Obwohl die Beziehungen Deutschlands und Europas zu Lateinamerika weithin als sehr eng gelten, hat sich in den letzten Jahren eine wachsende Distanz zwischen den Staaten eingestellt, die sich traditionell als »natürliche Partner« verstehen. Das Beziehungsmuster der »freundlichen Normalität« trägt nicht mehr für ein Miteinander in der heutigen Zeit. Dies liegt zum einen an den Prozessen politischer Neuordnung in vielen Ländern Lateinamerikas und der daraus folgenden regionalen Fragmentierung, zum anderen an dem nachlassenden Interesse in Deutschland und Europa an der Region. Auch sind neue Akteure wie China in Lateinamerika aktiv geworden, die möglicherweise für die Länder der Region attraktiver erscheinen und die das deutsche und europäische Interessenprofil überstrahlt haben. In dieser Phase interner Suchprozesse und eventueller Verschiebungen im Partnerspektrum muss die deutsche Lateinamerika-Politik Brücken bauen und tragfähige Ansatzpunkte identifizieren. Ein solcher neuer Handlungsrahmen muss darauf abzielen, ihr wieder eine Perspektive zu geben.
Lateinamerika bietet dem externen Beobachter gegenwärtig kein Bild vielversprechender Zukunftschancen. Von Norden nach Süden sind politische Dynamiken zu verzeichnen, die europäische Erwartungen an eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Subkontinent erschüttern: Mexiko hat sich aus der internationalen Politik weitgehend zurückgezogen und verfolgt ein Wachstumsmodell aus den 1970er Jahren. In Zentralamerika werden Demokratie und Rechtsstaat von den Regierungen systematisch ausgehebelt und eine Rückkehr zum Muster der Fassadendemokratien deutet sich an. In Kuba scheint die über 60 Jahre andauernde Herrschaft der Kommunistischen Partei durch die Straßenproteste ins Wanken zu geraten, die Führung des Landes vermag nur mit Notmaßnahmen und repressiven Antworten auf die Fragen junger Menschen nach einer neuen Lebensperspektive zu reagieren. Anhaltende Proteste haben in Kolumbien den Friedensprozess erschüttert, in Chile ist das Vertrauen in das etablierte Parteiensystem massiv gesunken. In Peru haben die Wahlen im Juni und Juli 2021 mehr Unsicherheit über eine zukunftsfähige politische Entwicklung gebracht, als dass sie Hoffnung auf einen Neustart des innerlich zerrütteten Regierungssystems gegeben hätten. Die Verfallsrate der politischen Führer in Peru ist extrem angestiegen, das »populistische Modell« können viele Politiker kaum mehr über ihre Amtszeit retten. In Brasilien wird die Demokratie durch die Regierung auf die Probe gestellt, nicht zuletzt wegen der Unfähigkeit des Staates und der Unwilligkeit des Präsidenten, eine effektive Impfkampagne gegen Covid‑19 durchzuführen. Politische Spannungen dominieren in Ecuador und Bolivien, auch wenn sich hier eine baldige wirtschaftliche Erholung abzeichnet. In Argentinien ist die Wirtschaft erneut im freien Fall und Venezuela befindet sich in einer chronischen Krise.
Diese Belastungen für die politische Entwicklung in der Region sind Folge struktureller Schwachstellen wie wachsender Ungleichheit und einer prekären Sicherheitslage in Gesellschaften, die durch die Pandemie zusätzlich mit Defiziten in der staatlichen Gesundheitsfürsorge zu kämpfen haben. Aufgrund dieser Erfahrungen ist die »Entsolidarisierung« gestiegen, es hat sich eine »rohe, unsolidarische« Form des Zusammenlebens und der Bürgerlichkeit (Wilhelm Heitmeyer) ausgebreitet. Die Konfliktdynamik hat an Schärfe gewonnen.
