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Unterstützung für die Weltgesundheitsorganisation

Welche Schritte die EU als Nächstes einleiten sollte

SWP-Aktuell 2020/A 105, 21.12.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A105

Forschungsgebiete

Vor der Covid‑19-Pandemie galt die Europäische Union (EU) weder als Motor für globale Gesundheit noch als bedeutende Unterstützerin der Weltgesundheits­organisation (WHO). 2010 verabschiedete der Rat der EU Schlussfolgerungen zur Rolle der Union im Bereich globaler Gesundheit; sie gerieten in Vergessenheit und wurden nie umfassend umgesetzt. Da einige EU-Mitglied­staaten zu den besonders von der Pandemie betroffenen Ländern gehören, ist die EU verstärkt an multilateraler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der globalen Gesundheit interessiert. Drei Dinge könnten dafür hilfreich sein: eine Auf­wertung ihres Status in der WHO, die Einrichtung eines Referats für globale Gesundheit im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sowie eine Überarbeitung der formellen Beziehungen zwischen EU und WHO.

In der Pandemie zeigt sich eine Diskrepanz zwischen dem Narrativ der EU, für welt­weiten Zugang zu Covid‑19-Impfstoffen ein­zutreten, und ihren Taten. Obwohl der Impf­stoff als globales öffentliches Gut ge­prie­sen wird, sicherten sich EU-Staaten frühzeitig Impfstoffdosen – entgegen der Empfehlung der WHO. Die Weigerung der EU, Patentgesetze zum Schutz kom­merzieller Interessen von Pharmaunterneh­men zu ändern, bedeutet eine Hürde für globale Solidarität. Eine neue globale Gesundheitsstrategie ist nötig, um diese und weitere Herausforderungen zu über­winden und die EU zu einer verläss­lichen Partnerin für die WHO zu machen.

Globale Gesundheitspolitik als unterschätztes Politikfeld

Gemäß der europäischen Gesetzgebung ent­scheiden die EU-Mitgliedstaaten selbst über ihre jeweilige Politik zur öffentlichen Gesund­heit. Die EU koordiniert und ergänzt die nationalen Gesundheitspolitiken. In den letzten Jahr­zehnten fehlte es der aus­wärtsgerichteten Gesundheitspolitik der EU an Sichtbarkeit, obgleich die Union tradi­tio­nell Multilateralismus befürwortet. Mit ihren im Jahr 2010 angenommenen Rats­schlussfolgerungen zur globalen Gesund­heit verpflichtete sie sich zu einer umfassen­den globalen Gesundheits­politik – einschließlich der Unterstützung von WHO und Ver­ein­ten Nationen (VN) –, wobei der Fokus auf uni­verselle Gesundheits­versor­gung, Stärkung von Gesundheits­systemen sowie den »Health in all Policies«-Ansatz in allen EU-Außen­politiken gelegt wurde. Die Rats­schlussfolgerungen erhiel­ten jedoch nie ausreichende Unterstützung vonseiten der Gesundheits-, Entwicklungs- und Außenministerien der Mit­gliedstaaten, da die EU im Bereich globaler Gesundheit in erster Linie als Entwicklungs- und nicht als strategische bzw. diplomatische Akteurin gesehen wurde. Vor Covid‑19 zählte das Thema globale Gesund­heit nicht zu den Prioritäten auf der poli­tischen Agenda Europas; Ausnahmen waren Antibiotika­resistenzen und digitale Gesundheit.

Covid-19: Weckruf für die EU im Bereich globaler Gesundheit?

Während sich zu Beginn der Covid‑19-Pan­demie die Mitgliedstaaten auf ihre natio­nale Reaktion konzentrierten, hatte die EU Schwierigkeiten, eine gemeinsame Antwort zu finden. Als Export­beschränkungen für Schutzausrüstung wie Masken eingeführt wurden, geriet die europäische und inter­nationale Zusammenarbeit ins Hinter­treffen. Neben der fehlenden Ko­operation verhinderten der Ressourcenmangel und die geringe Autorität des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) einen harmonisierten, evidenzbasierten Ansatz innerhalb Europas. Dies hielt das ECDC bereits vor der Pandemie davon ab, sich proaktiv im Bereich glo­baler Gesundheit zu engagieren.

