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Der Ausbau von Frontex

Symbolische Maßnahmen und langfristige Veränderungen im EU‑Grenzschutz

SWP-Aktuell 2019/A 66, 22.11.2019, 8 Seiten

doi:10.18449/2019A66

Forschungsgebiete

Die Stärkung des Außengrenzschutzes bleibt in der Migrationspolitik der kleinste gemeinsame Nenner der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU). Der Ausbau der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ist Anfang November formell verabschiedet worden. Er wird jedoch nur wenig dazu beitragen können, die drängenden Herausforderungen in der europäischen Migrationspolitik zu meistern. Das Ziel, Frontex 10 000 Grenzschutzkräfte zu unterstellen, kann nur mittelfristig eingelöst werden. Während einige Außengrenzstaaten der EU zum Teil rechtswidrige Praktiken bei der nationalen Grenzsicherung anwenden, wird Frontex zunehmend recht­lich kontrolliert; operative Missionen sind nur mit einer Einladung der jeweiligen Einsatzstaaten möglich. Ohne rechtsstaatliche Prinzipien zu verletzen, wer­den sich durch Frontex allein die Rückführungen ausreisepflichtiger Personen nicht beschleunigen lassen. Dennoch bietet die kommende Frontex-Reform einen technischen Mehrwert für die Sicherung der EU-Außengrenzen. Unter geänderten politischen Um­ständen kann sie Vorreiter sein für eine echte operative Sicherheits­zusammenarbeit in der EU.

Die Migrationskrise in Europa kann jeder­zeit wieder aufflammen. Die im Sep­tember auf Malta begründete freiwillige Koalition von EU-Mitgliedstaaten zur Vertei­lung irregu­lä­rer Zuwanderer, die über das zentrale Mittel­meer kommen, ist zu klein und um­fasst nicht alle Staaten, die von der gegen­wärtig kriti­schen Lage in der Ägäis betroffen sind. Die EU bleibt politisch gespalten und ab­hängig von Drittstaaten wie der Türkei, die zunehmend gegensätzliche Interessen ver­folgt. Entgegen den programmatischen Ver­sprechen der neuen Europäischen Kom­mis­sion besteht derzeit keine Aussicht auf einen »Neustart« in der gemeinsamen Asylpolitik.

Allerdings konnte sich die EU darauf ver­ständigen, den Schutz der Außengrenzen und die europäische Grenzschutzagentur Frontex weiter zu stärken. Diese Reform, eingebracht im Sommer 2018 von der EU-Kommission, haben bereits gegen Ende der letzten Legislaturperiode alle EU-Institutio­nen miteinander ver­einbart; am 8. November 2019 hat der Rat sie end­gültig angenommen. Im Europawahlkampf 2019 wurde die damit verbundene Zielsetzung einer Einsatztruppe von 10 000 EU-Grenz­schützern offensiv kommuniziert, um den Bürgerinnen und Bürgern die potentielle sicherheitspolitische Rolle der Union zu verdeutlichen.

Grundsätzlich ist vorstellbar, dass EU-Grenzpolizisten und -polizistinnen in Krisen­ländern wie Grie­chenland die Zuwanderung möglichst lückenlos erfassen und Schleuser­netzwerke effektiv bekämpfen. Von großen Frontex-Einsätzen könnte zudem ein poli­tisches Signal ausgehen: Staaten an der EU-Außen­grenze werden im Umgang mit irregu­lärer Migration nicht mehr allein­gelassen, andere Mitgliedstaaten können der Sicher­heit der Schengenzone wieder vertrauen.

Bereits 2016 wurde ein Ausbau von Frontex für ähnliche Zwecke beschlossen. Viele der damals vorgesehenen Maß­nahmen sind noch nicht gänzlich umgesetzt, bei­spielsweise die Schaffung einer euro­päi­schen Einsatzreserve von 1500 Grenzschützern, die Entsendung von Frontex-Verbindungs­beamten in Mitglied­staaten oder der Aufbau eines EU-eigenen Fahr­zeugpools.

Offensichtlich klafft eine Lücke zwischen der anhaltenden, akuten Krise in der Migra­tions­politik und der schrittweisen Weiterentwicklung von Frontex. Zu beob­achten ist, dass Schleuser sich stetig pro­fessio­nali­sieren und Flüchtlinge alternative Routen nutzen. Die neue Frontex-Einsatz­truppe von 10 000 EU-Grenz­schutzkräften soll indes erst bis 2027 voll­ständig auf­ge­baut werden. Selbst mit dieser vollen Personal­stärke könnte Frontex nur ausgewählte Abschnitte der Außengrenzen operativ unterstützen. Hauptverantwortlich für die Migrationskontrolle und Grenzsicherung bleiben die einzelnen EU-Mitglied­staaten mit ihren jeweils unterschiedlichen Kapazi­täten und Strukturen.

