In den Staaten Südasiens trifft die grassierende Coronavirus-Pandemie auf über 1,9 Milliarden Menschen – das sind fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Angesichts der Schwäche der nationalen Gesundheitssysteme scheint der Kampf gegen das Virus verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Die wirtschaftlichen Schäden werden Armut und Ungleichheit vergrößern und vermutlich eine Reihe bestehender Konflikte eher zusätzlich verschärfen als abmildern. Innenpolitisch ist zu befürchten, dass autoritäre Tendenzen im Zuge der Krisenbewältigung noch zunehmen. Im regionalen Kontext könnte China seinen Einfluss weiter zulasten Indiens ausbauen.
Die Gesundheitssysteme der Staaten Südasiens sind dramatisch unterfinanziert und schlecht ausgestattet. Im regionalen Vergleich gibt Sri Lanka mit etwa vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) am meisten für Gesundheit aus. Indien investierte im Gegensatz dazu 2018/19 lediglich 1,28 Prozent seines BIP in das öffentliche Gesundheitssystem. Das Land verfügt über 7 Krankenhausbetten pro 1 000 Personen, Pakistan über 6 Betten, Bangladesch über 8. China dagegen hält 42 Betten pro 1 000 Personen vor, die USA 29 Betten. In allen Ländern mangelt es an Beatmungsgeräten und ausreichender Schutzausrüstung für die Pflegekräfte. Zudem sind moderne medizinische Einrichtungen vor allem in den städtischen Zentren zu finden, dagegen sind die ländlichen Regionen deutlich schlechter versorgt.
Diese strukturellen Defizite treten in der aktuellen Krise stärker denn je zutage. So waren die Mitte April offiziell gemeldeten niedrigen Infektionszahlen vor allem auf fehlende Testkapazitäten zurückzuführen. In Indien wurden zu diesem Zeitpunkt nur 291 Tests pro eine Million Einwohner durchgeführt, in Pakistan waren es 506, in Sri Lanka 302 und in Bangladesch 162.
Anfang April verzeichnete Indien nach eigenen Angaben eine Sterblichkeitsrate von drei Prozent, in Pakistan lag sie im selben Zeitraum bei einem Prozent, in Bangladesch hingegen bei zehn Prozent.
Die wirtschaftlichen Folgen
Die Covid-19-Pandemie beschleunigt den wirtschaftlichen Abschwung, in dem sich bereits vor der Krise nicht nur Indien und Pakistan als die beiden größten Volkswirtschaften der Region, sondern auch Bangladesch und Sri Lanka befunden haben. Indiens Wirtschaftswachstum war schon Ende 2019 auf unter fünf Prozent gesunken.
Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben ihre Wachstumsprognosen für die Länder der Region denn auch drastisch nach unten korrigiert. Der abrupte Stillstand von Schlüsselindustrien wie der Textil-Produktion in Bangladesch oder der Tourismusbranche auf Sri Lanka und den Malediven wird die Verschuldung in die Höhe treiben und die drohende Rezession forcieren. Die Weltbank prognostiziert, dass 2020 für Südasien das schlechteste Wirtschaftsjahr seit über vierzig Jahren werden könnte.
Die Pandemie trifft vor allem ärmere Bevölkerungsgruppen mit voller Wucht. In Indien war die Arbeitslosenrate bereits 2019 auf den höchsten Stand seit Jahrzehnten geklettert. Hinzu kommt, dass etwa 90 Prozent aller Beschäftigten des Landes im informellen Sektor arbeiten. Diese rund 450 Millionen Menschen besitzen keinerlei Form von sozialer Absicherung. Nach dem Inkrafttreten der Ausgangssperre am 25. März machten sich deshalb viele Beschäftigte auf den Weg zurück in ihre Dörfer. Dabei kam es auch vereinzelt zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Da auch die Bundesstaaten ihre Grenzen abriegelten, strandeten viele Wanderarbeiter, deren Versorgung zu einem weiteren Problem wurde.
Besonders dramatisch könnte sich die Krise in der Landwirtschaft auswirken. Sie ist in vielen Staaten noch immer der größte Beschäftigungssektor und oft von Saison- bzw. Wanderarbeitern abhängig. Sollten die umfangreichen Ausgangsbeschränkungen anhalten, verlieren die Wanderarbeiter nicht nur ihre Einkommen, sondern es könnte vielfach auch zu Ausfällen bei der Ernte und lokalen Hungersnöten kommen. Im Zuge des abrupten Stillstands der Wirtschaft und der damit verbundenen Probleme, wie wachsende Arbeitslosigkeit, Armut und Versorgungsengpässe, sind alle Regierungen mit einem Dilemma konfrontiert: Sie sind letztlich dafür verantwortlich, zu entscheiden, ob mehr Menschen durch das Virus oder durch die Maßnahmen zu dessen Eindämmung ums Leben kommen.
Alle Staaten haben auf die Notsituation mit nationalen Hilfspaketen reagiert. Die indische Regierung stellte zunächst 22 Milliarden US-Dollar zur Verfügung, um die wirtschaftlichen und humanitären Folgen kurzfristig zu lindern. Die Bundesstaaten initiierten eigene Hilfsprogramme.