Allmählich zeichnet sich ein »euro­päi­sier­ter« Ansatz ab, um die Reaktions­fähig­keit des öffentlichen Gesundheits­wesens in Europa sowie das multilaterale Engagement für globale Gesundheit zu erhöhen. In ihrer Rede zur Lage der Union forderte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im September eine europäische Gesundheitsunion und kündigte Pläne zur Stär­kung des ECDC und der Europäischen Arz­neimittel­agentur (EMA) an. Ob die EU‑Kom­pe­tenzen im Gesundheitssektor erweitert werden, soll auf der Konferenz zur Zukunft Euro­pas 2021 diskutiert wer­den. Ferner stellte von der Leyen die Grün­dung einer Europäischen Behörde für fort­ge­schrit­te­ne biomedizi­nische Forschung und Ent­wick­lung (EU BARDA) in Aussicht, um die Reak­tion Europas auf grenzüberschreitende Bedrohungen zu verbessern.

Allerdings ist nicht klar, inwieweit die Mitgliedstaaten diese Bestrebungen mit­tragen. Den Vorschlag, den EU-Gesundheits­haus­halt 2021–2027 auf 9,4 Milliarden Euro anzuheben, lehnten sie zunächst mehrheitlich ab, bevor sie sich auf ein Volu­men von 5,1 Milliarden Euro geeinigt haben. Euro­pä­i­sche Investi­tionen in Gesund­heits­systeme und Moni­toring können glo­bale Ansprüche der EU glaubwürdiger machen, resiliente Gesundheitssysteme zu fördern und Krisen vorzusorgen. Haushaltslinien für globale Gesundheits­politik als Teil der inter­natio­nalen Poli­tik wurden bisher weder ein­geführt noch gestärkt, was die zukünftige Finanzierung der ambitionierten globalen Gesundheitspolitik der EU erschwert.

Im Februar 2020 näherten sich die Kom­mission und die EU-Mitgliedstaaten an, als sie beschlossen, die internationale Gesund­heitsordnung durch finanzielle Mittel für die WHO zu stützen. Die WHO ist wäh­rend der Pandemie der Knotenpunkt, was Infor­ma­tionen zur Ausbreitung sowie Gesundheitsschutzmaßnahmen angeht. Weil die US-Administration unter Donald Trump den Aus­tritt ihres Landes aus der WHO an­ge­kün­digt und Letztere beschuldigt hat, zu china­freund­lich zu sein, steigen die Erwar­tun­gen an die EU, die Lücken langfristig finanziell und poli­tisch zu füllen. EU-Mit­glie­der wie Deutschland und Frankreich sind bereits eingesprungen: Deutschland sagte der WHO 500 Mil­lionen Euro für 2020 zu, Frank­reich verpflichtete sich zu weite­ren 50 Mil­lio­nen Euro für die WHO und zu 90 Mil­lio­nen für eine zu gründende WHO Academy.

Die formale Kooperation zwischen der EU und der WHO

Die Beziehung zwischen der WHO und der EU basiert auf einem Briefwechsel aus dem Jahr 1972. WHO und EU kooperieren auf globaler, regionaler und natio­naler Ebene. Für die Koordination unter den EU-Mitglied­staaten, was WHO-Angelegenheiten betrifft, ist seit 2010 die EU-Delegation in Genf zu­ständig. Trotz anfänglicher Unsicherheiten in puncto Legitimität und Ver­trauen ist die Delegation nun in der Lage, gemeinsame EU-Positionen zu Schlüssel­themen zu erarbei­ten. Als Teil des EAD wird sie vom Generalsekretariat für Gesundheit und Ernährungssicherheit (GD SANTE) unterstützt. Die EU verfügt allerdings nur über einen Beobachterstatus inner­halb der WHO, da dieser alleinig Nationalstaaten beitreten können. Deshalb kann sich die Union an Sitzungen der Lei­tungsgremien nicht vollständig beteiligen. Bis dato hat die EU keine Versuche unter­nommen, daran etwas zu ändern. Doch angesichts der derzeitigen globalen Tendenz zum Rück­zug vom Multi­lateralismus könnte sich ein Gelegenheitsfenster für die EU öffnen, ihren Status wie auch denjenigen anderer Regio­nalorganisa­tionen zu verbessern.