Die Forderung, Frontex sollte völlig eigen­ständig Kontrollen an EU-Außen­grenzen durchführen können, ist 2016 wie 2019 aus Gründen der nationalen Souveränität ab­gelehnt worden. Ebenso wenig konnte in der jüng­sten Reform erreicht werden, dass Fron­tex gezielt für die operative Seenot­rettung auf dem Mittelmeer gestärkt wird. Aus Sicht vieler liberaler Kritiker ist Frontex deshalb mehr denn je ein Symbol für die illegitime und menschen­rechtswidrige Ab­schottung der EU, der man mit dem Aus­bau legaler Zugangswege und fairer Schutz­verfahren entgegentreten sollte.

Echte Fortschritte jenseits der öffentlichen Migrationsdebatte

Von außen betrachtet wird sich der Schutz der EU-Außengrenzen kaum sichtbar ver­ändern und die europäische Bevölkerung schwerlich erleben, wie, wo und warum Frontex operativ zum Einsatz kommt. Die Agentur wird primär spezifische Schwachstellen und technische Reformen in natio­nalen Grenzschutz­systemen angehen, also weiterhin eher im Hintergrund agieren.

Auf dieser fachlichen Ebene hingegen kann der beschlossene Frontex-Ausbau einen sicherheitspolitischen wie rechtsstaatlichen Mehrwert leisten. Dafür lohnt sich ein genau­erer Blick auf vier Stoßrichtungen der verabschiedeten Reform:

Erstens soll Frontex deutlich mehr Res­sourcen erhalten und diese eigenständiger verwalten. Die erwähnte Einsatztruppe von 10 000 Grenzschutzkräften soll zu etwa einem Drittel aus EU-eigenen Grenzschützern bestehen. Diese teilweise Entkoppelung von national abgeordneten Grenz­polizisten könnte die Planung und Durch­führung von Fron­tex-Einsätzen verlässlicher machen. Um den Personalaufwuchs zu unterfüttern, soll der Frontex-Haus­halt im kommenden mehr­jährigen EU-Finanz­rahmen (2021–2027) steigen auf etwa 9,4 Mil­liarden Euro insgesamt bzw. auf über 1,3 Milliarden Euro pro Jahr – mehr als eine Verdrei­fachung des aktuellen Budgets. Darüber hinaus kann Frontex damit die Anschaffung hochwertiger Einsatzmittel (z. B. Schiffe, Hubschrauber) und neuer Grenztechnik (z. B. Drohnen) finanzieren. Vor allem für die Staaten an der EU-Außen­grenze wird die euro­päische Kooperation dadurch (auch) materiell interessant.

Zweitens erweitert die beschlossene Reform der Frontex-Verordnung die Aufgaben­bereiche und Kompetenzen der Agen­tur. Die EU-Mitgliedstaaten werden stärker in die Pflicht genommen, in regel­mäßiger Abstimmung mit Frontex das Konzept des »integrierten Grenzmanagements« um­zu­setzen. Dabei geht es darum, die Kapazitäten aller Mitglied­staaten kon­ti­nu­ierlich zu entwickeln, um möglichst zielgerichtete und effektive Kontroll­maß­nahmen durch­zuführen, sowohl vor als auch hinter der räumlichen Grenze. Zusätz­lich über­nimmt Frontex die Funktion einer Zen­tral­stelle für die Grenz­raum- und Vorfeldüberwachung (im Rahmen des EUROSUR-Systems) und für den Betrieb neuer datengestützter Personen­kontrollen, wie bei der Auswertung von Fluggast­daten (PNR) und der kommenden elektronischen Ein­reise­erlaubnis für visa­befreite Reisende (ETIAS). Nicht zuletzt soll Frontex zukünftig eigenständig Rück­führungen organisieren und realisieren können.

Drittens schärft die Reform Frontex’ inter­nationales Profil. Aktuell kann Frontex Verwaltungsabkommen mit Dritt­staaten abschließen, Verbindungsbeamte abordnen und Missionen zur Grenzkontrolle in Staaten entsenden, die an die EU grenzen. Albanien ist ein Präzedenzfall: Dort nimmt eine kleine Frontex-Mission seit dem Frühjahr 2019 operative Aufgaben zur Grenz­siche­rung wahr. Mit der neuen Verordnung sollten vergleichbare Einsätze in weiter entfernten Staaten möglich sein.