Das Bild eines Krisenkontinents ohne große Perspektiven
Die heutige Situation auf dem Kontinent ist weit entfernt von derjenigen der goldenen Jahre des Rohstoffbooms im vergangenen Jahrzehnt, als die Armut reduziert wurde und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zweistellig wuchs. Die Covid-19-Pandemie traf auf eine Region mit wenig politischem Handlungsspielraum, einem schwachen Gesundheitssystem, leeren Kassen und steigender Armut. Trotz aller nationalen Unterschiede lassen sich Gemeinsamkeiten ausmachen, nimmt man die Entwicklung der Region als Ganzes in den Blick.
Die Zeit, in der die Länder Südamerikas Rohstoffe und natürliche Ressourcen zu attraktiven Preisen verkauften, dauerte ein Jahrzehnt. Zwischen 2003 und 2013 gelang der Aufstieg einer Mittelschicht, die Zugang zu größeren Beschäftigungschancen und Einkommen erhielt; die Regierungen unterstützten diese Entwicklung mit mehr Mitteln für die Sozialpolitik. Im Jahr 2018 wurde die Mittelschicht zur größten Gruppe in der Region. Doch dann setzte in vielen Ländern eine wirtschaftliche Stagnation ein und die neuen Mittelschichten sahen sich mit einem Statusverlust sowie sozialem Abstieg konfrontiert. Politisch reagieren sie mit hoher Volatilität – Ende 2019 etwa wurden viele Länder der Region von starken sozialen Unruhen erfasst. Nach dem pandemiebedingten Lockdown hat im Frühsommer 2021 vielerorts wieder eine Protestwelle begonnen, die erkennen lässt, dass ungelöste Zukunftsfragen die Bevölkerung weiterhin umtreiben.
Der Verfall gewachsener Staatserzählungen
Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen wird in vielen Ländern der Region nicht nur dadurch erschüttert, dass in der Bevölkerung Unmut über eine Selbstbedienungsmentalität und eine grassierende Korruption in der politischen Elite herrscht. Auch das Leistungsversagen staatlicher Einrichtungen wird gerade in der Pandemie besonders scharf empfunden. Mit einem Slogan wie »Kampf gegen die Korruption mit harter Hand« lassen sich – wie der Fall Mexiko zeigt – Wahlen gewinnen; überdies dient er der mexikanischen Regierung als Rechtfertigung dafür, über Jahre gegen autonome Einrichtungen, die das Staatshandeln kontrollieren sollen, vorzugehen, die Autonomie der Universitäten einzuschränken, unliebsame Widersacher auszuschalten und sich gegenüber dem Transparenzinteresse der Bürgerschaft willkürlich zu verhalten. Meist verbirgt sich hinter solchem Vorgehen aber nur ein neuer Personalismus, der ebenso wie das Institutionenhandeln die Erwartungen der Bürger nicht zu erfüllen vermag.
Dem Staat und damit auch den Staatserzählungen in ihren verschiedenen Varianten gelingt es immer weniger, Orientierung und Identität zu begründen. Ob es das (neo‑)liberale Bild des Vertrauens auf die Marktkräfte ist oder der erneute Ruf nach einer stärker ordnenden Hand des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, beide Muster haben sich – in Argentinien und Chile auf der einen Seite bzw. Kuba und Venezuela auf der anderen Seite – als nicht mehr tragfähig herausgestellt. Das schnelle Wechseln von einem zum anderen Wirtschaftsmodell und Staatsverständnis in Argentinien, Brasilien, Ecuador und Mexiko hat den jeweiligen Ländern keine besseren Zukunftschancen gesichert. Werden Entscheidungen der Vorgängerregierung umgekehrt, erweist sich das für gewöhnlich als wenig tauglich für die Dauer einer Präsidentschaft oder Legislaturperiode; die Legitimitätsressourcen sind schnell erschöpft und es wird versucht, diese mit plebiszitären Elementen wie Referenden und Befragungen aufrechtzuerhalten oder über die Zeit zu retten.
