetrischen Konflikts – vielmehr dafür sorgen, dass die russische Seite die Minsker Vereinbarungen wieder ernster nimmt und deren anhaltende Untergrabung stoppt.

    Mehr noch: Wenn die Bundesregierung und EU-Partner in Zukunft einen starken Hebel zur Unterstützung und Forcierung von Reformprozessen in der Ukraine in der Hand halten wollen, müssen sie sich für Kyjiw auch als sicherheitspolitische Partner erweisen. Eine effektive militä­rische Ausbildungsmission, die mehr ist als Symbolpolitik und überdies auf eine hohe Kooperations- und Aufnahme­bereitschaft im ukrainischen Verteidigungsministerium trifft, die Lieferung von zumindest nicht offensiv nutzbaren Rüstungsgütern an Kyjiw oder eine See­beobachtungsmission – all dies sollten Optionen auch für Deutschland und die EU sein.

  • Klare Kommunikation gegenüber Kyjiw: Die neue Bundesregierung sollte sich von der gegenwärtigen kritischen Rhetorik Kyjiws nicht irritieren lassen und für mehr Realitätssinn in den Beziehungen werben. Der ukrainischen Führung muss klargemacht werden, dass ihre Forderungen nach einem schnellen EU- oder Nato-Beitritt kontraproduktiv sind. Die persönliche Energie und das politische Kapital, die dabei aufgewendet werden, sind wieder stärker auf einzelne Schritte und bilaterale Projekte zu lenken, die schon mittelfristig die sicherheits­politische Resilienz der Ukraine stärken können.

    Dazu gehört beispielsweise die Frage der Energieversorgung. Die Bundesregierung sollte sich noch nachdrücklicher für eine beschleunigte Modernisierung der ukrainischen Infrastruktur und für eine Ver­minderung der Abhängigkeiten von rus­sischen Transiten und Importen einsetzen. Neben den versprochenen deutschen Zuwendungen zum »Grünen Fonds« könnten Investitionen in die ukrainische Erschließungsinfrastruktur dabei helfen, die landeseigene Erdgasproduktion zügig zu steigern.

    Drängen sollte die Bundesregierung auch auf Verbesserungen bei der politischen und wirtschaftlichen Integration der Menschen im nichtbesetzten Donbas und dabei auch unterstützend wirken. Das gilt ebenso für Initiativen der ukrai­nischen Regierung und Zivilgesellschaft, die darauf abzielen, die Perspektive einer Re-Integration der besetzten Gebiete offenzuhalten. Die neue Bundesregierung sollte vor allem gegenüber Russland auf eine größere Durchlässigkeit der Kon­taktlinie für die Bevölkerungen drängen und die Planung der Realisierung bereits existierender kreativer Ideen, etwa zur wirtschaftlichen Zukunft der heute noch besetzten Städte im Donbas, aktiv beglei­ten und unterstützen.

Dr. André Härtel ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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