Viertens wird Frontex rechtsstaatlich stärker verpflichtet und umfassender be­aufsichtigt. Das neue Datenschutzrecht der EU wird angewandt, da Frontex immer mehr perso­nenbezogene Daten verarbeitet. Der Beschwerdemechanismus für Personen, die sich durch Handlungen der Agentur ge­schädigt sehen, wird mehr Gewicht be­kom­men. Einzelfallentscheidungen des Frontex-Direktors hierzu unterliegen fortan einer Rechenschaftspflicht. Ferner wird eine kollektive rechtliche Haftbarkeit von Frontex eingeführt. Diese ist notwendig in An­betracht der Schaffung EU-eigener Grenz­schutzkräfte mit zum Teil hoheit­lichen Aufgaben. Das Frontex-interne Büro der Menschenrechtsbeauftragen soll besser aus­gestattet werden und in Zukunft Bewer­tungen zu Einsatzplänen und Kooperations­vorhaben mit Drittstaaten verfassen, außer­dem einen öffent­lichen Jahresbericht. Schließ­lich sollen unabhängige Beobachter und Beobachterinnen in alle Frontex-Grenz­schutzmissionen und ‑Rückführungs­operationen entsandt werden, um die Beachtung der Menschenrechte und des Flüchtlingsrechts sicherzustellen.

Insgesamt gesehen wird Frontex zum Garant und Motor dafür, dass technische Personenkontrollen, Daten- und Risiko­analysen im europäischen Grenzmanagement und die Vernetzung mit Drittstaaten zunehmen. Dies wird die Zahl irregulärer Zuwanderungen vermutlich nicht wesentlich reduzieren, aber bewirken, dass Entscheidungs­träger und -trägerinnen besser über derartige Entwicklungen informiert sind und folglich frühzeitig reagieren können. Schon jetzt ist Frontex in personeller wie finanzieller Hinsicht die größte Agentur für die innere Sicher­heit der EU. Sie wird noch größer werden und ihre politische Bedeutung steigen. Andere EU-Agenturen im Raum der Freiheit, der Sicher­heit und des Rechts müssen dagegen umso mehr darum kämpfen, genügend Ressourcen und Unter­stützung für ihre stetig wachsenden Auf­gaben zu erhalten, zum Beispiel die Agentur der Europäischen Union für die Zusammen­arbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung (Europol) oder das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO).

Positiv gewendet könnte es, ähnlich wie beim Europäischen Verteidigungsfonds, lang­fristig der europäischen Integration dienen, wenn die finanziellen Mittel schwerpunktmäßig Frontex zugutekommen und für Fron­tex europäische Grenztechnik beschafft oder entwickelt wird. Zusam­men mit dem Auf­bau eigenständiger EU-Grenz­schutz­kräfte könnte Frontex Vorreiter sein auf dem Weg zu einer europäischen Sicherheitsunion.

Diese langfristige Perspektive – und weniger der aktuelle Stand der euro­päi­schen Migrationsdebatte – erfordert es, sich mit weiteren Details der beschlos­senen Frontex-Reform auseinanderzusetzen und ihre Umsetzung nachhaltig zu begleiten.

Rückführungen und die Verantwortlichkeit von Frontex

Die Debatte verschiebt sich zu­nehmend vom Thema Grenzkontrolle durch Frontex hin zu der Frage, ob Frontex irreguläre Zuwan­de­rer rückführen können soll. Frontex wird ihr vergrößertes finanzielles Budget hierzu als Hebel einsetzen: Im Gegenzug für mehr Sachleistungen oder Trainings wird die Agentur die Kooperation mit Her­kunfts- und Transitstaaten in der euro­päi­schen Nachbarschaft vertiefen, was die Rück­nahme von Personen angeht. Dritt­staaten wie beispielsweise Tunesien sind oft primär an technischer Ausrüstungs­hilfe und an Er­tüchtigung für den Grenzschutz interessiert.

Im Laufe der politischen Verhandlungen verhinderte das Europäische Parlament (EP), dass Frontex Rückführungen aus außer­europäischen Transit- in Herkunftsstaaten unterstützen kann, also etwa aus Marokko nach Nigeria. In einer solchen Kon­stellation sei es kaum möglich zu gewährleisten, dass bei der Rückführung europäische Menschen­rechtsstandards eingehalten werden.