Immer schlechter gelingt es, mit den etablierten Instrumenten staatlichen Handelns den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren. Die Erwartungen an das staatliche Leistungsversprechen im Bereich Wohlfahrt und Sicherheit können nicht erfüllt werden. Dass sich mittlerweile die »Regel ständiger Regelverletzungen« durchgesetzt hat, unterminiert das Vertrauen in die Politik und den Staat. Die politischen Akteure versuchen Erfolge zu erzielen, indem sie polarisieren, was jedoch in den meisten Fällen eher im Zusammenbruch der bestehenden Parteiensysteme endet – die Beispiele reichen von Chile über Ecuador und Peru bis nach Mexiko und die zentralamerikanischen Staaten.
Die Volatilität neuer, auch von evangelikalen Kräften getragener politischer Angebote hat dabei ebenso zugenommen wie der Verlust an Wählerbindung bei den traditionellen Kräften. Der Niedergang christ- und sozialdemokratischer Parteien in der Region ist dafür ein deutlicher Beleg. Ihre Staatserzählung, die noch in der Welle der (Re‑)Demokratisierung in den 1990er Jahren zu tragen schien, ist zerfallen und erkennbar nicht wiederzubeleben. Ob man dafür das »populistische Gift« oder das staatspolitische Versagen der jeweiligen politischen Eliten verantwortlich machen will, ist zwar für das Ergebnis irrelevant, aber für die Frage entscheidend, wie man heute und in Zukunft mit den Folgen des Verfalls dieser Staatserzählungen umgeht.
Die Rückkehr zur Nation und einem nationalen Projekt
Orte, wo Solidarität organisiert und auch gelebt werden kann, sind rar geworden. Vielfach müssen kleine soziale Netze, karitative Organisationen und selbstorganisierte Suppenküchen einspringen, da staatliche Unterstützung nicht rechtzeitig oder gar nicht eintrifft. Wenn sich Phänomene wie Bürgerwehren verbreiten, um elementare Sicherheit zu gewährleisten, ja wenn der frisch gewählte Präsident Perus Pedro Castillo das Modell der »rondas campesinas« (ländliche Verteidigungskomitees) zum Bestandteil staatlicher Sicherheitspolitik erklärt und gleichzeitig allen Delinquenten nahelegt, das Land innerhalb von drei Tagen zu verlassen, wird ersichtlich, wie weit sich der Staat bereits von seinen Bürgern entfernt hat. Castillos Aufruf zu einer »Verfassungsgebenden Versammlung«, die neue Grundlagen des sozialen Zusammenlebens erarbeiten soll, kopiert nicht nur das Beispiel des Nachbarlandes Chile und vorausgehende fragwürdige Erfahrungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela, er ist zugleich ein Ruf nach einer Neubestimmung der Nation.
Hierbei spielen Fragen der Anerkennung nationaler Pluralität, von indigenen und regionalen Identitäten eine wichtige Rolle, es geht aber auch um die Verteilung der politischen Gewichte im Staat, die oftmals merklich in Richtung der Exekutive verschoben wurden – zu Lasten eines Systems von »checks and balances«, das gerade für die präsidentiellen Regierungssysteme der Region angezeigt erscheint.
Das Wiedererstarken des Nationalen in der Politik, die Rückbesinnung auf die Nation und die Neuformulierung einer nationalen Erzählung ist ein gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozess, der viele Kräfte bindet und bestehende Muster des Konfliktaustrags herausfordert. Dies wird besonders deutlich am Beispiel Chile, das über Jahrzehnte als wirtschaftlicher und politischer Musterknabe der Region galt und sich selbst als Vorbild inszenierte. Mit den Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung im Mai 2021 ist eine heterogene Mehrheit politischer Kräfte bestimmt worden, die nichts mit den etablierten Parteien zu tun hat, stark lokal und aktivistisch gebunden ist und einen anderen Politikstil durchsetzen will. Ob das gelingt und welche Ernüchterungen diesen Prozess begleiten werden, werden die Nachbarländer genau verfolgen; das Ergebnis hat Signalwirkung über Chile hinaus.