Abbildung 1

Obwohl sie in verschiedenen Bereichen kooperieren und die EU in den WHO-Leitungs­gremien Beobachterstatus hat, steht die Partnerschaft zwischen diesen beiden auf wacke­ligem Fundament und ist weniger klar als Partnerschaften der EU mit anderen VN-Institutionen. So hat die EU in der VN-Generalversammlung (UNGA) auf einen aufgewerteten Beobachterstatus gedrängt, der der Union das Recht gibt, sich frühzeitig in Debatten der UNGA zu äußern und zu Generaldebatten eingeladen zu werden. Darüber hinaus wird die WHO oft als Ent­wick­lungsorganisation wahr­genommen, die Standards für die öffentliche Gesundheit außerhalb der EU setzt. Die Pandemie könnte dieses Verständnis aufbrechen. Von der WHO erarbeitete Empfehlungen gelten für alle Staaten weltweit und sind aktuell für von Covid‑19 heftig betroffene EU-Staa­ten besonders relevant.

Politische Unterstützung und mehr ge­mein­same Aktivitäten könnten die Ko­ope­ration zwischen der EU und der WHO auf allen Ebenen stärken, mit existierenden Partnerschaftsmodellen als Grundlage (siehe Abbildung 1). Drei Aspekte sind in diesem Beziehungsgeflecht ent­scheidend: Erstens unterhält die Europäische Kommission abgesehen von WHO EURO keine for­mellen Partnerschaften mit anderen WHO-Regional­büros. Neue Kooperationen können der EU ermöglichen, sich in der globalen Gesundheitsdiplomatie innerhalb und außer­halb der Region Europa zu enga­gie­ren. Zweitens scheint sich die Zusammenarbeit mit der WHO EURO in erster Linie auf europäische Fragen zu konzentrieren, was verständlich ist. Allerdings könnte sich die nächste programmatische Partnerschaft zwischen der WHO EURO und der Euro­päischen Kommission ebenso gut auf glo­bale Prioritäten fokussieren, die für beide Parteien wichtig sind, wie zum Bei­spiel Projekte zu Umwelt und Gesundheit oder Geschlechtergerechtigkeit. Drittens könnten gemeinsame Ler­n- und Trainingseinheiten die von EU-Delegatio­nen und WHO-Länder­büros geteilten Ziele sichtbarer machen; überdies könnten diese bes­ser koordiniert und harmonisiert werden.

Die EU als geopolitische Akteurin in globaler Gesundheit

Laut ihrer Präsidentin von der Leyen möchte die EU-Kommission geopolitischer werden. Daraus könnte ein proaktiver und zu­nehmend instrumentaler Ansatz gegen­über multilateralen Organisationen folgen. Jedoch birgt eine solche Positionierung das Risiko, dass europäische Interessen in den Vordergrund gestellt werden. Bislang hat sich die EU in drei internationalen Foren zu einem gleichberechtigten Zugang zu Covid‑19-Impfstoffen, ‑Therapeutika und ‑Di­ag­nostika bekannt.

Erstens organisierte die EU Anfang Mai 2020 eine internationale Geberkonferenz für die Entwicklung von Covid‑19-Impf­stoffen, ‑Medikamenten und ‑Tests, der sich eine zweite anschloss. Diese Konferenzen können als zweischneidiges Schwert be­trach­tet werden: Einerseits unterstützten sie das Ziel der WHO, Impf­stoffe, Thera­peutika und Diagnostika als globale öffent­liche Güter zu entwickeln – also als Güter, die allen gleichermaßen zugutekommen sollen. Von der Leyen zu­folge sei es nicht beabsichtigt, sie aus­schließ­lich unter den EU-Mitglied­staaten zu verteilen, sondern sie weltweit für alle Men­schen und zu er­schwinglichen Preisen bereitzustellen. Andererseits positionierten die Konferenzen die Europäische Kommission und die EU als führende solidarische Kraft bei der Ein­dämmung von Covid‑19, wodurch die WHO als Koordinatorin internationaler Gesundheitsprioritäten in den Hintergrund trat.

