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Nach dem Brexit: Eine neue Debatte über Erweiterung und Vertiefung der EU

SWP-Aktuell 2021/A 07, 22.01.2021, 4 Seiten

doi:10.18449/2021A07

Forschungsgebiete

Der Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) und die Aussicht, dass ein unabhängiges Schottland in die EU strebt, werfen für die EU grundsätzliche Fragen zu ihrer künftigen Größe und Geographie sowie ihrer inneren Verfasstheit auf. Traditio­nell hängt die deutsche Europapolitik der Auffassung an, dass Erweiterung und Vertiefung zwei Seiten einer Medaille sind. In der Brüsseler Wirklichkeit jedoch konnten die Inte­gra­tionsfortschritte mit dem Tempo der Erweiterung nach Osten nicht Schritt halten. Seit dem mit Ach und Krach zustande gekommenen Vertrag von Lissa­bon 2009 schwebt über jeder tiefgreifenden Reform und besonders einer Vertrags­revision das Damokles­schwert der Einstimmigkeit und damit des Scheiterns. Die Schottlandfrage kann die Erweiterungspolitik aus ihrem Halbschlaf wecken und die EU anspornen, sich durch innere Reformen nicht nur für ein neues 28. Mitglied, son­dern eine EU-34 zu rüsten.

Die EU definiert sich als offene Gemeinschaft europäischer Staaten und ist auf Er­weiterung qua Vertrag (Art. 49 EUV), Ent­wicklungsgeschichte (sieben Erweiterungsrunden) und politische Ambition (Globale Strategie) programmiert. Allerdings bröckelt der Erweiterungskonsens, vor allem bei den Regierungen mancher Mitgliedstaaten. In Finnland, Frankreich, den Niederlanden oder auch Deutschland spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung regelmäßig da­gegen aus, die Erweiterung fortzusetzen.

Der »erneuerte Konsens über die Erweiterung« von 2006 steht im Kontext der früh­zeitigen Aufnahme Bulgariens und Rumä­niens 2007. In diesem Dokument ak­zen­tu­iert die EU drei Prinzipien (»drei K«) ihrer Erweiterungspolitik. Erstens strebt die EU eine geographische Konsolidierung an, weil sie ihrerseits keine neuen politischen Ver­pflichtungen gegenüber europäischen Staa­ten eingehen will. Das war vor allem ein Signal an die Länder der Östlichen Partner­schaft. Zweitens betont sie die strikte Kondi­tionalität zur Erfüllung der Kopenhagener Beitrittskriterien, um keine Abstriche an der Beitrittsreife der Kandidaten mehr zu machen. Drittens will sie die Kommunikation verstärken, weil die Unterstützung durch die Bevölkerung verlorengeht. Die drei K haben seitdem nichts an Relevanz verloren. 2020 hat die EU auf fran­zösischen Druck hin noch ein­mal an der Methodo­logie der Beitrittsverhandlungen gefeilt. Gegensätzliche Positio­nen und Prio­ritäten unter den 27 Mitgliedstaaten bestehen je­doch fort. Die Kontraste gründen weniger in Aspekten der Erweiterungs­politik als der Frage nach Inte­gra­tions­kraft und strategischer Ausrich­tung der EU.

Aktuelle und potentielle Bewerber

Alle sechs Bewerberländer aus dem West­lichen Balkan sind von einem Beitritt weit entfernt. Im Lichte geöffneter Beitrittskapitel liegt Montenegro vorne, gefolgt von Ser­bien. Mit Nordmazedonien und Albanien sollen Verhandlungen bald beginnen. Bos­nien-Herzegowina und das von fünf Ländern der EU nicht anerkannte Kosovo verharren im Status potentieller Kandidaten. Anders als im Fall der Türkei wird für alle das Ziel der Mitgliedschaft nicht in Frage gestellt. Die sechs Länder stecken in einem Teufels­kreis von schlechter Regierungsführung und wirtschaftlich-sozialer Dauermisere. Wie bei anderen Heranführungsprozessen sind sie zwar faktisch durch Personenmobilität und Handel stark in die EU integriert. Als Dritt­staaten bleiben ihnen jedoch Sitz und Stimme in den EU-Institutionen ver­wehrt. Zwischenlösungen oder Alternativen zur Mitgliedschaft der Westbalkanländer hat die EU nie verfolgt und so ihre eigene Abhängigkeit vom Erweiterungspfad zemen­­tiert. Es ist nicht damit zu rechnen, dass vor 2030 ein oder mehrere Beitritte möglich sein werden. Vor allem sicher­heits- und geopolitische Gründe führt die EU für eine Aufnahme der Westbalkanstaaten an. Die Beitrittsperspektive ist ein Pazifizierungsinstrument, um die inner- und zwi­schen­staatlichen Konflikte abzubauen oder gar zu lösen. Die Doppelbindung des Bal­kans an EU und Nato soll den Einfluss des Westens gegenüber Russland, aber auch China und der Türkei sichern. Für die EU-Bevöl­kerung werden diese Argumente allenfalls greifbar, wenn sich viele Flüchtlinge über die Balkan­route Richtung EU auf den Weg machen.