In Kolumbien ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten: Selbst Monate nach Beginn der Unruhen im Juni 2021, die auf dem schlimmsten Höhepunkt der Pandemie ausbrachen, wird das Land weiterhin von Empörung und Protesten erschüttert. Obwohl das nationale Streikkomitee, in dem Gewerkschafts- und Arbeitszentren zusammengeschlossen sind, entschieden hat, die Massenmobilisierung vorübergehend auszusetzen, sind immer noch Hunderte junger Menschen auf der Straße. Indigene Gruppen beteiligen sich mit Straßenblockaden. Übergriffe, Akte des Vandalismus durch Demonstranten, aber auch fragwürdiges Verhalten der Sicherheitsorgane schaukeln sich gegenseitig hoch. Die tiefe emotionale Spaltung des Landes und die politische Polarisierung weisen Kolumbien als extrem zersplittertes Land aus, ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, die zusätzliche Spannungen mit sich bringen werden. Auch wenn die Massenaufmärsche nachlassen mögen, ist nicht erkennbar, wie diese innere Entfremdung großer Teile der Bevölkerung gegenüber den traditionellen Eliten politisch überwunden werden kann. Diese müssen daher ihre bisherige »Erzählverweigerung« für ein neues nationales Projekt aufgeben und Formen und Formate finden, um den Dialog mit der Gesellschaft zu gestalten.
Die Wirtschaft ist, wieder einmal, Argentiniens größtes Hindernis. Zwar erlebt das Land weder solche sozialen Spannungen wie etwa die Nachbarn Brasilien und Kolumbien noch eine politische Unsicherheit, die derjenigen in Peru oder Chile vergleichbar wäre. Aber steigende Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut setzen das empfindliche Gleichgewicht, das die Straßen bisher friedlich gehalten hat, unter maximalen Stress. Argentiniens Wirtschaft sank im Jahr 2020 um 9,9 Prozent, der drittgrößte Rückgang in Südamerika nach Venezuela und Peru. Das Land kann seine Auslandsschulden in Höhe von 341 Milliarden Dollar, die fast 90 Prozent seines BIP entsprechen, nicht mehr abzahlen. Es schuldet den multilateralen Gläubigern die 44 Milliarden Dollar, die der frühere Präsident Mauricio Macri 2018 als Finanzspritze erhalten hat. Um den Haushalt zu finanzieren und angesichts eines begrenzten Zugangs zu internationalen Märkten ist die Regierung Fernández gezwungen, die Geldmenge massiv auszuweiten, was zu Druck auf die Inflation führt. Ein nationaler Konsens, um diese wiederkehrende Krise zu überwinden, ist in Anbetracht der politischen Polarisierung nicht in Sicht.
Außenpolitische Folgen der Binnenorientierung
In der Region sind vielfältige Suchprozesse zu erkennen, um die Nation, das Entwicklungsmodell und eine neue integrative Form des Zusammenlebens zu »erfinden«. Diese »Denkbewegungen« vollziehen sich jedoch bislang überwiegend jenseits der traditionellen politischen Kräfte und etablierten Eliten, so dass entsprechende Spannungen nicht ausbleiben bzw. harte Aushandlungsprozesse unausweichlich werden. Dies fordert herkömmliche Mechanismen zur Abfederung sozialer Konflikte in besonderem Maße heraus, seien es Sozialsysteme, Parteien oder andere intermediäre Agenturen. Zudem werden diese Klärungsprozesse Zeit brauchen und – in einigen Ländern – in eine neue Konfiguration der politischen Eliten münden.
In dieser politischen Konjunktur nimmt sich die lateinamerikanische Realität als stark auf sich selbst bezogen und nach innen gerichtet aus. Dies deckt sich mit der externen Wahrnehmung, dass der Subkontinent sich weitgehend aus der globalen Politik und damit ebenfalls aus der globalen Verantwortung zurückgezogen hat. Geradezu paradigmatisch gilt dies für Brasilien, das zu Zeiten des außenpolitischen Aktivismus unter Präsident »Lula« da Silva quasi eine internationale Sprecherrolle für Südamerika innehatte bzw. sie ihm zugeschrieben wurde, während sich das Brasilien von Präsident Jair Bolsonaro fast vollständig aus der internationalen Politik verabschiedet hat. Ähnliches lässt sich für Mexiko unter Präsident Andrés Manuel López Obrador sagen, dessen Regierung zu internationalen Verbindlichkeiten weiter auf Distanz gegangen ist. Auch gemeinsames Handeln etwa im Rahmen der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) findet wegen der Konflikte um Venezuela und des Rückzugs Brasiliens nur auf sehr geringem Niveau statt.