Diese Geberkonferenzen der EU sind ein Beispiel für »schnellen Multilateralismus«. Offen bleibt jedoch, wie strukturell in die WHO investiert werden kann, um Multi­lateralismus in der globalen Gesund­heits­politik sowie die Gesundheit aller Men­schen nachhaltig zu fördern.

Zweitens initiierte die EU auf der ersten virtuellen Weltgesundheitsversammlung (WHA) – dem höchsten Entscheidungs­gremium der WHO-Mitgliedstaaten – eine Resolution zur Reaktion auf den Covid‑19-Ausbruch. Multilaterale Unterstützung für diese Resolution kam aus China, von der Europäischen Union und ihren Mit­glied­­staaten, aber nicht aus Russ­land, den Ver­einigten Staaten oder Indien – obwohl in letztgenanntem Land ein großer pharmazeutischer Sektor ange­siedelt ist. Die Resolution umfasst im Wesent­lichen vier Punkte: die Forderung nach einer brei­ten Reaktion der VN; einen Aufruf an die WHO-Mitgliedstaaten, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations, IHR) zu respektieren als das international bindende Regelwerk zur Prävention und Erken­nung von bzw. Reaktion auf Infektionskrankheiten; einen Aufruf an internationale Organisationen, einen freiwilligen Patent­pool für die Ent­wick­lung eines Covid‑19-Impfstoffes aufzu­bauen, um einen kosten­günstigen Zugang für alle zu garan­tie­ren; schließlich die Forderung an die WHO, eine unparteiische, unabhängige und umfassende Bewertung der koordinierten internationalen gesundheitspolitischen Reaktionen auf Covid‑19 vorzunehmen.

Drittens richteten die WHO und die Europäische Kommission gemeinsam den Rat für den Access to Covid‑19 Tools Accel­erator (ACT‑A) aus. Dieses Instrument soll durch globale Zusammenarbeit Ent­wick­lung, Produktion und gleichberechtigten Zugang zu Covid‑19-Tests, ‑Medikamenten und ‑Impfstoffen beschleunigen. Zum ACT‑A gehört auch die Covid‑19 Vaccines Global Access (COVAX) Facility. Als Multi-Akteurs-Plattform soll sie zentrale strate­gische, politische und finanzielle Fragen bei der Entwicklung neuer Covid‑19 Impfstoffe koordinieren. Bisher haben über 180 WHO-Mitgliedstaaten ihre Beteiligung zugesagt. Allerdings können parallele bilaterale Initiativen den Bemühungen von COVAX zuwiderlaufen: Zum Beispiel hat die EU mit einigen Pharma- und Biotechnologie­unternehmen Vorkaufsrechte und Abnahme­garantien (Advanced Market Commitments, AMCs) verhandelt, um sich genü­gend Impf­stoffdosen für die eigene Bevölke­rung zu sichern – dies verhindert, dass die Impf­stoffe für alle Länder bezahlbar und in aus­reichender Menge verfügbar sind. Nachdem die EU ihren Mitgliedern anfänglich dazu riet, keine Impfstoffe über COVAX zu kaufen, ist sie nun bereit, sich finanziell an COVAX zu beteiligen.

Die Welthandelsorganisation als Bühne für globale Gesundheit

Die Vergütung von Arzneimitteln wird durch das internationale Patentrecht gere­gelt. Die globale und zeitgleiche Nachfrage nach Covid‑19-Diagnostika, ‑Impfstoffen und ‑Therapeutika ist aber so hoch, dass konventionelle Patentlizenzen die schnelle Entwicklung und Massenproduktion erschweren könnten, wodurch sich der Zugang zu einem Impfstoff und dessen Verteilung möglicherweise verzögern. Laut der oben genannten WHO-Reso­lution soll diese Herausforderung mithilfe eines »Covid‑19 Technology Access Pool«, basie­rend auf Best Practices, gemeistert werden. Ein Bei­spiel hierfür wäre der von Unitaid eingerichtete und unterstützte Patentpool für Arzneimittel.

