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Die Romafrage - Fallbeispiel Tschechische Republik

Beitrag vom 19.12.01 zum Jour Fixe: "Die Romafrage - ein besonderes Minderheitenproblem im Kontext der EU-Erweiterung"

Arbeitspapier 0, 15.12.2001, 5 Pages

Migration tschechischer Roma - wer, wieso, wohin?

Welche Verhaltensform wird künftig im Vordergrund stehen? Werden sich beide gleichzeitig verstärken? Oder wird es zur stillen Verfestigung eines problemvollen Zusammenlebens zwischen Roma und Nicht-Roma in der Tschechischen Republik kommen?

Werfen wir einen Blick auf Motive und Situation der Roma, die planen, ihre tschechische Heimat zu verlassen. Eine von tschechischen Soziologen für die International Migration Organization erstellte Studie aus dem Frühjahr 2000 liefert wichtige Anhaltspunkte. Die "Analyse des Migrationsklimas und der Migrationstendenzen in westeuropäische Länder in Roma-Gemeinschaften in ausgewählten Städten der Tschechischen Republik" stellt fest, daß es während der zweiten Hälfte der 90er Jahre zu einem Wandel im Migrationsgebaren der Roma-Migration aus der Tschechischen Republik kam. Die Familien, die sich zu einem Weggang entschließen, kalkulieren eine eventuelle Rückkehr nach Tschechien von Anfang an in ihre Reisepläne mit ein. So werden Wohnungen und Vermögen meist nicht verkauft, die Abreise erfolgt möglichst diskret, um so weiterhin den Bezug von Sozialleistungen in der Tschechischen Republik aufrechterhalten zu können. Offensichtlich verfügen die meisten Ausreisewilligen über gute Kenntnisse im Hinblick auf ihr Zielland und die dortige soziale Situation. Informationen und Erfahrungen werden in der Regel innerhalb der Roma-Kommunitäten ausgetauscht. Aus dem nordmährischen Ostrava wird berichtet, daß Organisationen, welche die Ausreise in potentielle Zielländer vermitteln, (Reisekosten-)Kredite gewähren und über Details hinsichtlich der zu erwartenden Asylverfahren informieren. Für gewöhnlich ist der Umstand, daß im Zielland Asylbewerbern keine monetären Leistungen ausbezahlt werden bzw. die Chancen auf Asyl gering sind, kein Grund dafür, die Migrationsentscheidung zu revidieren. Zumeist besteht die Auffassung, daß man letzlich doch "immer Arbeit finden wird".

Vor allem vier Motive führen dazu, daß Roma die Tschechische Republik verlassen (in absteigender Reihenfolge):

  1. keine Arbeit
  2. keine Wohnung
  3. Gefährdung durch rassistische Gewalttaten
  4. Anstieg der Lebenshaltungskosten

Insgesamt spielen das Bemühen, die Familie materiell zu sichern und zu schützen sowie die Familie zusammenzuhalten (auch als Grund für eine eventuelle Rückkehr), eine wichtige Rolle bei der Migrationsentscheidung.

Allem Dafürhalten nach sind es weniger die Roma-Unterschichten oder die dünne Roma-Elite, sondern hauptsächlich der "Roma-Mittelklasse" zuzuordnende "Aktivere, Informiertere und Erfahrenere, nicht zuletzt die, die in einem bestimmten Land oder im Ausland Verwandte haben." Daß es oft keineswegs die Allerbedürftigsten sind, die sich auf die Reise machen, bestätigen auch Untersuchungen aus der Slowakei. Erklärungsversuche gibt es hierfür zwei. Einerseits handelt es sich bei der Roma-Mittelschicht um einen Personenkreis, der sich geschickt im Ausland bewegen kann und die zur Verfügung stehenden Informationen besser verwertet. Andererseits kann vermutet werden, daß gerade die Roma-Mittelschicht zu den besonderen Verlierern des Systemwechsels gehört. Für sie ist horizontale Mobilität auch ein Weg zur Erlangung vertikaler Mobilität, mithin zur Überwindung sozialen Abstiegs.

Einige Zahlen belegen, daß die von den potentiell ausreiseweilligen Roma angegebenen Motive einen sehr realen Hintergrund haben.

1. Beschäftigung
Schätzungen gehen davon aus, daß die Arbeitslosigkeit unter Roma um ein Vielfaches höher ist als im Landesdurchschnitt und bei bis zu 75-80% liegt. Etwa 80-90% der Roma treten mit 15 Jahren, also direkt nach der acht Jahre dauernden "Grundschule" und meist ohne Abschluß, auf den Arbeitsmarkt. Sofern sie eine Beschäftigung finden, werden sie meist als "unqualifizierte Arbeiter" oder Hilfskräfte eingestellt. Mit Blick auf den langfristigen Wandel in der Beschäftigungsstruktur weisen tschechische Fachleute auf ein nachhaltiges Auseinanderbewegen von Nachfrage (wachsende Qualifikation ) und Angebot der Roma (stagnierendes Bildungsniveau) auf dem tschechischen Arbeitsmarkt hin. Diskriminierung durch potentielle Arbeitgeber, Gesundheitsprobleme, ein spezifisches Arbeitsethos sowie mangelnde Qualifikation vertiefen Strukturprobleme bei der Beschäftigungssituation der Roma (hohe Langzeitarbeitslosigkeit, hohe Jugendarbeitslosigkeit).