Die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind zwar auf Eis ge­legt, aber nicht offiziell beendet. Angesichts der innenpolitischen Entwicklung der Tür­kei zum autori­tären Präsidialregime und der Militarisierung ihrer Außenpolitik wer­den für die EU Alternativen zum Erweiterungspfad immer wichtiger. Auch wenn Erdoğan mitunter auf den Beitrittsanspruch der Türkei pocht, enthält die positive Agen­da der EU vom Dezember 2020 Hinweise da­rauf, dass ein Alternativangebot als Rahmen für die Beziehungen ins Zentrum rückt: der Ausbau der Zoll­union (und die ja weiterhin bestehende Assoziierung). Auf dieser Basis könnte eine umfassende Part­nerschaft ent­wickelt wer­den. Damit wäre die Türkei der erste Fall, in dem Bei­tritts­verhandlungen nicht zu Ende geführt wür­den, weil die EU nicht mehr davon über­zeugt ist, dass der Kandidat in die EU passt. Island hatte seiner­seits 2013 die Verhandlungen und seinen Antrag auf Mit­glied­schaft ruhen lassen. Norwegen hat den Beitrittsvertrag von 1994 nicht ratifi­ziert. Beide könnten es sich aber wieder anders überlegen.

Schottland auf der Überholspur

Die erklärte Absicht der schottischen Regie­rung, einen Beitrittsantrag nach Brüssel zu schicken, sobald das Land ein unabhängiger Staat geworden ist, verlängert die Liste der Aspiranten. Für die EU, die kein Inter­esse an einer Fragmentierung des Vereinigten Königreichs hat, ist entscheidend, dass Schottlands Austritt aus dem Königreich verfassungsgemäß mit Zustimmung West­minsters verläuft. Dann könnte ein unab­hängiges Schottland das neue 28. Mitglied werden, wäre also auf der Über­holspur.

Schottland wäre gewiss ein Lichtblick für die Erweiterungspolitik, denn zum einen erfüllt es prima facie die Kopen­hagener Kri­terien, ähnlich wie Finn­land, Schweden und Öster­reich bei der so­genannten EFTA-Erwei­terung 1995. Zum anderen dürfte es in der EU eine Grundsympathie für die Auf­nahme Schottlands geben, schon weil dort eine Mehrheit gegen den Brexit gestimmt hat. Die schottische Regierungschefin Stur­geon pflegt das Narra­tiv des Wiederbeitritts (re­join­ing the EU) und der Heim­kehr (coming home). Sie kann aber nicht erwarten, dass sich die EU politisch-mora­lisch verpflichtet fühlt, Schottland als Sonderfall zu behandeln.