Der Teufel steckt indes im Detail: Die Umsetzung eines Patentpools erfordert Flexibilitäten der international anerkannten handelsbezogenen Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) durch die EU und ihre Mitglied­staaten. Diese Flexibili­täten wer­den nicht in der WHO diskutiert, sondern im TRIPS-Rat der Welthandels­organisation (WTO). Dort drängen Süd­afrika und Indien auf eine Resolution mit dem Ziel vereinfachter Anforderungen für TRIPS‑Flexibilitäten, einschließlich ver­pflich­ten­der Lizenzen für Covid‑19-Dia­g­nosti­ka, ‑Therapeutika und ‑Impfstoffe. Dadurch soll der Zugang zu diesen Arznei­mitteln als glo­bales öffentliches Gut ebenso Ländern mit niedrigem Einkommen recht­lich garan­tiert werden. Die Vergabe solcher Lizenzen für medizinische Produkte könnte den Zugang zu wichtigen Technologien sichern. Länder mit großer Pharmaproduktion, unter anderem EU-Mitglieder, bevor­zugen jedoch die freiwillige Lizenzvergabe und betonen, das der­zeitige marktbasierte System reiche aus, dass auch Län­der mit niedrigem und mittlerem Einkommen versorgt würden.

Zu beobachten ist ein scheinbarer Wider­spruch: Auf der einen Seite steht das Nar­rativ der EU, den Zugang zu Impfstoffen welt­weit zu gewährleisten, auf der anderen Seite die kommerziellen Interessen ihrer Mit­glied­staaten sowie der politische Wille zum Patentschutz. Die EU-Staaten befürch­ten, eine Aufhebung der Patent­beschrän­kun­gen könnte einen Präzedenzfall für an­dere Impfstoffe und Medikamente schaffen. Daher ziehen sie es vor, die Kontrolle über die Lizenzierung neuer medizinischer Produkte zu behalten. In der Theorie könnte dies zwar einen globalen Zugang ermöglichen, aber bisherige inter­nationale Erfahrungen zum Zugang zu Medikamenten für andere Erkrankungen wie HIV/AIDS und Hepatitis C deuten nicht darauf hin. Das heißt, die Covid‑19-Pande­mie könnte ein Anstoß zur Reform der TRIPS-Flexi­bilitäten sein. Davon könnte die EU aus wirtschaftlicher und gesundheits­politischer Sicht langfristig profitieren.

Auf dem Weg zur WHO-Reform

Die Pandemie hat allen vor Augen geführt, dass die WHO mehr denn je gebraucht wird. Deutschland, Frankreich, die USA und weitere Staaten haben Diskussionen zur Reformierung der WHO begonnen, um deren gegenwärtige Struk­tur zu modifizieren. Lange war freilich unklar, welchen Weg dort­hin die Kommission und die EU-Mit­glied­staaten einschlagen würden. Indem die EU inten­siver mit der WHO zusammenarbeitet, könnte sie nicht nur schneller ihre Position zur Reform finden, sondern auch der WHO-Reform­prozess selbst könnte beschleunigt werden. Ein von Deutschland und Frankreich vor­gelegtes Non-Paper mündete in Schlussfolgerungen des EU-Rats zur Stär­kung der WHO; sie zeigen die Bereitschaft der Union, die internationale Debatte mit­zuprägen. Obwohl Fragen zur Aufwertung der WHO-Regionalbüros und der normsetzenden Funktion der WHO in den Schlussfolgerungen angerissen werden, verfolgt die EU mit ihren Plänen für eine Europäische Gesund­heitsunion teilweise gegenläufige Interessen. So schlug die Kom­mission vor, einen euro­päi­schen Mechanismus zur Ausrufung einer gesund­heitlichen Notlage einzurichten. Auch wenn er mit der WHO abgestimmt werden soll, birgt er die Gefahr, die norm­setzende Rolle der WHO zu unterwandern.