2. Wohnen
Die Mehrheit der tschechischen Roma (schätzungsweise 50%) leben in kommunalen Wohnungen minderer Qualität. Da nach 1989 sowohl die Kommunen als auch sonstige Eigentümer die Zahlung von Miete konsequent verfolgen, gleichzeitig viele Roma nicht in der Lage sind, ihre Mietschuld zu begleichen, kam es vielfach zu Ausweisungen der Roma aus ihren bisherigen Wohnungen. De facto werden Roma oft in Wohnsiedlungen umquartiert, in denen im wesentlichen Roma bzw. "soziale Problemfälle" untergebracht sind. Damit kommt es in vielen Städten zur Konzentration der Roma-Bevölkerung. Die für Roma-Fragen zuständige Interministerielle Kommission der tschechischen Regierung hat hierzu pessimistisch festgestellt: "Konsequenz ist die Schaffung einer Art neuzeitlicher Gettos, in denen die Menschen oft in schlechten sozialen und hygienischen Verhältnissen leben und sich von Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten entfernen." Der frühere Regierungsbeauftragte für die Roma, Petr Uhl, sprach von "sozialer Segregation mit einer ethnischen Dimension".

3. Gewalt
Nach 1989 wurden hunderte tschechischer Roma Opfer rassistischer Gewalttaten, mindestens ein Dutzend Roma wurde bei rassistisch motivierten Übergriffen ermordet. Nicht nur die Gewalttaten als solche, vor allem die oft nachlässige Ahndung durch die Polizei und die wenig konsequente Haltung der Gerichte ließ bei vielen Roma das Vertrauen in den Staat schwinden. Schlagzeilen machte ein Fall, bei dem zwei Schläger, die mehrere Roma aus einem fahrenden Zug geworfen hatten, in erster Instanz vom Vorwurf einer rassistischen Straftat freigesprochen wurden. Die Begründung lautete, bei den Roma handele es sich um Indo-Europäer, folglich nicht um Angehörige einer fremden Rasse. Somit könne Rassismus als Motiv ausgeschlossen werden!

Die tschechische Regierung blieb in Anbetracht nicht nur der angesprochenen Probleme im Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma selbstverständlich nicht untätig. Aber es dauerte doch bis zum Frühjahr 2000, daß erstmals ein umfassendes Regierungsdokument zur Roma-Thematik präsentiert wurde: die "Konzeption der Regierungspolitik gegenüber Angehörigen der Roma-Gemeinschaft zur Förderung ihrer Integration in die Gesellschaft". Die Konzeption bildet zusammen mit einer Reihe weiterer Regierungsbeschlüsse das Rückgrat der offiziellen Roma-Politik der tschechischen Regierung. Dem mit der Roma-Problematik befaßten Regierungsbeauftragten für Menschenrechte obliegt es, die Realisierung der einschlägigen Konzepte zu überprüfen. Trotz Lücken bei der Initiierung und Implementation vieler Einzelmaßnahmen konnte die Prager Regierung - im Zusammenwirken mit Pro-Roma-NGOs - in einigen Bereichen Verbesserungen herbeiführen bzw. wenigstens die Voraussetzungen hierfür schaffen. So wurde die Anzahl der Vorbereitungsklassen auf den Schulbesuch für Roma-Kinder (sog. Nullte Jahrgänge) bis 2000 auf 114 ausgeweitet (allerdings bestehen solche Klassen auch an Sonderschulen, was eigentlich dem Zweck dieser Einrichtung, nämlich Roma-Kinder gerade von diesem Schultyp wegzubringen, widerspicht). Das Netzwerk der auf Bezirksebene angesiedelten Roma-Berater wurde komplettiert und soll in Kürze den neuen Gegebenheiten der Verwaltungsstruktur angepaßt werden. Die Roma-Berater haben sich rasch als Anlaufstelle für ratsuchende Roma etabliert, ihre Einrichtung wurde vom Regierungsbeauftragten als "einer der größten Erfolge der tschechischen Staatsorgane" bei der Lösung des Zusammenlebens mit den Roma bezeichnet. Projekte gemeinschaftlichen Wohnens wurden ebenso lanciert wie eine Vielzahl von Vorhaben im Bereich der Roma-Kultur.

In ihrem jüngsten Fortschrittsbericht honoriert die Europäische Kommission die Bemühungen der tschechischen Behörden: "Die tschechische Regierung hat große Anstrengungen unternommen, um die Situation der Roma und anderer Minderheiten zu verbessern. Im Einklang mit der im Juni 2000 beschlossenen Roma-Politik der Regierung bedarf es jedoch weiterer Maßnahmen, um die weit verbreitete Diskriminierung dieser Gruppe zu bekämpfen." Mit dieser im Tenor durchaus wohlwollenden (und in Prag auch dementsprechend aufgenommenen) Einschätzung signalisierte man der Prager Regierung zu Recht Anerkennung dafür, daß sie sich der Problematik mittlerweile ernsthaft angenommen hat. Indes sollte man sich dessen bewußt sein, daß selbst die Realisierung der "weiteren Maßnahmen" keine raschen Erfolge zeitigen kann.