Zu den wenigen Lichtblicken in Indien zählt, dass mittlerweile auch viele arme Familien ein Bankkonto haben, auf das die Regierung staatliche Sozialleistungen direkt überweisen kann. 2018 hat die Modi-Regierung zudem ein neues Krankenversicherungs-Programm für ärmere Bevölkerungsgruppen aufgelegt. Zwar haben rund zwei Drittel aller indischen Familien Anspruch auf Nahrungsmittelhilfen aus dem Public Distribution System (PDS), doch gibt es vermutlich mehrere Millionen Menschen, die nicht von dem Programm erfasst werden.
In Pakistan stellte die Regierung von Premierminister Imran Khan zunächst 8 Milliarden US-Dollar zur Bekämpfung der Pandemie bereit. Da das Land aktuell zweistellige Inflationswerte aufweist und der IWF ihm erst im November 2019 einen Rettungsschirm zur Stabilisierung der Wirtschaft bewilligt hat, wird es Pakistan am schwersten haben, weitere internationale Hilfen zu erlangen. Die Regierung rechnet damit, dass im Zuge der Krise bis zu 18,5 Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren werden, das sind mehr als 30 Prozent der Erwerbstätigen. Eine weitere Maßnahme war deshalb, Sozialprogramme wie das Benazir Income Support Programme (BISP) auszuweiten.
Erschwerend kommt hinzu, dass den Staaten wichtige externe Finanzierungsquellen wegbrechen. Indien ist das Land mit dem größten Volumen an Rücküberweisungen von Gastarbeitern aus dem Ausland. Allein in der Golfregion sind schätzungsweise sechs bis sieben Millionen indische Gastarbeiter beschäftigt. Auch für Bangladesch, Nepal und Sri Lanka sind die Geldtransfers in die Heimat wichtige wirtschaftliche Stützen.
Da ihre wirtschaftlichen Ausgangslagen variieren, werden die einzelnen Staaten bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise unterschiedliche Strategien verfolgen. Länder wie Bangladesch, die Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka werden vermutlich auf eine rasche Einbindung in die Weltwirtschaft drängen. Sie bangen nicht nur um ihre wichtigsten Industriezweige wie die Textilproduktion und den Tourismus, sondern möchten auch schnellstmöglich wieder ihre Arbeitskräfte ins Ausland entsenden können.
In Indien könnte die Krise die ohnehin herrschende Tendenz zum Protektionismus noch verstärken. Schon in den vergangenen Jahren erhöhte die Regierung in Neu-Delhi Zölle. Im vergangenen November trat sie auch nicht der RCEP-Initiative (Regional Comprehensive Economic Partnership) bei, die Erleichterungen unter anderem im Handel mit China mit sich gebracht hätte. So kündigte Premierminister Modi bereits an, die von ihm 2014 gestartete »Make in India«-Initiative zur Stärkung der nationalen Industrie auszubauen.
Die politischen Folgen
Krisen gelten als Zeit der Exekutive. Darum ist zu erwarten, dass sich die bestehenden autoritären und populistischen Tendenzen in Ländern wie Bangladesch, Indien, Pakistan und Sri Lanka weiter verstärken werden.
Die Maßnahmen gegen die Pandemie schränken auch in Südasien Grundrechte ein. Im Namen der Bekämpfung von Desinformation lassen sich etwa regierungskritische Stimmen, Fernsehkanäle und Internetseiten noch schärfer kontrollieren. Seit Jahren verschlechtern sich zum Beispiel die Werte für Presse- und Meinungsfreiheit in Indien. Die größte Demokratie lag im internationalen Presseindex 2020 nur auf Rang 142, Pakistan auf Platz 145, Bangladesch auf Rang 151 und Afghanistan auf Platz 122.
Der Oberste Gerichtshof in Indien hat zwar das Recht auf Privatsphäre und den Schutz persönlicher Daten anerkannt. Doch dürfte der Kampf gegen die Pandemie denjenigen weiteren Auftrieb geben, die befürworten, dass die Exekutive Daten umfassend kontrolliert und verknüpft. Die Frage, ob und in welchem Umfang die Regierung Kommunikationsdaten zur Eindämmung der Pandemie nutzen kann, könnte in Indien eher zugunsten der öffentlichen Sicherheit und zulasten des Datenschutzes entschieden werden.
Indiens Bemühungen, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen, sind auch eine Belastungsprobe für den Föderalismus. Die Bundesstaaten tragen die Hauptlast im Kampf gegen das Virus. Sie fordern deshalb mehr Ressourcen von Neu-Delhi. Ein Kritikpunkt ist zudem die teilweise fehlende Koordination der Zentralregierung mit den Bundesstaaten, zum Beispiel bei der Verhängung der nationalen Ausgangssperre. Deren Aufhebung bringt die nächste Belastungsprobe für den Föderalismus. Die Bundesstaaten sind unterschiedlich von der Pandemie betroffen, so dass ein hohes Maß an Abstimmung notwendig sein wird, um eine erneute Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern.
