-
2. Roma nach 1989
Die Roma nach 1989 - exit und voice
Das Verhalten der tschechischen Roma läßt sich unter Rekurs auf die aus der Organisationssoziologie stammenden Termini exit und voice beschreiben: Auf Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in einem gegebenen Umfeld reagieren individuelle oder kollektive Akteure entweder durch konstruktive Kritik und den Versuch, den bestehenden Zustand zu verändern (voice), oder dadurch, daß sie auf eine Reform ihrer Umgebung verzichten und das System verlassen (exit). In der Zeit seit 1989 wurden beide Verhaltensformen sichtbar.
- Zunächst kam es zu einer Welle der Aktivität und der Mobilisierung der Roma bzw. des Roma-Umfelds. Kulturelle, gesellschaftliche und politische Organisationen wurden gegründet, in Romanes wurde geschrieben und gedichtet, der Staat subventionierte Druckerzeugnisse von Roma und über Roma, an Hochschulen konnte Romistik studiert werden, im öffentlichen Rundfunk sprachen Roma in ihrer Sprache. Vertreter der Roma waren auch in den Legislativkörperschaften präsent. Wenn man so möchte, dominierte die Kategorie "voice".
- Bald erlahmte indes die Dynamik der neuen Roma-Subkultur. Die soziale Situation der meisten Roma verschlechterte sich, der Schwung der Roma-Bewegung übertrug sich nicht auf die Roma-Basis. Anstelle von Aktivierung machte sich Resignation und Apathie breit. In und zwischen den gesellschaftlichen Organisationen der Roma machten sich Risse, persönliche Querelen und inhaltliche Differenzen bemerkbar. Gleichzeitig wurden Aversionen der tschechischen Mehrheit gegenüber der Roma-Minderheit sichtbar, kam es zu Roma-feindlichen Vorfällen.
- In der zweiten Hälfte der 90er Jahre schob sich daher die exit-Strategie in den Vordergrund. Wachsende Deprivation, rassistische Gewalt und Anzeichen von Diskriminierung waren wichtige Beweggründe dafür, daß es immer wieder zu Migrationswellen tschechischer Roma ins westliche Ausland kam. Eine im August 1997 ausgestrahlte Fernsehsendung des privaten TV-Kanals Nova über die (angeblich) angenehmen Lebensbedingungen tschechischer Roma, die nach Kanada ausgereist waren, führte dazu, daß sich hunderte Roma aus der Tschechischen Republik auf die Reise über den Atlantik machten. In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu oft spontanen Migrationsschüben nach Übersee oder in Länder West- und Nordeuropas. Die Debatte um das "Aussortieren" tschechischer Roma, die nach Großbritannien reisen wollten, am Prager Flughafen Ruzyne zeigte, daß auch gegenwärtig die exit-Thematik nicht an Aktualität verloren hat. Die Stimme der Roma ist seither vor allem zu hören, wenn es um besonders eklatante Formen von Diskriminierung oder Separation (so etwa im Zusammenhang mit der "Mauer von Usti") geht.