Einige Mitgliedstaaten wie Polen heben dennoch hervor, eine derartige Zusammen­arbeit mit Drittstaaten sei unbedingt erfor­der­lich. Zum Beispiel sollten irreguläre Zu­wanderer schon auf dem westlichen Balkan (also etwa in Bosnien und Herzegowina) mit Hilfe von Frontex-Kräften auf­gehalten und direkt rückgeführt werden. Aus dieser Per­spek­tive betrachtet, hat das EP die Effek­tivität der kom­menden Frontex-Reform entschei­dend geschwächt. Voraussichtlich wird es weitere informelle oder bilaterale Absprachen mit außer­europäischen Tran­sit­staaten geben, um mehr Menschen rück­führen zu können.

Organisationen, die sich für den Schutz von Flüchtlingen einsetzen, argumentieren da­gegen, die Stärkung der Aufsichts­mecha­nismen über Frontex reiche nicht aus. Nach wie vor besteht kein glaub­würdiger Sanktions­mechanismus für Menschen­rechts­verletzungen durch Fron­tex-Operationen oder mit Blick auf die Lage von Geflüch­teten in Frontex-Einsatz­ländern. Un­abhängige Beobachter für den Flüchtlingsschutz zu entsenden – wie in der neuen Frontex-Verord­nung vorgesehen – hilft hierbei nur wenig weiter. Letztlich kann nur Frontex selbst ihre eigenen Operationen abbrechen, wenn entsprechende kritische Berichte und Vorwürfe vorliegen. Bisher gibt es keinen Präzedenzfall für eine solche Entscheidung, was die Glaubwürdigkeit der Agentur schmälert. Ohne­hin ist die Einstel­lung einer Frontex-Mission kein effektives Druckmittel gegenüber Mitglied- oder Dritt­staaten, die systematisch Grundrechte ver­letzen. Deshalb darf aus Sicht von Flücht­lings­organisationen Frontex seine Kooperation mit Transit- und Herkunftsstaaten bei der Rückführung nicht noch ausbauen.

Die EU muss in Bezug auf Frontex in den nächsten Jahren einen Ausgleich zwischen diesen Positionen suchen. Die Mitglied­staaten drängen darauf, irreguläre Zuwan­de­rung messbar zu reduzieren bzw. mehr Personen auszuweisen. Demgegenüber wird das EP auch in der neuen Zusammensetzung betonen, dass die EU-Grund­rechtecharta und das bestehende EU-Asylrecht beachtet werden müssen.

Rekrutierung und Ausbildung­ von EU-Grenzschützern

Die andere große Herausforderung bei der Umsetzung der kommenden Frontex-Reform liegt darin, neues Per­sonal aufzubauen und auszubilden. Im Oktober 2019 hat die Agen­tur einen ersten Bewer­bungsaufruf für 700 europäische Grenzschutzkräfte veröffentlicht. Diese Kräfte sollen nicht mehr, wie bisher, aus den Mitgliedstaaten abgeordnet, sondern direkt durch Frontex rekrutiert werden. Die gesamte stehende Frontex-Einsatztruppe soll sich indes weiterhin pri­mär aus nationalen Grenzbeamten und ‑beamtinnen zusammensetzen. Die aktuelle Zielsetzung lautet, 1500 nationale Grenzpolizisten abrufbereit zu haben; bereits 2021 sollen es rund 5000 sein. Par­allel zu diesem Aufwuchs verschiebt sich das Gewicht von kurz- zu langfristigen Ab­ordnungen zu Frontex. Die Mitgliedstaaten sind beim Einsatz ihrer Personalkapazitäten also immer weniger flexibel.

Die Beschlusslage sieht außerdem vor, dass nach einer Evaluierung 2024 die Zahl EU-eigener Grenzschützer von 1500 auf 3000 verdoppelt werden soll. Erst 2027 würde schließlich zusammen mit Kräften der Mitgliedstaaten die volle Einsatzstärke von 10 000 Personen erreicht werden. Deutsche Politikerinnen und Politiker haben wieder­holt argumentiert, dieser Prozess müsse beschleunigt werden. Diese Aufrufe finden in der Praxis nur wenig Nachhall. Mehrere Mit­glied­staaten sehen sich allein durch die Pla­nung bis 2027 stark unter Druck gesetzt, weil sie nicht über die notwendigen per­sonellen Ressourcen ver­fügen. Auf natio­naler Ebene besteht ebenso eine erhebliche politische Nachfrage nach einem Ausbau der Sicherheitsbehörden. In Deutschland gilt dies etwa hinsichtlich einer möglichen Inten­sivierung der soge­nannten Schleier­fahndung in Grenzräumen.

