Mit dem Ende der Qaddafi-Herrschaft ist der Konflikt in Libyen noch nicht zu Ende, sagt Wolfram Lacher. Vier Thesen zur weiteren Entwicklung im Land.
Kurz gesagt, 24.08.2011 ForschungsgebieteWolfram Lacher
Mit dem Ende der Qaddafi-Herrschaft ist der Konflikt in Libyen noch nicht zu Ende, sagt Wolfram Lacher. Vier Thesen zur weiteren Entwicklung:
Ein Sieg der Revolutionäre in Tripolis bedeutet nicht zwangsläufig das Ende des Konfliktes.
Mit der Einnahme von Qaddafis Hauptquartier Bab al-Aziziya kann das Regime als gefallen erklärt werden – doch bedeutet das nicht zwangsläufig, dass damit der Konflikt zu Ende ist. Teile des alten Sicherheitsapparates könnten weiter Widerstand gegen eine neue, vom Nationalen Übergangsrat zu bildende Regierung leisten. Auch wenn es den revolutionären Truppen gelingt, Tripolis zu stabilisieren, könnte dieser Rumpfsicherheitsapparat zum Keim einer Rebellion gegen die neue Ordnung werden. Die Spezialeinheiten und der Geheimdienst wurden vor allem aus Qaddafis Stamm, den Qaddadfa, sowie den Magarha, dem Stamm des Geheimdienstchefs Abdallah Senoussi rekrutiert. Die Siedlungsgebiete dieser Stämme in der Region um die Stadt Sirte sowie im Fezzan im Landeszentrum würden in diesem Falle zum Schwerpunkt fortwährenden Widerstandes. Um das kritische Potential der Klientelgruppen des alten Regimes zu minimieren, müssen diese in den politischen Prozess mit einbezogen werden. Gleichzeitig aber müssen die führenden Entscheidungsträger des Sicherheitsapparates vor Gericht gestellt werden. Der Übergangsregierung steht also eine heikle Gratwanderung im Umgang mit diesen Gruppen bevor. Im idealen Szenario würden sich aus diesen Stämmen Führungspersönlichkeiten herausbilden, die breite Unterstützung besitzen, sich aber vom Militärapparat des alten Regimes distanzieren.
Der Nationale Übergangsrat bildet den Rahmen für den politischen Prozess, der jetzt beginnen muss – aber er muss seine Basis verbreitern.
Der Übergangsrat hat einen präzisen Plan vorgelegt, der die baldige Ernennung einer Übergangsregierung innerhalb eines Monats nach dem Sturz des Regimes sowie Wahlen zu einer Nationalen Konferenz innerhalb von acht Monaten vorsieht. Darauf sollen die Ausarbeitung einer Verfassung und schließlich verfassungskonforme Neuwahlen folgen. Der Übergangsrat ist in der gegenwärtigen Situation die einzige Institution, die diesen Prozess leiten kann. Um sich dabei breite Unterstützung zu sichern, muss er seine Zusammensetzung verändern, denn im Rat sind Vertreter des Nordostens und anderer Hochburgen der Revolutionäre – Misrata und die westlichen Berge – stark überrepräsentiert. Spätestens bei der Ernennung einer Übergangsregierung sollte dieses Missverhältnis korrigiert werden. Dazu gehört auch, dass nicht nur prominente Anführer der Revolution einen Sitz erhalten, sondern auch Bevölkerungsgruppen, die sich im Bürgerkrieg neutral verhalten haben oder in das Regime eingebunden waren.
Für den Übergangsprozess sind Machtkämpfe innerhalb der revolutionären Bewegung fast unausweichlich – und könnten auch gewaltsam ausgetragen werden.
Innerhalb der revolutionären Bewegung, und auch im Übergangsrat selbst, gibt es schon jetzt verschiedene Interessengruppen, die sich etwa durch ihre ehemalige Stellung zum Regime oder die Interessen ihrer Familien, Stämme oder Städte definieren. Mit der Einbeziehung weiterer Bevölkerungsgruppen nach dem Sturz des Regimes wird die Bandbreite der Akteure noch größer werden. Es ist zu erwarten, dass sich nun verschiedene Fraktionen herausbilden werden und dies zu Machtkämpfen führen wird. Dabei besteht die Gefahr, dass diese Rivalitäten auch gewaltsam ausgetragen werden könnten. Denn während des Bürgerkrieges haben sich auf Seiten der Revolutionäre zahlreiche bewaffnete Gruppen gebildet, die oft nur lose – wenn überhaupt – vom Übergangsrat kontrolliert werden. In jeder Stadt, die vom Konflikt betroffen war, hat sich mindestens eine solche Gruppe gebildet, die unter Waffen steht und starke lokale Interessen vertritt. Es ist bisher nicht abzusehen, dass alle diese Gruppen nach dem Sturz des Regimes ihre Waffen wieder abgeben werden. Möglicherweise bestehen sie weiter, um ihre eigenen lokal- oder clandefinierten Interessen zu vertreten, sowie um über militärische Macht politische oder wirtschaftliche Vorteile zu erreichen. Wie schwer die Loyalität dieser zahlreichen Gruppen gegenüber der politischen Führung einzuschätzen ist, hat bereits die Ermordung von General Younis Ende Juli gezeigt. Den ranghöchsten Militär unter den Revolutionären haben allem Anschein nach Mitglieder einer Gruppe ermordet, die selbst die Revolution unterstützt.
Solange ein großflächiger Konflikt andauert, muss die NATO den Einsatz fortführen – andernfalls sollte die externe militärische Intervention so schnell wie möglich beendet werden.
Die NATO-Mission sollte beendet werden, sobald die größeren Kampfhandlungen vorbei sind. Solange sich aber Teile des ehemaligen Sicherheitsapparates größere Gefechte gegen die revolutionären Truppen liefern, gefährdet der Konflikt weiter die Zivilbevölkerung, deren Schutz das NATO-Mandat vorsieht. Falls sich Teile der regimeloyalen Brigaden in bestimmten Regionen des Landes halten können, wäre die NATO demnach sogar in der Pflicht, dieses Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung weiter wahrzunehmen. Allerdings sollte sie keine Offensive der revolutionären Truppen gegen die Überreste des Militär- und Sicherheitsapparates aus der Luft unterstützen. Sonst würde sie Partei eines fortwährenden Bürgerkriegs nach dem Fall des Regimes und darüber hinaus in die politische Formel Libyens nach dem Bürgerkrieg eingreifen.
Dagegen besitzt die NATO nicht die Mittel, mögliche Vergeltungstaten oder Konflikte zwischen kleineren bewaffneten Gruppen zu verhindern. Werden die offenen Gefechte beendet, sollte die NATO ihren Einsatz so schnell wie möglich beenden und damit zeigen, dass die Verantwortung für die weitere Stabilisierung des Landes in erster Linie bei den Libyern liegt. Es wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfehlt, eine internationale Stabilisierungstruppe zu planen: Erstens besteht kein offensichtlicher Bedarf für solche Truppen, wenn es dem Übergangsrat gelingt, die Lage zu stabilisieren; zweitens würden internationale Truppen in Libyen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf breite Ablehnung stoßen.