Mexiko und Brasilien haben sich weitgehend von der globalen Politik (G20 etc.) abgekehrt, nationale Prioritäten stehen im Vordergrund. Damit ist für deutsche und europäische Politik die Anschlussfähigkeit verlorengegangen, beide Staaten – aber ebenso Lateinamerika insgesamt – sind für gemeinsame multilaterale Initiativen in den letzten Jahren als Partner ausgefallen, jenseits symbolischer Bekundungen sind keine Initiativen zu erkennen. Manche Beobachter sprechen bereits von einer tiefen »Beziehungskrise« zwischen Lateinamerika und Europa. Das gleiche Bild ergibt sich in wirtschaftlicher Hinsicht: Die Region – sieht man von Mexiko ab – ist großenteils nicht an globalen Wertschöpfungsketten beteiligt und weist einen geringen Grad der Integration in die globale Wirtschaft auf, so dass auch auf diesem Feld wenig Anknüpfungspunkte gegeben sind.
Fehlgeleitete Erwartungen, frustrierte Partner
Das überkommene Verhältnis zwischen Deutschland und Lateinamerika ist diesen aktuellen Herausforderungen offenbar nicht mehr gewachsen, auf beiden Seiten reagiert man mit Rückzug. Ein Beispiel dafür ist die Zukunft des EU-Mercosur-Abkommens, dessen Verabschiedung in immer weitere Ferne rückt. Es erscheint erforderlich, das traditionelle Repertoire der Zusammenarbeit zu überdenken.
In Lateinamerika wird beklagt, dass die deutsche Wirtschaft weniger Interesse an den Ländern der Region hat als noch vor zehn Jahren. Das gemeinsame Fundament ist schmaler geworden. Weder das letzte Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 noch die Lateinamerika-Initiative des Auswärtigen Amts vom Mai 2019 konnten ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Beide gingen von der Erwartung aus, gemeinsame Werte und eine gewisse Interessenkonvergenz würden in eine von allen Beteiligten getragene Option für den Multilateralismus »natürlicher Verbündeter« münden.
Der Versuch, Gewachsenes zu festigen und zu einer intensiveren Kooperation zu verdichten, ist allein schon an der eingeschränkten Bereitschaft vieler Regierungen gescheitert, sich regional oder global in multilateralen Strategien zu engagieren. Die Mehrzahl der lateinamerikanischen subregionalen Integrationsbündnisse stagniert oder ist handlungsunfähig, weil nationale Prioritäten keinen Platz lassen oder bilaterale Konflikte ein Zusammenwirken verhindern. Diese fragmentierte Lage ist aber ebenso Ausdruck dafür, dass die Regierungen der Region sich nur begrenzt an einer multilateralen Politik orientieren, wenn es um globale öffentliche Güter geht.
Dies wird besonders sichtbar in der Energie- und Klimapolitik: Mexiko, traditionell ein Partner Deutschlands in der Klimapolitik, hat mit dem Amtsantritt von Präsident López Obrador eine Kehrtwende in der Energiepolitik vollzogen und investiert massiv in die Förderung fossiler Energieträger. Öl ist zum Zentrum der Entwicklungsstrategie geworden, alternative Energien werden demgegenüber zurückgedrängt und damit natürlich auch die Klimaziele verfehlt. Die vollmundige Ankündigung von Deutschlands Lieblingspartner Costa Rica, bis zum Jahr 2050 gänzlich auf die Nutzung fossiler Brennstoffe zu verzichten und als erstes Land weltweit bis 2021 CO2-neutral zu werden, wird sich nicht umsetzen lassen angesichts der fiskalischen Engpässe des Landes und der dadurch fehlenden Investitionen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat zwar jüngst erklärt, nun doch im Pariser Klimaschutz-Abkommen verbleiben zu wollen, aber die zunehmenden Abholzungen und Waldbrände am Amazonas sprechen eine andere Sprache – und zeugen eher von einem Konzept der »Freigabe« des Amazonas-Beckens für die wirtschaftliche Nutzung.