Auf EU-Ebene besteht die Sorge, dass die neuen Stellenausschreibungen bei Frontex auf zu wenig Resonanz stoßen werden. Unter Umständen könnten Bewerberinnen und Bewerber nicht hinreichend qualifiziert und / oder nicht alle Mitgliedstaaten gleicher­maßen vertreten sein, nicht zuletzt da An­gestellte in Warschau (Sitz der Agen­tur) im europäischen Vergleich unter­durch­schnitt­lich bezahlt werden. Ge­hälter für EU-An­gestellte werden mit einem Korrektur­koeffizienten je nach Lebens­haltungs­kosten im Vergleich zu Belgien und Luxemburg verrechnet; im Fall Polens liegt er etwa 30 Prozent niedriger.

Die Schaffung einer neuen Kategorie von EU-eigenen Grenzschützern und -schütze­rin­nen wirft weitere Fragen auf. Beispielsweise muss geklärt werden, nach welchen Standards sie ausgebildet werden sollen. Nationale Grenzbeamte, die zu Frontex ab­geordnet sind, greifen auf Kenntnisse und Rechtsrahmen ihrer jewei­ligen Heimatländer zurück. In ihrem jüng­sten Bewerbungs­aufruf spricht Frontex von einer sechs­monatigen Ausbildung zum euro­päischen Grenzschützer. Um dies praktisch zu ermög­lichen, richtet sich der Aufruf zunächst an ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nationaler Sicherheits- und Strafverfolgungs­behörden, die in der Ausübung hoheitlicher Aufgaben erfahren sind. Dies schließt ehe­malige Angehörige des Militärs mit ein. Wenn man so pragmatisch vorgeht, um Personal zu gewinnen, muss bedacht werden, dass für EU-eigene Grenzschutzkräfte hohe Stan­dards angelegt werden müssen. Das Ge­mein­same Europäische Asylsystem (GEAS) und die EU-Grundrechte­charta sind zwingend einzuhalten.

Frontex-Kräfte und die Rechte des Einsatzlandes

Umgekehrt ist offen, ob der Pool an neuen Frontex-Kräften umfänglich genutzt werden wird. Die Mitgliedstaaten sollen Empfehlun­gen der Agentur in ihren jeweiligen Grenz­schutzsystemen umsetzen. ­Die jüngste Reform bekräftigt das Recht des Frontex-Direktors, einzelnen Staaten diesbezüglich Vorschläge zu machen. Sollte ein Mitgliedstaat trotz darauf aufbauender gemeinsamer Beschlüsse der Kommission und des Rats der Innen­minister keine entsprechenden Maßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen, kann der Rat beschließen, diesen Staat zeit­weise als Vollmitglied der Schengen­zone zu suspendieren. Dennoch kann ein Einsatz einer operativen Frontex-Mis­sion nur in Kooperation mit dem jeweiligen Außen­grenzstaat realisiert werden. Der ein­ladende Staat führt zudem das Kommando über die Frontex-Kräfte vor Ort. Somit bleibt die nationale Verantwortung für die öffentliche Sicherheit gemäß Artikel 4 (2) des EU-Vertrags gewahrt. Auch aus prak­tischer Sicht ist es geboten, dass Frontex-Kräfte eng mit dem Einsatzland zusammen­arbeiten. Zum Beispiel müssen irreguläre Ein­wanderer oder verdächtige Personen den loka­len Behörden übergeben werden zur Einleitung eines Asyl- oder eines polizei­lichen Ermittlungsverfahrens. Eine ein­seitige supra­nationale Übernahme von Abschnitten der EU-Außengrenzen durch Frontex-Kräfte ist also weder kompetenzrechtlich möglich noch realistisch.

Nationale wie europäische Grenzschutzkräfte sind derweil verpflichtet, allen an­kom­menden Personen auf Verlangen ein faires Asylverfahren zuzugestehen, ein­schließlich irregulärer Migrantinnen und Migranten. Bis zum Abschluss des Verfahrens muss ihnen ein siche­rer Aufenthalt auf europäischem Territo­rium gewährt werden. Nur in Ausnahmefällen sollte die Überwachung im Vor­feld europäischer Außengrenzen dazu führen, dass Nachbarstaaten irreguläre Zuwanderer frühzeitig abfangen. Eine in­direkte europäische Migra­tionskontrolle durch Datenübermittlung an Dritte ist ille­gal, wenn kein verlässlicher humanitärer Schutz für die betroffenen Menschen jenseits der EU gegeben ist.