Besondere Probleme bereiten in vielen Staaten religiöse Veranstaltungen. So konnte in Indien, Pakistan und Bangladesch ein Teil von Infektionen auf Versammlungen der Tabilighi Jamaat zurückgeführt werden, einer muslimischen Missionsgesellschaft. Dies dürfte in Indien die Vorbehalte gegen die Muslime im Land verstärken. In der Folge wird die Polarisierung zwischen den Religionsgemeinschaften wohl weiter zunehmen. Pakistan war eines der wenigen muslimischen Länder, deren Regierung es bis Mitte April nicht gelang, die Moscheen zu schließen. Grund dafür war der Widerstand der islamischen Geistlichkeit. Und in Bangladesch versammelten sich den Vorgaben der Regierung zum Trotz am 18. April rund 100 000 Personen zur Beerdigung eines muslimischen Geistlichen.
Der regionale Kontext
Die Corona-Krise läutet auch eine neue Runde im Ringen um regionalen Einfluss in Südasien ein, das Indien und China miteinander austragen. Beide Länder unterstützen sich gegenseitig bei der Eindämmung von Covid‑19. Ende Februar 2020 schickte Indien medizinische Güter nach China. Nachdem sich die Krise auch in Indien ausgebreitet hatte, sandte China im Gegenzug umfangreiche Hilfspakete, vor allem Schutzkleidung für das Pflegepersonal. In Reaktion auf die Krise will Indien seine pharmazeutische Industrie ausbauen, die jedoch in hohem Maße von chinesischen Importen abhängig ist.
Indien ist der weltweit größte Produzent von Hydroxychloroquin, das anfangs in einigen Staaten als erfolgversprechendes Mittel gegen Covid-19 gesehen wurde. Die indische Regierung verhängte zunächst ein Exportverbot, lockerte dies jedoch wieder auf Druck der amerikanischen Regierung. Obwohl Indien bereits Sri Lanka und die Malediven mit medizinischen Hilfsgütern versorgt hat, verfügt China über deutlich mehr Ressourcen und lieferte entsprechend größere Unterstützung in die Region. Damit dürfte sich die Machtbalance in Südasien mehr in Richtung China verschieben.
Die Bedrohung durch Covid‑19 hatte überraschenderweise eine Wiederbelebung der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) zur Folge. An einer von Indiens Premierminister Modi anberaumten Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs am 15. März nahm auf Seiten Pakistans jedoch nur der Gesundheitsminister teil, nicht aber Premierminister Khan. Die indische Regierung richtete einen Notfonds mit 10 Millionen US-Dollar ein, dem sich andere SAARC-Staaten anschlossen. Pakistan wehrte sich gegen Indiens Anspruch auf eine regionale Führungsrolle und gab drei Millionen US-Dollar an das SAARC-Sekretariat. Der Kampf gegen das Virus führte somit nicht zu einer neuerlichen Annäherung der beiden verfeindeten Nachbarn.
Ausblick: Südasien nach der Corona-Krise
Die politischen, wirtschaftlichen und humanitären Probleme in Südasien werden die internationale Gemeinschaft auch nach der Corona-Krise noch beschäftigen. Die Region genießt aber, mit Ausnahme Indiens und mit Abstrichen Pakistans, nur geringe geopolitische Aufmerksamkeit in der deutschen und europäischen Politik. Dies wird nach der Corona-Krise noch deutlicher zutage treten. Denn vermutlich werden sich die deutschen und europäischen Hilfen auf außenpolitische Brennpunkte in der unmittelbaren Nachbarschaft konzentrieren.
Bereits bestehende Handelsinstrumente wie das Allgemeine Präferenzsystem sind zumindest eine Option, um Staaten aus Südasien wieder eine Rückkehr auf den Weltmarkt zu erleichtern.
Trotz der Kritik an ihrem Krisenmanagement, der sich alle Regierungen in der Region ausgesetzt sehen, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit gestärkt aus der Krise hervorgehen. Die Bekämpfung der Pandemie verhilft dem Staat zu größerem Einfluss auf die Wirtschaft. Dadurch vermag er erstens die größte Not der Bevölkerung zu lindern und eine drohende humanitäre Katastrophe abzuwenden, und zweitens kann er das Wirtschaftsleben wieder in Gang bringen.
Die wirtschaftliche Entwicklung wird in allen Staaten Südasiens einen merklichen Rückschlag erleiden. Politisch ist zu befürchten, dass die Pandemie die bereits wirksamen autoritären und zentralistischen Tendenzen weiter verstärken wird. Neu eingeführte Beschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit sowie eine mögliche stärkere Zentralisierung könnten das Ende der Pandemie überdauern. Im Ringen um Einfluss in Südasien wird Indien vermutlich weiter an Boden gegenüber China verlieren.
Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
Tobias Scholz ist Politikwissenschaftler und war Praktikant in der Forschungsgruppe Asien.
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doi: 10.18449/2020A29