Hinzu kommt, dass die von Deutschland betriebenen Sonderformate des politischen Dialogs mit den beiden regionalen Schwergewichten, Brasilien und Mexiko, abgebrochen bzw. eingefroren sind. Die deutsch-brasilianischen Kabinettskonsultationen fanden zuletzt 2015 zwischen Präsidentin Dilma Rousseff und Bundeskanzlerin Merkel statt, die Gemeinsame Kommission mit Mexiko ist seit vier Jahren nicht mehr zusammengetreten.
Heute muss es um mehr als ein diffuses Interesse gehen, der Region wieder einen erkennbaren und für alle Beteiligten nachvollziehbaren Stellenwert in der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik zu geben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die Einstellung lateinamerikanischer Länder Deutschland gegenüber geändert hat – diesen Verlust an Vertrauen gilt es aufzufangen, und zwar durch neue, möglicherweise weniger vertraute Initiativen sowie breites Engagement.
China oder wir?
Chinas neue Präsenz in Lateinamerika ist in vielfältiger Weise beschrieben worden. Dabei wird jedoch oftmals übersehen, dass sich auch hier die Präferenzen verschoben haben: Während sich die chinesischen Direktinvestitionen zwischen 2005 und 2009 zu 94,73 Prozent auf den Rohstoffsektor konzentrierten, insbesondere auf Länder wie Argentinien und Brasilien, haben sie sich seither zunehmend auf die jeweiligen lateinamerikanischen Binnenmärkte verlagert. Im Zeitraum 2015–2020 entfielen 62,58 Prozent der chinesischen Direktinvestitionen auf dienstleistungsorientierte Tätigkeiten und Binnenmärkte, womit das Argument der Rohstoffnachfrage deutlich in den Hintergrund rückt.
Gleichwohl fühlen sich deutsche Akteure durch die chinesischen Aktivitäten unter Druck gesetzt und erwarten von ihren lateinamerikanischen Partnern ein klares Bekenntnis zur Loyalität mit Europa oder zumindest mit europäischen Wertemustern. Dabei übersehen sie indes das pragmatische Verhalten vieler Staaten der Region im Umgang mit China, einem Land, das ihnen einfacher, weniger bekenntnisbeladen und konditioniert – und damit also weniger kompliziert als Europa – erscheint. Auch wenn diese Einschätzung trügen mag, kann es nicht überraschen, dass die Hinneigung zum neuen Präferenzpartner sich für viele Länder wirtschaftlich geboten und politisch rentabel ausnimmt. Die jüngsten Erfahrungen mit der chinesischen Impfdiplomatie scheinen dies abermals zu bestätigen.
Deutsche und europäische Forderungen, Lateinamerika solle sich explizit für eine Zusammenarbeit mit Europa aussprechen, verstärken nur lateinamerikanische Empfindlichkeiten, Europa wolle dem Partner kein eigenes politisches Gestaltungsprofil zugestehen, und reproduzieren Muster externer Bevormundung. Die Positionen lateinamerikanischer Staaten folgen ja gerade dem Interesse, nicht in die Systemrivalität zwischen China und den USA hineingezogen zu werden, sondern diese durch pragmatisches Handeln zu umschiffen.
Handlungsansätze
Heute eine umfassende Kooperation zwischen Deutschland und Lateinamerika zu fordern ist fehl am Platz. Deutschland hat bereits im europäischen Kontext viele Festlegungen zur Zusammenarbeit getroffen, zudem sind die lateinamerikanischen Länder gegenwärtig zu stark mit internen Prozessen befasst. Es muss also darum gehen, spezifische Ansatzpunkte zu finden, die dieser Gemengelage gerecht werden. Es gilt also, eine Auswahl zu treffen, die von bisherigen Kategorisierungen und Zuordnungen Abstand nimmt und einen realistischen Handlungshorizont dessen beschreibt, was eine deutsche Lateinamerika-Politik will und was sie zu leisten im Stande bzw. bereit ist.