Somit darf man eine verstärkte Frontex-Präsenz an europäischen Außengrenzen nicht gleichsetzen mit einer Reduzierung der irregulären Zuwanderung. Fron­tex-Einsätze sollten primär Migrationsbewegungen besser erfassen, was wiederum eine rechtliche Verantwortlichkeit für schutz­suchende Personen nach sich ziehen kann. Solange kein gemeinschaftlicher Mechanismus für die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU eingerichtet wird, werden einzelne Mitgliedstaaten versucht bleiben, Maßnahmen zu verfolgen, die dem euro­päischen Migrations- und Flüchtlingsrecht widersprechen. Beispiele hierfür sind das »Durchwinken« irregulärer Zuwanderer, die Zurückweisung ohne Rechtsbehelfe, der Einsatz von systematischer Polizei­gewalt in Grenzregionen, das Auf­recht­erhalten menschen­unwürdiger Unterkünfte. Über­dies ist nicht davon auszugehen, dass Staaten an der EU-Außengrenze freiwillig große Frontex-Missionen einladen, wenn diese mit einer höheren Transparenz und schärferen Kontrolle der nationalen Grenz­sicherungspraktik ein­her­gehen. Diese Ver­mutung stützt sich auf die Tatsache, dass mehrere Außengrenzstaaten in Süd- und Osteuropa sich offiziell gegen die kommende Frontex-Reform ausgesprochen haben.

Frontex für Grenzverfahren

Alternativ zur Grenzsicherung könnten die neuen Frontex-Kräfte dabei helfen, Asyl­verfahren in Grenznähe zu beschleunigen. Einige weitere Mitgliedstaaten könnten Ein­richtungen schaffen – vergleichbar den deutschen Ankerzentren –, die über die bis­herigen und vielfach dysfunktionalen Hotspots in Italien und Griechenland hinaus­weisen. Irreguläre Einwanderer, Einwanderinnen und Asyl­suchende sollten dort nicht nur registriert und identifiziert werden, sondern zeitnah eine Entscheidung über ihren Schutzstatus erhalten. Wie die Bundes­polizei im sogenannten Flughafen­verfahren könnte Frontex die Sicherung solcher Zent­ren unterstützen und die zügige Rückführung abgelehnter Antrag­steller organisieren.

Die Konzeption »geschlosse­ner Zentren«, die der Europäische Rat im Sommer 2018 in Erwägung zog, ging noch einen Schritt weiter. Hierbei sollten in diesen Zentren mög­lichst gleichwertige Asylverfahren statt­finden, in deren Anschluss die Schutz­suchenden innerhalb der Union verteilt oder in die Heimat rückgeführt werden sollten. Dazu müsste das Europäische Unterstützungs­büro für Asylfragen (EASO) entscheidungsbefugt, also zu einer echten EU-Asyl­agentur auf­gewertet werden. Europol müsste sich umfassender als bisher der Sicherheitsüberprüfung irregulärer Ein­wanderer und der Schleu­serbekämpfung widmen. Diese EU-Agenturen könnten somit in gemeinsamen »Europäischen Unterstützungsteams für das Migrationsmanagement« agieren.

Auf Initiative Deutschlands und als Vor­griff auf seine Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 wird in den kommenden Monaten eine etwas abgeschwächte Version dieser Konzeption debattiert werden. Demnach sollte es in den geschlossenen Zentren in Grenznähe eine zeitnahe Vorabprüfung der Asyl­suchenden geben. Erst wenn keine offen­sicht­lichen Gründe für eine Ablehnung vorliegen, könnten die Antragsteller auf andere EU-Mitgliedstaaten verteilt werden, wo ein vollständiges Asylverfahren durch­geführt würde. Frontex wäre auch in dieser Version für die Rückführung unmittelbar abgelehnter Asylbewerber zuständig.

Solange sich die Situation in Griechenland nicht entspannt, wo in Hotspots und auf Basis der EU-Türkei-Übereinkunft seit längerem in diese Richtung experimentiert wird, ist kein substantieller Fortschritt zu erwarten. Die neue konservative griechische Regierung hat entschieden, die be­stehenden Lager auf mehreren griechischen Inseln aufzu­lösen und auf dem Festland neue, geschlossene Einrich­tungen für Asyl­suchende zu schaffen. Ob es gelingen wird, dort für schnellere Verfahren und menschen­würdige Standards zu sorgen, ist zurzeit voll­kommen offen. Außerdem ist die Rück­führung irregulärer Migrantinnen und Migranten in die Türkei unter den aktu­ellen politischen Verhältnissen frag­licher und problematischer denn je.

