Der Schweizer Volksentscheid stellt nicht nur Bern, sondern auch Brüssel vor Herausforderungen. Die EU muss einen neuen institutionellen Rahmen für die Beziehungen zu Staaten entwickeln, deren Vollmitgliedschaft unrealistisch oder nicht gewünscht ist.
Kurz gesagt, 19.02.2014 ForschungsgebieteDer Schweizer Volksentscheid stellt nicht nur Bern, sondern auch Brüssel vor Herausforderungen. Die EU muss einen neuen institutionellen Rahmen für die Beziehungen zu Staaten entwickeln, deren Vollmitgliedschaft unrealistisch oder nicht gewünscht ist, meinen Nicola Forster und Niklaus Nuspliger.
Die überraschende Zustimmung der Schweizer zur Einführung von Kontingenten für die Einwanderung stellt die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf eine fundamentale Bewährungsprobe. Die EU hat in den Tagen nach der Volksabstimmung mit Nadelstichen wie dem Verhandlungsstopp für die Schweizer Beteiligung am Forschungsprogramm »Horizon 2020« reagiert. Vor allem aber wartet sie darauf, ob der Regierung in Bern das juristische Kunststück gelingt, die gesetzliche Umsetzung des Verfassungsauftrags doch noch irgendwie mit der Personenfreizügigkeit in Einklang zu bringen.
Vieles spricht derzeit dafür, dass die Schweiz in wenigen Jahren in einem neuen Urnengang eine Grundsatzentscheidung über die Europapolitik fällen muss. Dabei werden die Stimmbürger nicht nur über das Ergebnis der Verhandlungen mit der EU über die Personenfreizügigkeit, sondern auch explizit über die ausformulierten europapolitischen Konsequenzen ihrer Entscheidung zu befinden haben. Denn als definitive Absage an das enge Beziehungsgeflecht zwischen der Schweiz und der EU sollte man den jüngsten Volksentscheid noch nicht werten. Wenige Tage nach der Abstimmung sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage jedenfalls 74 Prozent der Schweizer gegen eine Kündigung der bilateralen Verträge mit der EU aus.
Schweiz als Modellfall für am Binnenmarkt beteiligte Drittstaaten
Vor diesem Hintergrund muss die EU ihre strategischen Überlegungen darüber vorantreiben, wie sie mit Drittstaaten umgehen soll, die sie zwar am Binnenmarkt beteiligen will, deren politische Vollmitgliedschaft aber entweder vom betreffenden Staat oder von der EU nicht gewünscht wird. Die nun anstehende Grundsatzdiskussion über die Beziehungen mit der Schweiz bietet der EU die Chance, ein Modell für eine institutionelle Anbindung solcher Staaten auszuarbeiten. Dieses würde nicht nur den Schweizern bei einer europapolitischen Grundsatzentscheidung zur Abstimmung vorgelegt, es könnte vielmehr auch als Modell zur Festlegung analoger Spielregeln für weitere europamüde oder noch nicht europareife Staaten dienen.
In Bezug auf die Schweiz befanden sich solche Diskussionen bereits vor dem Volksentscheid in einem fortgeschrittenen Stadium. Auf Druck der EU hätten Bern und Brüssel noch im Frühjahr 2014 Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen aufnehmen wollen, das den über 100 bilateralen Verträgen ein neues institutionelles Dach geben soll. Die EU wollte mit der Schweiz erstens Mechanismen zur Übernahme von Unionsrecht vereinbaren, da sich die Regeln des Binnenmarkts anders als statische völkerrechtliche Verträge laufend weiterentwickeln. Zweitens sollte eine Instanz zur Beilegung von Rechtsstreitigkeiten geschaffen werden, wobei eine Lösung im Vordergrund stand, die den Europäischen Gerichtshof einbezieht.
Ein institutionelles Abkommen war bisher aus EU-Sicht die Voraussetzung für eine weitere Integration der Schweiz in den Binnenmarkt und damit etwa für den Abschluss eines Stromabkommens. Nach der Schweizer Volksabstimmung haben die Mitgliedstaaten den Entscheid über das Verhandlungsmandat zum institutionellen Abkommen vertagt. Doch liegt es nun erst recht im Interesse der EU, den Weg für entsprechende Verhandlungen mit Bern freizumachen, zumal ohne ein Abkommen Rechtsstreitigkeiten absehbar sind, wenn die Schweiz die Kontingente tatsächlich einführt.
Eine Komplexitätsreduktion der bilateralen Beziehungen ist für die EU nicht nur in Bezug auf die Schweiz notwendig. Analoge Mechanismen, mit denen EU-Recht nachvollzogen, Streit beigelegt oder Verträge überwacht und umgesetzt werden, könnten zum Beispiel auch auf europäische Mikrostaaten wie Andorra, Monaco oder San Marino Anwendung finden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) überlebensfähig bleibt, sollte sich ein Mitglied für den EU-Beitritt entscheiden. Mit der Schweiz ausgehandelte institutionelle Lösungen wären auch eine praktikable Alternative, die die EU einer kleinen Anzahl verbleibender EWR-Staaten anbieten könnte.
Weiter stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der Türkei oder der Ukraine, denen die EU aus geopolitischen Gründen eine europäische Perspektive eröffnen muss, wobei sie vor der Beitrittsoption zurückschreckt. Im Raum steht schließlich die Frage, welcher Status etwaigen neuen Staaten wie Katalonien oder Schottland oder aber europamüden EU-Mitgliedern wie Großbritannien zukommen soll, sollten sie sich tatsächlich für einen Austritt aus der Union entscheiden.
Unterschiedliche Integrationsgrade institutionell auffangen
Die EU muss nun erstens prüfen, welche dieser heterogenen Staaten mit einheitlichen Spielregeln in den Binnenmarkt integriert werden könnten. Zu beantworten ist zweitens die Frage, ob die Staaten eines solchen »zweiten Kreises« nicht nur über die gleichen institutionellen Mechanismen in ihren Beziehungen zur EU verfügen würden, sondern auch materiell in identischem Ausmaß integriert werden müssten. Drittens sind die Konsequenzen für die EU zu erörtern, wenn sie solchen Staaten eine gewisse Einschränkung von Grundfreiheiten des Binnenmarkts wie der Personenfreizügigkeit erlauben würde.
Fest steht, dass die Euro-Krise die EU bereits zu einer Integration mit zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten gezwungen hat, und es spricht vieles dafür, dass die Mitglieder der Eurozone noch näher zusammenrücken werden. Über die institutionelle Verbindung zwischen den EU-Kernmitgliedern in der Währungsunion und den peripheren Binnenmarkt-Teilnehmern herrscht jedoch große Unklarheit. Insofern ist die Schweiz nicht nur ein Testfall für den Umgang der EU mit der Personenfreizügigkeit. Sie bietet vielmehr auch ein Übungsfeld für die Fähigkeit der EU, unterschiedliche Integrationsgrade institutionell aufzufangen.
Nicola Forster ist Präsident des Schweizer Think-Tanks foraus – Forum Aussenpolitik und Gastwissenschaftler bei der SWP Brüssel.
Niklaus Nuspliger ist politischer Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) in Brüssel. Er äußert hier seine persönliche Meinung.
Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.