Jüngst hat der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, einen »Treaty on Pandemics« ins Gespräch gebracht, der die EU in der globalen Gesundheitspolitik als Agenda-Setter etablieren will, gleich­zeitig jedoch die bin­den­den IHR der WHO-Mit­gliedstaaten zum Teil dop­peln würde. Regulatorische Bestrebungen zur Kontrolle von Infektionskrankheiten soll­ten innerhalb der WHO verbleiben. Jedes neue Instrument außer­halb der WHO schwächt diese, umso mehr als selbst bei Aushandlungen innerhalb der WHO-Institu­tionen Doppelstrukturen zu den IHR entstehen.

Zukünftige Optionen für die EU im Bereich globaler Gesundheit

Um eine zuverlässige Partnerin für die WHO zu werden, kann die EU ihre Kapazitäten in fünf Bereichen ausbauen.

Erstens kann die EU ihre Ratsschluss­folge­rungen zur globalen Gesundheit aktu­a­lisieren. Eine neue, kohärente globale Gesund­heitsstrategie sollte sich dar­auf konzentrieren, resiliente Gesundheits­systeme zu fördern, die auf externe Schocks wie Gesundheitsrisiken und die Folgen des Klimawandels vorbereitet sind. Sie sollte eine breite, stärker geopolitische und euro­päische Per­spektive bieten. Elemente wie die Werte der Union (Zugang zu Gesund­heit, Gleich­heit, Demokratie, Rechenschafts­pflicht), die Ziele nachhaltiger Ent­wicklung (SDGs) der VN und der »Health in All Policies«-Ansatz sollten darin Eingang fin­den. Ferner kann sie an eine bessere Umset­zung der IHR sowie eine strategische Auto­nomie der EU in Bezug auf medizinische Produkte und Medikamente appellieren.

Neue Ratsschlussfolgerungen sollten durch einen konkreten Fahrplan und Über­prüfungsmechanismen ergänzt werden, um Effektivität und Transparenz sicherzustellen. Unabdingbar ist, dass sie von Akteuren der Gesundheits-, Entwicklungs- und Außenpolitik der EU-Mitglied­staaten und ‑Institutionen entwickelt werden. Ohne deren Beteiligung könnte die Neuauflage nach der Covid‑19-Pandemie in Vergessenheit geraten, genauso wie die Ratsschlussfolgerungen von 2010.

Zweitens muss die EU strategische Kapazitäten für globale Gesundheit innerhalb der EU-Institutionen und über verschiedene Sektoren hinweg aufbauen – einschließlich Handel, Energie und des Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirt­schaftspolitik –, ausgestattet mit einem klaren Mandat und soliden finanziellen Mitteln für globale Gesundheit. Inner­halb des EAD wäre daher eine strategische Einheit mit finanziellen, personellen und thematischen Ressourcen angebracht – mit dem Mandat, mehrere Direktionen in Fra­gen globaler Gesundheit zu koordinieren. Ein Kommissar sollte gegenüber dem Euro­päischen Parlament, dem Europäischen Rat und den einzelnen Mitgliedstaaten die Verantwortlichkeit für globale Gesundheit tragen. Dies könnte entweder der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicher­heits­politik oder die Kommissarin für Gesund­heit sein. Das Referat im EAD müsste mit Expertinnen und Experten der GD SANTE zusammenarbeiten und könnte strategischer mit der WHO und anderen multilateralen Partnern kooperieren. Des Weiteren könnte es die Funktion globaler Gesundheits­diplomatie erfüllen, indem es sich regel­mäßig mit EU-Delegationen austauscht.

Drittens könnte die EU ihre Gesundheits­kompetenzen innereuropäisch erweitern, um sich außereuropäisch stärker zu präsen­tieren. Eine Union, die innereuropäisch kooperiert und in Krisenzeiten nicht primär mit der eigenen Koordinierung beschäftigt ist, kann auch international schneller und geschlossener handeln. Ergänzend zu Initia­tiven unter dem 5,1 Milliarden Euro um­fassenden EU4Health-Programm könnte das ECDC gestärkt werden. Für eine promi­nen­tere globale Rolle benötigt es ein weit­reichen­de­res Mandat in der globalen Gesundheits­politik; Letzteres muss breiter angelegt sein, als der bisherige Kommissions­vorschlag vorsieht. Zudem muss die EU hinsichtlich medizinischer Ver­sorgung stra­te­gisch autonomer werden, doch darf dies nicht zu Lasten der glo­balen Solidarität gehen.