Unabhängig von der kritischen Lage in Griechenland sprechen allgemeine recht­liche Gründe dagegen, geschlossene Zentren für europäische Asyl- und Rückführungs­verfahren zu etablieren: Selbst wenn EU-Agen­turen diese Zentren und Verfahren direkt übernehmen sollten – und sei es nur im Rahmen einer Vorabprüfung von Asylsuchenden –, bleiben die dazugehörigen Rechtsmittel auf nationaler Ebene. Bei so grundrechtssensiblen Maßnahmen wie zwangsweisen Rückführungen darf das Recht auf ein faires Verfahren allenfalls zeitlich gestrafft, aber keineswegs effektiv ausgehebelt werden. Sogar in einigen nord­europäischen Mitgliedstaaten ist es schwierig, bei hohen Zugangszahlen zen­trale rechts­staatliche Garantien einzuhalten und einen unverhältnismäßig langen Frei­heitsentzug von Asylbewerbern zu vermei­den. Die ein­zelnen Nationen müssen ihren Kapazitätsaufbau für rechtsstaat­liche und zügige Asylverfahren intensivieren, bevor Frontex sinnvoll in größerem Umfang zu Asyl­verfahren in Grenznähe beitragen kann.

Frontex für Auslandsmissionen

Eine letzte Option, die wachsende Frontex-Grenzschutztruppe operativ einzu­setzen, sind internationale Missionen für die Grenzsicherung. Dabei nehmen Fron­tex-Kräfte unmittelbare Aufgaben der Grenzkontrolle in Drittstaaten wahr, was über eine Koordinierung von Operationen zur Rückführung hinausreicht. Eine erste der­artige Frontex-Mission mit 50 Beamten hat im Frühjahr 2019 in Albanien begonnen. Dieser Einsatz gilt als erfolgreiches Pilot­projekt, da die albanischen Behörden über fast keine Grenzschutzkräfte und ‑mittel verfügen und für jegliche Unterstützung dankbar sind. Ähnliche Missionen zur opera­tiven Verstärkung der Grenzkontrolle können in Montenegro und anderen Staaten des westlichen Balkans – mit Ausnahme des Kosovo – folgen. Die dafür nötigen Status­abkommen sind bereits unterzeichnet oder nähern sich dem Abschluss. Dem­gegenüber steht die humanitäre Situa­tion irregulärer Migrantinnen und Migran­ten, die in der Region zum Teil seit Jahren festsitzen. Weitere Fluchtbewegungen aus der Türkei nach Griechenland werden die Lage noch verschärfen. Künftige Frontex-Grenzschutzmissionen auf dem west­lichen Balkan werden deshalb in einem deutlich spannungsreicheren Umfeld agieren. Die Zurückweisung Nordmazedoniens und Albaniens als EU-Beitritts­kandidaten schwächt die politischen Ein­fluss­möglich­keiten der EU zusätzlich.

Vor diesem Hintergrund erweitert die be­schlossene Frontex-Reform das Einsatz­gebiet von Grenzschutzmissionen über die un­mittel­bar an die EU angrenzenden Staaten hin­aus. Rein rechtlich werden damit Ein­sätze in Nordafrika oder anderen Transit- und Herkunftsländern der Migration nach Europa möglich. Fron­tex ist schon heute in vielen dieser Staaten in beratender Funktion und mit technischer Ausrüstungs­hilfe präsent.

