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1. Roma zwischen 'exit' und 'voice'
Kai-Olaf Lang
Die Romafrage: Fallbeispiel Tschechische Republik
Beitrag vom 19.12.2001 zum Jour Fixe: Die Romafrage - ein besonderes Minderheitenproblem im Kontext der EU-Erweiterung
Die tschechischen Roma zwischen exit und voice
In der Tschechischen Republik leben laut Volkszählung vom Frühjahr 2001 knapp 12.000 Roma. Schätzungen gehen indes von deutlich höheren Zahlen aus und kommen auf Größenordnungen zwischen 170.000 und 300.000, was einem Bevölkerungsanteil von 1,7 bis 3% entspricht. Damit gehört die Tschechische Republik im ostmittel- und osteuropäischen Vergleich zu den Ländern mit einem mittleren bis geringen Roma-Anteil an der Gesamtbevölkerung. Aufgrund der progressiven Altersstruktur der tschechischen Roma-Population und des demographischen Knicks in der Nicht-Roma-Bevölkerung kann mittelfristig mit einem spürbaren Anstieg des Roma-Anteils in der Tschechischen Republik gerechnet werden.
Die meisten tschechischen Roma haben ihre direkten oder indirekten Wurzeln in der Slowakei. Während nur knapp 1.000 tschechische Sinti und Roma die Zeit des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren überlebten, blieb den slowakischen Roma das Schicksal der physischen Vernichtung weitgehend erspart. Im von Deutschland vasallisierten Slowakischen Staat wurden die Roma als billige Arbeitskräfte v.a. in der Landwirtschaft benötigt. Nach dem Krieg kam es in der Tschechoslowakei zu einer beachtlichen Ost-West-Wanderung der Roma. Teils spontan, teils infolge einer gezielten staatlichen Politik der Umverteilung und "Zerstreuung" siedelten sich Roma aus dem östlichen Landesteil in den vormals von Sudetendeutschen bewohnten peripheren Regionen der tschechischen Länder, später auch in anderen Gegenden, v.a. in industriellen Zentren in Böhmen und Mähren, an. Dementsprechend sieht auch die heutige territoriale Verteilung der Roma-Bevölkerung in der Tschechischen Republik aus: Die Hälfte der tschechischen Roma wohnt in den industriellen Agglomerationen Nordböhmens und Nordmährens. Mit der spezifischen regionalen Konzentration geht folglich auch ein hoher Urbanisierungsgrad der tschechischen Roma einher.
Die Roma-Politik der kommunistischen Tschechoslowakei beruhte - vereinfacht gesagt - auf einer Anhebung des Lebensstandards ohne Anerkennung oder Berücksichtigung ethnischer Spezifika. Diese - phasenweise durch eine aktive Dispersion (rozptyl) der Roma flankierte - Politik der Assimilierung durch Verbesserung der materiellen Situation hatte ihre - von vielen Roma bis heute geschätzten - Positiva. Im Gegensatz zur Nach-Wende-Zeit besaßen die meisten Roma doch wenigstens:
- Arbeitsplätze (im extensiven Wirtschaftsmodell des tschechoslowakischen Realsozialismus bestand auch Nachfrage nach unqualifizierter Arbeitskraft);
- Wohnungen (zur Verfügung stand zunächst ehemals von Deutschen genutzter Wohnraum, später kam neuer Wohraum hinzu, der im Rahmen der sozialistischen Wohnungs- und Sozialpolitik erstellt wurde);
- Sicherheit (so hatten die Roma keine staatliche Verfolgung oder Gewaltakte durch rassistische Gruppen zu befürchten).
Damit ist selbstverständlich noch nichts über die Qualität der Arbeitsplätze (oftmals Hilfsarbeitertätigkeiten) oder der Wohnungen (meist in schlechtem Zustand, überbelegt) gesagt, gleichwohl stellten für viele Roma selbst diese ambivalenten "Errungenschaften" ein gesellschaftliches Vorankommen dar.
Die Kehrseite der paternalistisch-assimilatorischen Roma-Politik der kommunistischen Ära bestand in einer Negierung der kulturellen Besonderheiten der Roma. Den Roma wurde keine Möglichkeit zugestanden, sich als ethnische Minderheit kulturell, gesellschaftlich und erst recht politisch zu artikulieren. Daß diesbezüglich sehr wohl Bedarf und Initiativkraft vorhanden waren, zeigte die Konstituierung eines Bundes der Zigeuner - Roma, der sich in der Zeit des Prager Frühlings bildete.
Die Samtene Revolution vom November 1989 und die neue Realität der Nach-Wende-Zeit stellt sich für die tschechischen Roma insofern ambivalent dar. Einerseits bot sich den Roma erstmals die Möglichkeit, ihre Sprache und ihre kulturellen Eigenheiten zu pflegen. Andererseits verstärkten sich altbekannte und entstanden neuartige soziale Pathologien. Der Fokus der Medien zielte in bisher unbekannter Intensität auf die Roma, bisher latente Ressentiments der Nicht-Roma-Mehrheit wurden manifest, Roma wurden reihenweise arbeitslos, Drogenkonsum und -sucht erreichten neue Dimensionen.