Viertens hat die Covid‑19-Pandemie gezeigt, dass EU-Mitgliedstaaten kohärenter und in Abstimmung mit EU-Institutionen sowie im Austausch mit zivilgesellschaft­lichen Akteuren agieren sollten, um Dop­pe­lungen und widersprüchliche nationale und globale Gesundheitspolitiken zu ver­meiden. Deshalb braucht es Raum für Kom­munikation, Koordination und Zusammenarbeit zwischen den EU-Institutionen, den Mitgliedstaaten, dem Europäischen Par­la­ment und Akteuren der Zivilgesellschaft. So können die EU und ihre Mitglieder inner­halb internationaler Partnerschaften ge­einter auftreten, etwa der WHO. Das Forum für globale Gesundheitspolitik der EU könnte zu diesem Zweck wieder­belebt und aufgewertet werden, indem seine Funktionen ausgeweitet und die Mitgliedschaft auf Rat, Parlament, EAD und zivil­gesellschaft­liche Akteure ausgedehnt wird.

Schließlich muss die EU ein strategisches Budget für globale Gesundheit aufstellen, um die finanzielle Unterstützung für eine ehrgeizige Agenda zu sichern. Die ver­schie­denen Haushaltskanäle, die glo­bale Gesund­heitspolitik (mit-)finanzieren, soll­ten har­monisiert oder zumindest zusam­men­getragen werden. Dies würde einen Über­blick über die europäischen Finanzmittel für globale Gesundheit bieten, für Trans­parenz sorgen und bei der stra­tegi­schen Ent­schei­dungsfindung helfen, welche Partner­schaften künftig gefördert werden könnten.

Empfehlungen

Für eine vertiefte Zusam­menarbeit mit der WHO könnte die EU ihr Engagement auf fol­gen­den Gebieten erweitern:

  • Den EU-Status in der WHO aufwerten: Die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten sollten gemeinsam eine Aufwertung des EU-Status innerhalb der WHO anstreben, um die Sichtbarkeit der EU als einflussreiche und einheitlich auftretende Akteurin zu erhöhen. Dies könnte entweder durch eine Resolution, ein Sonderabkommen oder durch eine Stärkung der WHO-Vertretung bei der EU in Brüssel geschehen, die nicht nur an einem europäischen, sondern bereits an einem globalen Mandat arbeitet. Ein erster Schritt wäre, die Partnerschaft mit einem Memorandum of Understanding zu fes­tigen. Mehr und gut koordinierter Austausch zwischen hochrangigen Ver­treterinnen und Vertretern der WHO, der Kommission und dem EAD wäre wichtig. Außerdem könnte die Teilnahme von Vertreterinnen und Vertretern aus EU-Mitglied­staaten erwogen werden.

  • Die Zusammenarbeit zwischen EU und WHO-Regionalbüros ausweiten: Ein Plan für die zukünftige Partnerschaft zwischen der WHO EURO und der Euro­päischen Kommission ist derzeit in Arbeit. Neue Prioritäten und Programme, sowohl für Europa als auch weltweite, sollten entlang der SDGs abgestimmt werden. Im Einklang mit den Zielen des Green Deal der EU könnten gemeinsame Projekte mit der WHO zur Förderung von Umwelt und Gesundheit gleichermaßen den Weg ebnen für bisher nicht genutzte Felder der Zusammenarbeit. Ein Überprüfungsmechanismus für den neuen Fünfjahresplan ist der Schlüssel für eine nachhaltige Umsetzung. Wenn die EU formelle Beziehungen zu Regionalbüros außerhalb Europas, wie zur WHO AFRO, aufnimmt, würden ihre Bemühungen auf Regional- und Länderebene in einen strategischen Ansatz eingeordnet.