Schottland müsste das normale Beitrittsverfahren nach Artikel 49 EUV absolvieren. Künftige Verhandlungen stellten die EU vor mindestens zwei neue Herausforderungen. Eine davon wäre die Dreier­kon­stel­lation zwischen der EU, dem rest­lichen VK und Schottland. Noch wäh­rend dieses seine Un­abhängigkeit vorbereitet, baut die EU die neue Partnerschaft mit dem VK auf. Sie soll so umfangreich und substantiell wie mög­lich gestaltet werden. Das bi­laterale Frei­handelsabkommen von 2020 ist nur der Aus­gangspunkt. Die EU wird sicher­stellen wollen, dass in allen Pha­sen, die Schottland durchlaufen wird – vor und nach der Un­abhängigkeit und vor und nach dem Beitritt zur EU – keine negativen Aus­wirkungen für die Bezie­hungen zwischen Brüssel und London ent­stehen. Jedoch wird sich die EU nicht in die Trennungsgespräche zwischen London und Edin­burgh hineinziehen lassen wollen. Zu­gleich wird sie signali­sieren, dass die Bedingungen, unter denen sich Schott­land vom VK löst, mit den künf­tigen Mit­gliedschafts­verpflichtungen kom­patibel sein soll­ten. In der Dreierkonstellation ist Schott­land der schwächste Akteur, weil es von London und (später) von Brüssel etwas will. Die EU wird nur dann grünes Licht für die Aufnahme von Verhandlungen geben kön­nen, wenn es keine losen Enden oder gra­vierende Dis­pute zwischen London und Edinburgh mehr gibt. Die Verhandlungen werden umso kürzer sein, je früher sie be­ginnen, also je näher Schottland am Acquis der EU bleibt. Drei bis vier Jahre wären wohl bei glat­tem Ver­lauf zu veran­schlagen, wie es etwa bei Finnland der Fall war.

Zudem sähe sich die EU einer zweiten Herausforderung gegenüber: Auch wenn sie an ihrem Prinzip der vollen Acquis-Über­nahme durch Neue festhält und daher keine dauer­haften Ausnahmen (opt-outs) zu­lassen will, werden wohl Übergangsregelungen in Kernbereichen nötig: für Schengen, weil Schottland der Common Travel Area mit Irland und dem Rest des VK angehören will, für den Warenverkehr mit England und Wales sowie für die Teilnahme an allen Stufen der Währungsunion, wobei ein un­abhängiges Schottland (zunächst) keine eigene Währung hätte. Gibt die EU darauf nicht nur Standardantworten, wird sie die politikfeldspezifische Binnendifferenzierung weiter verstärken. Das cherry picking durch Beitrittsländer wird sie aber abwehren.

Die EU sollte damit rechnen, dass ein unabhängiges und international anerkanntes Schottland bis etwa 2025 einen Bei­tritts­antrag stellt. Schottland könnte das erlahm­te politische Interesse an der Erweiterung in der EU wieder beleben. Das mag indirekt auch den Ländern des Westbalkans nützen.

Integrationsdynamik und EU-34

Das vierte Kopenhagener Kriterium besagt, dass die EU durch die Erweiterung nicht an Integrationsdynamik verlieren darf. Der französische Präsident Macron hat 2020 beim Dissens über die Eröffnung von Bei­trittsverhandlungen mit Skopje und Tirana klargemacht, dass der nächsten Erweiterung Reformen vorangehen müssen. Gedacht als Weckruf an die EU, zeigte seine Intervention aber keine Wirkung. Gewiss verleitet der offene Zeitplan für die Erweiterung zum Aufschieben. Vor allem aber hat die EU keinen Kompass für Refor­men und scheut den Streit über gegensätzliche Positionen, etwa über ein Kern­europa.

Es liegt auf der Hand, dass jegliche Ent­scheidungsfindung im Kreis von 34 und mehr Ländern noch schwieriger wird. Die wirtschaftlichen und regionalen Dispari­täten und die Zahl der Nettoempfänger neh­men zu. Der Bedarf an Umverteilungs­mechanismen wächst, aber die Kapazitäten zur politischen Verständigung wachsen nicht mit. Mit jeder Erweiterung seit 1995 ist die Zahl jener Mitgliedstaaten gestiegen, die eher eine souveränitätsorientierte als eine integrationsfreudige Europastrategie in der EU verfolgen. Zu Hause haben sie es mit einem hohen Anteil an EU-skeptischen und nationalistischen Wahlbürgern und Parteien zu tun. Das begrenzt die Spielräume dieser Regierungen im Rat und Europäischen Rat. Zu­dem hängt die Kompromissfähigkeit stark von der nationalen politischen Kultur ab.