Themenbezogene Partnerschaften und Brückenprojekte fördern
Die Pandemie hat Lateinamerika noch immer fest im Griff, die Impfquote steigt nur langsam an. Die Bewältigung der Pandemiefolgen ist nicht nur im globalen, sondern auch regionalen Maßstab unter die Devise gestellt worden, diese Krisensituation als Chance für eine wirtschaftliche und soziale Neuaufstellung zu nutzen. Das bedeutet, all jene Überlegungen aufzunehmen, die sich mit der Frage zukunftsfähiger Technologien und nachhaltigem Wirtschaften beschäftigen. Zu diesem Aufruf zu gemeinsamem Handeln konträr verläuft die deutsche Entwicklungspolitik, genauer gesagt die Prioritätensetzung in der Entwicklungszusammenarbeit und der Graduierung der Länder Lateinamerikas. Das Reformkonzept »BMZ 2030« ist mit einem Verlust an Mitteln der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) verbunden oder wird es in der Zukunft sein. Diese Strategie unterläuft die notwendige Zusammenarbeit mit vielen Staaten der Region und reduziert die Reichweite deutscher Politik bzw. ihrer Chancen. Zudem wird damit die Weiterführung der internationalen Kooperation in Frage gestellt, die die Agenda 2030 umsetzen soll.
Gerade unter dem Gesichtspunkt einer Politik demokratischer Resilienz ist es dringend erforderlich, ein Konzept für die Zusammenarbeit »beyond ODA« zu entwickeln, die sich nicht darin erschöpft, einige wenige Länder als »Globale Partner« einzustufen oder Kooperationsmodelle regional anzulegen. Um von der »alten« Kooperationsordnung zu einer neuen zu gelangen, sollten flexible Brückenprojekte gefördert werden, die die starre Zuordnung zu Kooperationslinien überwinden und verschiedene Projektlinien verknüpfen. Solche flexiblen Brückenprojekte wären geeignet, um die aktuell in Lateinamerika ablaufenden Suchprozesse zu stützen. Damit könnten sie die gegenwärtigen Dynamiken bei der Rekonfiguration politischer Diskurse und Akteure eher voranbringen, als wenn auf einmal festgelegten Formaten insistiert wird, die jedoch auf geringe politische Resonanz stoßen. Schlüsselfragen der derzeitigen Debatten in der Region zum »Building Back Better« könnten auf diese Weise aufgegriffen und in projektübergreifende Kontexte gestellt werden.
Das soziale Fundament von Demokratie stärken
Vorrechte der Eliten und soziale Asymmetrie sind umfassend dokumentierte Kennzeichen der lateinamerikanischen Gesellschaften, die ihre soziale Unwucht weiter verstärken. Unter den Bedingungen der Pandemie haben Gewalt und Ausgrenzung zugenommen, da insbesondere Angehörigen des informellen Sektors die Einnahmequellen wegbrachen und die Sicherheitsorgane mit anderen Aufgaben betraut wurden. Organisierte Kriminalität (inklusive der Gewaltanwendung durch kriminelle Organisationen aus der Drogenökonomie und dem Entführungsgewerbe) und gestörte soziale Ordnungen unterminieren bestehende Solidaritätsnetze und die gesellschaftliche Kohäsion weiter. Diese zersetzenden Wirkungen verschärfen die ohnedies vorhandene Symptomatik prekärer Sicherheitsverhältnisse.