  • Das WHO-Budget erhöhen: Die Finan­zierung der WHO wird hauptsächlich von den Interessen einzelner staat­licher Geber bestimmt, sodass die WHO von den 15 größten Spendern abhängig ist, die mehr als 80 Prozent aller freiwilligen Beiträge leisten. Eine Erhöhung der Pflichtbeiträge, wie viele Expertinnen und Experten sowie Regierungen sie fordern, ist notwendig, um die Handlungsfähigkeit der WHO in ihren Kernaufgaben zu gewährleisten. Die EU sollte sich einsetzen für eine nachhaltige Finan­zie­rung und Reform der WHO, darüber hinaus für die Wahrung ihrer Autono­mie und der Legitimität der Organisation.

  • Die WHO-Empfeh­lungen und die Ergeb­nisse des Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response (IPPPR) berücksichtigen: Dass WHO-Normen und ‑Standards sowohl im eige­nen Land als auch im inter­natio­nalen Gefüge angewandt werden, zeigt ein hohes Maß an politischer Unterstützung für die WHO. Damit Erstere erhalten bleibt, braucht es finanzielle Hilfen und Engagement der EU und ihrer Mitgliedstaaten, unter anderem für die COVAX Facility. Auf Grundlage der WHA-Resolu­tion hat die WHO das IPPPR eingerichtet, das die globale Reaktion auf Covid‑19 begutachten soll. Die EU und ihre Mitglieder unterstützen diese Initiative nachdrücklich, die gegebenenfalls einige der geo­politischen Spannungen im Zusammenhang mit der globalen Kont­rolle der Covid‑19-Pandemie indirekt entschärfen kann. Im November 2020 hat das IPPPR der WHA einen Zwischenbericht vorgelegt; der Abschlussbericht folgt im Mai 2021. Die europäischen Länder sollten die Ergebnisse der unabhängigen Evaluierung angemessen berücksichtigen.

  • WHO-Reformdebatten mitprägen: Die EU sollte den Ehrgeiz haben, die multi­lateralen globalen Gesundheitsstrukturen um­zugestalten und die WHO dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Sie sollte in einem institutionellen und rechtmäßigen WHO-Reformprozess, der vor der Covid‑19-Pandemie langsam und ineffektiv verlief, eine führende Stimme übernehmen.

  • Eine neue globale Gesundheitsstrategie der EU entwickeln: Eine solche globale Gesundheitsstrategie muss sich mit der WHO-Reform befassen und von Akteuren aus den Sektoren Gesundheit, Forschung, Entwicklung und Außen­politik der EU-Institutionen sowie von den ein­zel­nen EU-Staaten mitgetragen werden. Sie sollte Fra­gen der Daseinsberechtigung der WHO klären, ihrer Organisationsstruktur und Schwerpunkte, ihrer Unabhängigkeit bei Ausbrüchen von Infektions­krankheiten. Ferner sollte sie ein Gleichgewicht herstellen zwischen dem An­lie­gen der EU, multilaterale Vereinba­run­gen aufrechtzuerhalten, und ihrem Anspruch, strategisch autonomer zu werden.

Eine erneuerte Partnerschaft zwischen der EU und der WHO ist – trotz natio­nal­staatlicher Tendenzen und geopolitischer Spannungen – ein Hoffnungsschimmer. Die EU sollte diese Chance ergreifen, jedoch die WHO dabei nicht in den Schatten stel­len. Kollektive Anstrengungen sind gefrag­ter denn je, um globale öffentliche Güter zu sichern und die inter­nationale Gesundheitsordnung zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Susan Bergner und Maike Voss sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Sie arbeiten im Projekt »Globale Gesundheit«, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert wird. Remco van de Pas ist Arzt für öffentliche Gesundheit und Forscher zu globaler Gesundheit. Er ist Research Fellow am Institut für Tropenmedizin in Antwerpen und Research Associate am Clingendael-Institut. Louise van Schaik ist Leiterin der Abteilung »EU & Global Affairs« am Clingendael-Institut.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6364

(Aktualisierte deutsche Übersetzung von SWP Comment 47/2020)