EU-34 hieße, dass die Union um relativ kleine Länder erweitert wird. Schott­land (5,4 Mio.) und die sechs Westbalkanländer haben zusammen 23,2 Mil­lio­nen Einwohner, mit einem Anteil von nur 4,9% an der Gesamtbevölkerung der EU-34. Die vier größten Länder Deutschland, Frank­reich, Italien und Spanien kämen auf 54,7%, mit Polen auf 62,8%. Ein Beitritt der Türkei mit einer Bevölkerungszahl von 82 Millionen bedeutete eine ganz andere Dimension und wird hier außer Betracht gelassen. Das Europäische Parlament (EP) hat vorsorglich 46 Sitze für neue Mit­glieder reserviert. Bei Fortschreibung jetziger Länderkontingente entfielen allein auf Schottland 14 Sitze. Ohne Reform ließe sich die Obergrenze von 751 Sitzen im EP in der EU-34 nicht halten. Trotz des formal geringen Gewichts können die Neuen durch aktive Politik und Koali­tionsbildung oder aber, wo es die Regeln er­lauben, durch ihr Veto realen Einfluss aus­üben. Die Geo­graphie wird sich im Innern und nach außen ver­ändern. Mit dem Bei­tritt der Westbalkanstaaten erhielte der Süd­osten der EU einen höheren Stellenwert, was durch Schottland im Norden nur gering ausbalanciert würde. Verstärkung bekäme die Gruppe der Nordics, denn Schottland, die skandinavischen Län­der und die Balten (vor allem, wenn Schott­land der Nato beitritt) sind natürliche Part­ner. Die Westbalkanländer, die schon heute von EU-Mitgliedern umringt sind, werden nach ihrem Beitritt die Nähe zu den Vise­grád-Ländern, Öster­reich, Kroatien und Slo­wenien suchen. Ob sich die südöstliche Flanke der EU so stabil und stark entwickelt wie die baltischen Staaten, wird über den Beitritt der West­balkanländer hinaus eine Sorge bleiben. Während es im Westen kaum noch Länder außerhalb der EU gibt, fordern auch Georgien, die Ukraine und Moldova eine EU-Perspektive. Die oft unterschätzten geopolitischen Implikationen der Erweiterung drängen in den Vordergrund.

Zukunft der EU

Die Aussichten auf eine Stärkung der supra­nationalen Bausteine der EU werden in einer erweiterten EU nicht besser. In der Außen- und Sicherheitspolitik ist eine Diffe­renzierung und Hierarchisierung unter den Mitgliedstaaten vorstellbar, etwa durch einen EU-Sicherheitsrat (siehe SWP-Studie 2/2019). In ihren Kernpolitiken könn­te die EU den Schritt zu Teil- und Ju­niormitglied­schaften wagen, vor allem mit Blick auf die nächsten (Süd-) Osterweiterun­gen. Kein neu­es EU-Mitglied (außer eventuell Norwegen) wird sofort dem Schengenraum ganz bei­­treten, keines so bald der Eurozone. Die Ver­tie­fung in kleinen Gruppen mit schwachen Bindungen an den Rest wird so faktisch auch ohne Vertragsreformen fortgeschrieben. Wenn Differenzierung die Zu­kunft ist, aber zu­gleich die ganze Union zusammengehalten werden soll, müsste das Zentrum gestärkt werden. Um nur einen Ansatzpunkt zu nennen: Die schon im Vertrag von Lissabon vorgesehene Verkleinerung der Kommission könnte deren Arbeit an den Zukunftspolitiken Green Deal und Digitalisierung sowie den Schutz der EU-Außengrenzen effektiver machen. Abträg­lich wäre dem Zusammenhalt der EU-34 jedoch eine weitere Politisierung der Kom­mission, ob per Direktwahl des Präsi­denten oder per Spitzen­kandi­datenmodell. Andere konstitutionelle Fragen betreffen ein ein­heitliches Wahlrecht zum EP, die Reform des Ratssystems, mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat und Europäischen Rat, die gemeinsame Verschuldung und wirtschafts­politische Koordinierung in der Wirtschafts- und Währungsunion. Fer­ner sollte sich die EU über ihr Wertefundament verständigen, sonst laufen Not­behelfe wie der neue Rechtsstaatsmechanis­mus ins Leere. Solche Themen gehören in der Perspektive einer EU-34 auf die Agenda der Konferenz zur Zu­kunft Euro­pas. Die neue Bundesregierung sollte die Debatte über die strategische Aus­richtung der EU wieder akti­ver mitgestalten.

Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP / Institutsleitung.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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