Gemeinsame Handlungsansätze müssen sich daher auf den vorpolitischen Raum beziehen, um zwischenmenschliches Vertrauen (wieder) aufzubauen und die Chancen von kollektivem Handeln in Lateinamerika zu erweitern. Deshalb sind Maßnahmen notwendig, die darauf abzielen, Ungleichheit und Unsicherheit voneinander zu entkoppeln, insbesondere indem kleine soziale Netze wiederhergestellt werden sowie die damit verbundenen Vertrauensbeziehungen, die eine Gesellschaft zusammenhalten und zentrifugale Tendenzen reduzieren. Hier kann mit vielen zivilgesellschaftlichen Ansätzen wie Stadtteilinitiativen, Frauengruppen und Kunstvermittlern gearbeitet werden, um öffentliche Räume wiederzubeleben, die zur Überwindung von Bindungslosigkeit beitragen und damit gleichfalls das soziale Fundament von Demokratie zu festigen vermögen. Gerade die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wie auch die Kulturarbeit können auf diesem Gebiet viele Erfahrungen einbringen.
Lateinamerika – ein Partner in der globalen Wasserstoffproduktion
Laut der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) sind in Lateinamerika einige der dynamischsten Märkte für erneuerbare Energien zu finden; immerhin stammt dort mehr als ein Viertel der Primärenergie aus Erneuerbaren – das ist doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt und macht Lateinamerikas Elektrizitätsmatrix zur saubersten weltweit. Die lateinamerikanischen Energiesektoren sind größtenteils noch durch eine hohe Abhängigkeit von Wasserkraft gekennzeichnet. Länder wie Brasilien (trotz der aktuellen Dürre), Kolumbien, Costa Rica, Ecuador, Paraguay und Uruguay gewinnen vor allem dank der Wasserkraft über 50 Prozent der installierten Energiekapazität aus erneuerbaren Ressourcen. Die Kombination mit weiteren erneuerbaren Energiequellen ist ein maßgeblicher Schritt zum Erfolg für alle Länder der Region. Die Verfügbarkeit von grünen Energieträgern wie Sonnen-, Wasser- und Windkraft, Geothermie und Biomasse ist eine ideale Basis für die Umsteuerung weg von fossilen Energieträgern, etwa auch mithilfe von Bio-Kraftstoffen.
Hinzu kommt nun die Energietransition in der Region, bei der die kohlenstoffarme Produktion von Wasserstoff eine zentrale Rolle auch für den Export spielen könnte. Dies bedeutet, dass die bisher hauptsächlich aus fossilen Quellen (meist Erdgas) gespeiste Produktion von »blauem« Wasserstoff umgestellt werden müsste auf »grünen« Wasserstoff, was angesichts der umfassenden Verfügbarkeit erneuerbarer Energiequellen eine vielversprechende Option darstellt. Lateinamerika könnte damit ein relevanter Player auf dem globalen Wasserstoffmarkt werden, wenn es den Ländern gelingen würde, in einer gemeinsamen Anstrengung regionale Lieferketten auszubauen, wie dies auch die Internationale Energieagentur (IEA) einfordert. Panama rechnet sich neue Möglichkeiten aus, in seiner Kanalzone einen »Hub für grünen Wasserstoff« einzurichten. Kolumbien steht nach der Ankündigung internationaler Konzerne, die Kohleförderung in der nächsten Dekade einstellen zu wollen, ebenfalls in diesem Bereich vor einem massiven Strukturwandel.
Für Deutschland ergibt sich hier ein erfolgversprechender Ansatz für ein neues Miteinander bei einer Zukunftstechnologie. Bestehende industrielle Kooperationen könnten ausgedehnt werden auf ein für Mobilität und kohlenstoffarme Produktion zukunftsträchtiges Gebiet. Brasilien, Chile, Costa Rica, Kolumbien und Uruguay haben hier wichtige Schritte unternommen und sind gleichzeitig langjährige Partner; eine vertiefte Zusammenarbeit mit ihnen bietet große Chancen. Dieses neue Kooperationsfeld könnte Zugänge eröffnen, die in den traditionellen Bereichen der Kooperation und des politischen Dialogs oft verstellt sind. Diesen und andere Wege zu erkunden könnte ein sinnvoller Impuls sein, damit Deutschland und ein sich schnell veränderndes Lateinamerika wieder miteinander ins Gespräch kommen.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
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doi: 10.18449/2021A58