Darüber hinausgehende Frontex-Grenz­schutzmissionen mit operativen Aufgaben hängen – wie diejenigen innerhalb der EU – ab von einer Einladung durch den jewei­ligen Einsatzstaat. Derzeit ist unklar, welche Drittstaaten eine solche Einladung würden aussprechen wollen und wie sich dies mit Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Union überschneiden würde. Insbesondere in Ländern des Sahels sind EU-GSVP-Ein­sätze auf den Grenzschutz ausgeweitet oder neu zu diesem Zweck aufgesetzt worden. Vergleich­bare Frontex-Missionen würden noch stärker dem EU-Interesse dienen, irreguläre Migranten in den jeweiligen Transitstaaten festzusetzen. Als »Maximallösung« wäre Folgendes denk­bar: Frontex-Einsätze helfen beim Betreiben humanitärer Auffanglager in Drittstaaten, in die Personen nach einer Seenot­rettung auf hoher See verbracht werden könnten und / oder in denen sie extraterritorial einen Asylantrag für Europa stellen könnten. Gegen letzteres Modell sprechen die bis­he­rigen Pilotprojekte in Niger, bei denen nur eine sehr kleine Anzahl besonders schutz­bedürftiger Personen geregelt von EU-Staaten aufgenommen wurde. Unter ande­rem deshalb hat die Afrikanische Union solchen Ansätzen eine klare Absage erteilt: sogenannten »Ausschiffungsplattformen« oder neuen Zentren, in denen Asylanträge für Europa gestellt werden können.

Viel konkreter stellt sich deshalb die Frage, ob schon der rein formal vorgesehene Aufbau von 10 000 Frontex-Grenzschutz­kräften die Kapazitätsentwicklung des zivi­len Krisenmanagements der GSVP untergräbt. Für Letzteres verfolgt die EU zurzeit einen neuen Anlauf mit dem »Civilian Compact«. Sowohl kurz- als auch länger­fristig abgeordnete nationale Polizei­beamte kommen für Einsätze im Rahmen der GSVP und von Frontex in Betracht. Die Union hat bislang kein übergreifendes Konzept zur Aufgabenteilung prä­sentiert. Vorstellbar wäre, dass GSVP-Opera­tionen sich nach wie vor auf allgemeine Themen der Reform des Sicherheitssektors konzentrieren, während Frontex nur eng definierte Aufgaben des Grenzmanagements in Drittstaaten über­nimmt. Unter ande­ren politischen Mehrheits­verhältnissen könnte Frontex zusätzlich jenseits euro­päischer Küsten­gewässer in der Seenotrettung aktiver werden. Dabei wäre Frontex ein­deutig an EU-rechtliche Vorgaben zum Flüchtlingsschutz gebunden.

Empfehlungen

Die deutsche Ratspräsidentschaft 2020 sollte einen nachhaltigen Ausbau von Fron­tex priorisieren. Wenn der Fokus allein auf die beschleunigte Rekrutierung bei Frontex gelegt wird, sind die Risiken größer als der Nut­zen – das ist weitgehend Symbolpolitik mit Blick auf eine beunruhigte Öffentlichkeit. Frontex kann nicht den fehlenden Kon­sens der Mitgliedstaaten im Umgang mit irregulärer Migration über­decken. Nicht eine verstärkte europäische Präsenz im Außengrenzschutz ist maßgeblich, sondern die sogenannte Lasten­teilung, die Entwicklung der Kapazitäten in nationalen Asylsystemen und die politische Bereitschaft, »sichere, geordnete und reguläre« Migration zu fördern.

Deutschland sollte überdies betonen, dass ursprünglich nicht nur Frontex aus­gebaut, sondern damit einhergehend eine europäische Asylbehörde geschaffen werden sollte. Insofern sind die jüngsten Vorschläge für den Ausbau von Grenz­zentren und -ver­fahren sinnvoll, wenn dies gleichzeitig eine Akzent­verschiebung auf faire und zügige Asylverfahren bedeutet. Eine EU-Asylagentur mit umfangreichen Kompetenzen, Asylverfahren durchzuführen, wäre hierzu ein wichtiger Baustein. Weitere Reformen müssen zweierlei gewähr­leisten: Rechtsstaatlichkeit und den Zugang zu Rechts­mitteln in zentralen Erst­ankunftsstaaten. Der Frontex-Ausbau darf demgegenüber nicht zu einseitig dazu ge­nutzt werden, Rück­führungen zu beschleu­nigen und ihre Zahl zu erhöhen.

Fron­tex sollte vielmehr im Kern dazu bei­tragen, professionelle Standards und neue technische Mittel bei der Grenz­kontrolle zu verbinden mit einem möglichst hohen Maß an Transparenz und an Verantwortlichkeit für irreguläre Zuwanderer und Schutz­suchende. Dies gilt sowohl für die EU-eigenen Grenzschutzkräfte als auch für die Zusammenarbeit mit nationalen Grenz­polizisten, innerhalb wie außer­halb der EU. In Zeiten eines anhaltend hohen Migrations­drucks ist das kein un­rea­listischer Maß­stab, sondern die not­wendige Grundlage für eine tragfähige und operative Integra­tion euro­päischer Sicherheitsbehörden.

Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364